Auseinandersetzungen am fünften Jahrestag der sozialen Proteste in Chile

Bündnis aus antifaschistischen, indigenen und sozialen Gruppen rief zu Demonstrationen in der Hauptstadt auf. Soziale Ungleichheit im Land hat weiter zugenommen

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Am Jahrestag der Proteste fanden in Chile erneut massive Proteste statt
Am Jahrestag der Proteste fanden in Chile erneut massive Proteste statt

Santiago de Chile. Am vergangenen Freitag haben in der chilenischen Hauptstadt Santiago große Demonstrationen stattgefunden. Anlässlich des fünften Jahrestages der am 18. Oktober 2019 begonnenen sozialen Proteste hatte ein Bündnis aus antifaschistischen, indigenen und sozialen Gruppen zu Demonstrationen in der Hauptstadt des Andenstaats aufgerufen. Sie berichteten, dass es über den Tag verteilt auch zu dezentralen Aktionen innerhalb der Hauptstadt gekommen sei. Am späten Nachmittag fanden sich dann mehr als 1.000 Menschen rund um die symbolträchtige Plaza Italia im Zentrum der Stadt ein. Der Platz war ein zentraler Ort der damaligen Proteste und wurde von den Protestierenden in Plaza Dignidad (Platz der Würde) umbenannt.

Die zunächst maßgeblich von Schüler- und Studierenden getragenen Proteste hatten sich damals an einer Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr in der Metropolregion Santiago entzündet. Unter dem Motto "No son 30 Pesos, son 30 años" (Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre) entwickelten sie sich schnell zu einer generellen Kritik am neoliberalen chilenischen Staat, der nicht zuletzt auf einer Verfassung aus der Militärdiktatur Augusto Pinochet basierte. Die Regierung reagierte mit massiver Repression. Der damalige Präsident Sebastian Piñera sprach davon, dass man sich im Krieg mit einem Teil der Bevölkerung befinde. Er verhängte den Ausnahmezustand, Polizei und Armee gingen brutal gegen Demonstranten vor.

Auch zum Jahrestag kam es zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Protestierenden. Die Polizei setzte Wasserwerfer und Tränengas sowie Spezialbeamte des Kommandos für öffentliche Sicherheit und Ordnung ein, um "die öffentliche Ordnung im Bereich der Plaza Italia wiederherzustellen, da es zu schweren Unruhen gekommen war", wie sie im Nachrichtendienst X mitteilte. Zuvor sei sie durch vermummte Personen mit Molotowcocktails beworfen worden. Drei Personen seien festgenommen worden.

Seitens der Demonstranten sind die Forderungen über die Jahre im Wesentlichen gleichgeblieben. Dies wird unter anderem aus einer am Jahrestag veröffentlichten gemeinsamen Erklärung von über 60 politischen und sozialen Organisationen deutlich, in der sie betonen, dass die sozialen Forderungen nicht erfüllt worden seien und dies den Nährboden für weitere soziale Proteste darstelle. Aktuell erlebe man "eine Offensive konservativer und neofaschistischer Kräfte", so der Aufruf. Diese "fördern eine regressive Politik gegenüber den demokratischen Fortschritten und den Menschenrechten auf globaler Ebene".

Ein anlässlich des Jahrestages veröffentlichter Bericht der Stiftung Sol unterstreicht die soziale Ungleichheit im Land. Demnach besitzt das reichste ein Prozent der Bevölkerung die Hälfte des gesamten Reichtums des Landes (49,6 Prozent). Chile ist damit das ungleichste Land Amerikas, noch vor Brasilien (48,9 Prozent), Mexiko (46,9 Prozent) wie auch den USA (34,9 Prozent).

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Neben den sozialen Forderungen geht es den sozialen Akteuren im Land ebenfalls um die Aufarbeitung der Polizeigewalt im Zuge der Proteste der Jahre 2019 und 2020. 34 Personen wurden damals getötet, mehr als 3.000 Menschen verletzt, darunter über 400 mit Augenverletzungen.

Interessant ist vor diesem Hintergrund die Entscheidung eines Gerichts in Santiago. Dort müssen sich drei ehemalige Generäle wegen Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit den Protesten verantworten. Das Gericht verhängte für die Dauer des Verfahrens zwar eine Ausreisesperre gegen die Angeklagten, lehnte jedoch einen Antrag auf Untersuchungshaft seitens der Opfervertreter ab. Es sei nicht zu befürchten, dass sie Einfluss auf die Ermittlungen nehmen würden, erklärte das Gericht. Fünf Jahre nach Ausbruch der Proteste sind nach wie vor viele Gewaltverbrechen seitens der Sicherheitskräfte nicht aufgeklärt.

Eines der Opfer der damaligen Repressionen nahm sich am Freitag nun das Leben, wie die Koordinationsstelle für Opfer von Augentraumata bekannt gab. Dabei handelt es sich um den Aktivisten Sebastián Méndez, der im November 2019 im Umfeld der Plaza Dignidad aus nächster Nähe von einer Tränengasgranate getroffen wurde. In der Folge erblindete er auf dem linken Auge und verlor einen Teil seiner Nasenscheidewand. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Opfer von Augenverletzungen in Chile das Leben nehmen.

Der Mitte-Links Regierung von Präsident Gabriel Boric ist es derweil in den vergangenen zweieinhalb Jahren nicht gelungen, die Situation im Land nachhaltig zu verbessern. Der 2021 von vielen Chilenen als Hoffnungsträger eines echten Politikwechsels gewählte Sozialdemokrat beschäftigte sich zuletzt mehr damit, im Konsens mit der oppositionellen Rechten zu agieren. Dabei standen insbesondere die Themen nationale Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung im Vordergrund.

Im November 2025 wird in Chile ein neuer Präsident gewählt. Ob Boric angesichts anhaltend schlechter Umfragewerte erneut kandidieren wird, ist bislang offen.