Brasilien / Politik

Verbot von X beschäftigt Gerichte, Experten und öffentliche Debatte in Brasilien

Laut Umfrage lehnt eine Mehrheit die Abschaltung von X per Gerichtsbeschluss ab. Musk weigert sich nachzugeben und fordert de Moraes Amtsenthebung

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Anhänger von Ex-Präsident Bolsonaro bei der Demonstration am Samstag in São Paulo. Sie fordern die Absetzung von de Moraes (sein Konterfei auf dem Plakat)
Anhänger von Ex-Präsident Bolsonaro bei der Demonstration am Samstag in São Paulo. Sie fordern die Absetzung von de Moraes (sein Konterfei auf dem Plakat)

Brasília. Das vom Obersten Bundesgericht (STF) erlassene Verbot des Mikroblogging-Dienstes X schlägt in Brasilien weiter hohe Wellen.

Auf Anordnung von Richter Alexandre Moraes wurde X abgeschaltet. Zuvor hatte sich Inhaber Elon Musk geweigert, einen gesetzlichen Vertreter in Brasilien zu ernennen und Nachrichten mit eventuell kriminellen Inhalten zu löschen. Eine von Moraes eingeräumte 24-Stunden-Frist ließ er verstreichen.

Der Richter verfügte auch eine Geldstrafe von täglich 50.000 Reais (rund 8.000 Euro) gegen Unternehmen oder Einzelpersonen, die Tools wie VPNs und andere private Zugänge zum Zugriff auf X nutzen.

Die Eskalation hat eine Vorgeschichte: Moraes ist Berichterstatter des STF für Ermittlungen, die die Verbreitung von fake news in sozialen Netzwerken vor allem zu den Wahlen untersuchen. Seit April ermittelt er wegen Profilen auf X, die an der Verbreitung von Hassnachrichten und falschen Informationen über den Wahlprozess beteiligt waren oder auf mutmaßlich kriminelle Taten verweisen. Er verhängte mehrere Bußgelder.

Musk verweigerte die Zahlung und schloss im August das X-Büro, 40 Mitarbeiter:innen wurden entlassen. Nach brasilianischem Recht darf ein Unternehmen im Land nicht ohne einen gesetzlichen Vertreter agieren.

Moraes begründete seine Entscheidung mit Musks "wiederholter, bewusster und absichtlicher Nichtbefolgung von Gerichtsbeschlüssen und der Nichteinhaltung verhängter Geldstrafen". Bei Musk sei der Versuch erkennbar, sich über das Rechtssystem und die Justiz zu stellen. Zur Eintreibung der verhängten Bußgelder (bisher mehr als 2,9 Millionen Euro) ordnete er auch die Sperrung der Bankkonten von Starlink an, einem anderen Musk-Unternehmen. Starlink ist ein auf Satellitentechnologie beruhender Internetanbieter.

Die STF-Entscheidung zitiert auch einen Bericht des Nachrichtenportals Brasil de Fato über den von Unregelmäßigkeiten geprägten Einstieg von Starlink in Brasilien. Demnach hat das Unternehmen Druck ausgeübt, den Genehmigungsprozess für seine Dienste zu beschleunigen. Zugleich weist BdF auf eine Verbindung zwischen dem Verkauf von Starlink-Internetsignalen und dem illegalen Abbau von Gold und Kassiterit im Land der Yanomami-Indigenen in Roraima hin. Dort wurden 50 Starlink-Antennen in illegalen Minen beschlagnahmt.

Die Maßnahme wird im Land kontrovers diskutiert. Nicht nur das Lager des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro wettert. Die wirtschaftsliberal-konservative Novo-Partei und die Anwaltskammer reichten Klage ein. Sie argumentieren, die Verhängung der Geldstrafen an die VPN-Nutzer zur Umgehung des Verbots stelle "eine straf- und zivilrechtliche Straftat gegen eine unbestimmte Anzahl von Personen dar".

Des erste Senat des STF stimmte dafür, die Verbotsentscheidung aufrechtzuerhalten. Berichterstatter Richter Flávio Dino erklärte, es gehe um die Verteidigung der brasilianischen Souveränität und um Respekt vor der Verfassung. "Wirtschaftskraft und ein gefülltes Bankkonto führen nicht zur Immunität vor Gericht", sagte er.

Für den auf digitale Medien spezialisierten Soziologen Sérgio Amadeu ist de Moraes Entscheidung keine Zensur, da Musk eine gerichtliche, "auf demokratischem Recht basierende Anordnung" ignoriert habe. Eine Untätigkeit des STF hätte einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen, so Amadeu.

Zwar hat die politische Debatte in den sozialen Medien zugenommen, insbesondere auf X mit rund 22 Millionen Nutzer:innen. Für den Politikwissenschaftler Cláudio Couto ist es aber nicht plausibel zu glauben, dass Brasilien zur "Geisel eines sozialen Netzwerks" würde. Faktisch werden seit dem X-Verbot andere Kurznachrichtenportale wie BlueSky genutzt. Couto meint, dass "mit anderen Netzwerken und einer stärkeren Moderation vielleicht ein gesünderes Umfeld für die allgemeine Debatte und die politische Debatte im Besonderen" entstünde.

Musk weigert sich bisher nachzugeben, obwohl X etwa in Indien und der Türkei auf Verlangen der Justiz bestimmte Inhalte entfernt hat.

Jüngst postete Musk mehrere Tweets mit schweren Vorwürfen gegen das STF, insbesondere gegen Moraes. Er forderte wiederholt dessen Amtsenthebung und beteiligte sich an den Aufrufen zur Demonstration gegen das X-Verbot am vergangenen Samstag in São Paulo.

Für Flávia Lefèvre, eine auf Verbraucherrecht und digitale Rechte spezialisierten Anwältin, hat die STF-Entscheidung weitreichende Auswirkungen: Sie werde auch als Präzedenzfall für andere Länder dienen, die den Eindruck haben, "dass ihre grundlegenden politischen Rechte und Wahlrechte beeinträchtigt wurden, und schließlich die gleichen Maßnahmen ergreifen, um die nationale Souveränität zu garantieren."

Indes sieht die Bevölkerung den Vorgang kritisch. Nach einer Umfrage des AtlansIntel-Instituts lehnt mehr als die Hälfte den Gerichtsbeschluss ab. Die Erhebung beruht auf 1.617 repräsentativ ausgewählten Befragten, das Fehlerniveau wird mit maximal fünf Prozent angegeben.

Der Umfrage zufolge sind 56,5 Prozent der Befragten davon überzeugt, dass die Entscheidung primär politisch motiviert war. Eine knappe Mehrheit meint, dass Musk den Bestimmungen bezüglich der Entfernung von Inhalten und Benutzerprofilen hätte nachkommen sollen. Für eine deutliche Mehrheit ist die Blockade, um die Zahlung der gegen X verhängten Geldbußen zu gewährleisten, missbräuchlich. Moraes‘ Androhung des Strafgeldes für die Umgehung durch VPN sehen 54,4 Prozent als unangemessen. 52,8 Prozent haben weiter ein positives Bild von Musk.