In El Salvador mehren sich kritische Fragen zum Ausnahmezustand

el_salvador_mordstatistik_polizei_dezember_2021.jpeg

"Das Jahr 2022 war das sicherste Jahr in der Geschichte El Salvadors": Regelmäßig veröffentlichen die Nationalpolizei und Präsident Bukele "Mordstatistiken" via Twitter, zuletzt am 1. Januar
"Das Jahr 2022 war das sicherste Jahr in der Geschichte El Salvadors": Regelmäßig veröffentlichen die Nationalpolizei und Präsident Bukele "Mordstatistiken" via Twitter, zuletzt am 1. Januar

San Salvador. Lokale Menschenrechtsorganisationen haben mehr als 3.000 Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen während der Anwendung des Notstandsregimes in El Salvador gemeldet.

Laut Cristosal, einer Organisation der anglikanischen Kirche, die sich für die Achtung der Menschenrechte in Zentralamerika einsetzt, bezogen sich 97,5 Prozent der Fälle auf willkürliche Festnahmen, 25 Prozent auf Hausdurchsuchungen und 10,3 Prozent auf Misshandlungen. Die meisten der Beschwerdeführer sind demnach zwischen 18 und 30 Jahre alt, die Täter waren in der Regel Beamte der Nationalen Zivilpolizei.

Die Regierung bestreitet die Menschenrechtsverletzungen und beschuldigt die Nichtregierungsorganisationen, "politische Interessen zu verfolgen", die sich gegen Präsident Nayib Bukele richteten.

Wie lange die Bevölkerung noch unter dem von der Regierung verhängten Ausnahmezustand leben wird, ist laut lokalen Analysten und Rechtsexperten schwer zu beantworten.

Der Abgeordnete Christian Guevara, Vorsitzender der Bukele-Partei "Nuevas Ideas", versicherte am Mittwoch, dass seine Partei "jeden Monat des Jahres 2023 für den Ausnahmezustand" stimmen werde.

Die Notstandsregelungen schränken unter anderem die Versammlungsfreiheit ein und heben das Recht auf eine ordnungsgemäße Unterrichtung über die Rechte und die Gründe für die Verhaftung sowie den Beistand eines Anwalts auf, so Experten.

In dieser Woche kündigte der Minister für Justiz und Sicherheit, Gustavo Villatoro, an, dass die Regierung in den nächsten Tagen eine weitere Verlängerung beantragen werde, obwohl, wie er sagte, "manche es unangenehm finden mögen" und die wichtigsten Strukturen der kriminellen Gruppen bereits zerschlagen seien.

Die Ergebnisse der Maßnahme ließen sich "mit Händen greifen" und seien "zufriedenstellend", wie etwa die Senkung der Mordrate auf 7,8 Morde pro 100.000 Einwohner, wenn man berücksichtige, dass es an einem einzigen Wochenende im März vergangenen Jahres 82 Todesfälle aufgrund von Bandengewalt gegeben habe, so der Minister.

Die erneute Verlängerung des Ausnahmezustands gilt als sicher, da die 65 regierungsnahen Abgeordneten der insgesamt 84 Mitglieder des Einkammerparlaments dafür stimmen werden.

Viele Salvadorianer, die Umfragen zufolge die Maßnahme befürworten, beginnen indes, den Einsatz des Militärs in ihren Wohngebieten abzulehnen. Andere fragen, wie sich der Einsatz von Tausenden von Soldaten und Polizisten, die an der Belagerung von Gemeinden und Städten beteiligt sind, auf die Wirtschaft des Landes auswirken wird.

Nach offiziellen Angaben wurden während des Ausnahmezustands mehr als 61.400 mutmaßliche Bandenmitglieder oder Kollaborateure verhaftet, von denen etwa 3.300 wieder freigelassen wurden, "weil sie unschuldig waren".

Am 14. Dezember 2022 billigte das Parlament die neunte Verlängerung, die bis zum 16. Januar in Kraft bleibt.

Trotz der Ergebnisse wird die repressive Politik gegen die Maras oder Banden von internationalen Gremien und Organisationen wegen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und Missbräuchen bei ihrer Umsetzung stark kritisiert und in Frage gestellt. Personen, die wegen angeblicher Bandenverbindungen festgenommen wurden, verlieren das Recht, über den Grund ihrer Inhaftierung informiert zu werden und einen Anwalt hinzuzuziehen. Auch wurde die Frist für die Ingewahrsamnahme von 72 Stunden auf 15 Tage verlängert. Das Versammlungsrecht wurde ausgesetzt und die Behörden dürfen die Korrespondenz und Mobiltelefone von Personen abhören, die als verdächtig gelten.

Auch wegen dieser Auswirkungen fragen sich manche, wie lange die Maßnahme aufrechterhalten werden soll.

Die Leiterin des Instituts für Menschenrechte der Zentralamerikanischen Universität José Simeón Cañas (Idhuca), Gabriela Santos, betonte, dass der Schutz der Menschenrechte für alle Menschen gelten müsse. Niemand dürfe ausgeschlossen werden und es sei beunruhigend, so lange unter einem Ausnahmezustand zu leben. Der Regierung wirft sie vor, die Rechte der Bürger einzuschränken.

Seit Bukeles Amtsantritt würden zudem Menschenrechtsverteidiger stigmatisiert und beschuldigt, sich für Kriminelle einzusetzen. Die Verteidigung der Menschenrechte rechtfertige jedoch nicht die Handlungen krimineller Gruppen, es gehe um die Einhaltung von Gesetzen, um ein ordnungsgemäßes Verfahren zu gewährleisten. Nach Ansicht von Experten würden Rechte durch das Notstandsregime unterdrückt, erklärte Santos.

Trotz der Kritik an der Inhaftierung von Zehntausenden mutmaßlichen Bandenmitgliedern und ihren Komplizen, darunter auch mutmaßlich Unschuldige, zeigen Umfragen nach wie vor eine breite Unterstützung der Bevölkerung für die Politik der Regierung zur Bekämpfung der Gewalt.