Generalstreik in Kolumbien: "Regierung gefährlicher als das Virus"

Landesweiter Aufmarsch sozialer Organisationen. Allgemeine Unzufriedenheit ist groß. Steuerreform, Menschenrechtslage und Gesundheitspolitik im Fokus

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Proteste gegen die geplante Steuerreform in Bogotá
Proteste gegen die geplante Steuerreform in Bogotá

Bogotá et al. Seit Mittwoch finden im ganzen Land zahlreiche Demonstrationen mit mehreren Millionen Teilnehmenden statt. Die Kritik an der Politik der Regierung von Präsident Iván Duque steht dabei im Vordergrund. Am Abend des ersten Streiktages haben die Dachverbände der Gewerkschaften und der Gewerkschaft der Bildungsarbeiter:innen trotz der aktuell hohen Anzahl von Coronafällen in Kolumbien den Streik um einen Tag verlängert und weitere Proteste für den Monat Mai angekündigt. Die Streikationen gingen auch am Freitag weiter.

Zahlreiche Solidaritätsaktionen haben auch im Ausland stattgefunden, unter anderem in Spanien, Deutschland, Australien sowie den USA.

Der unmittelbare Aufhänger für die Demonstrationen ist die angekündigte Steuerreform, welche vor allem Nachteile für den einkonmmensschwachen Teil der Bevölkerung sowie für die Mittelschicht mit sich bringen würde. Einerseits soll die Umsatzsteuer auf viele Produkte des täglichen Bedarfs von sechs auf 19 Prozent erhöht werden, andererseits werden viele Produkte zu Luxusgütern erklärt, welche bislang als tägliche Bedarfsgüter Steuerfreiheit genießen (amerika21 berichtete).

Kritiker:innen der Steuerreform wie Fabio Arias Giraldo vom Gewerkschaftsdachverband CUT sind der Ansicht, dass stattdessen vor allem die Steuerbefreiungen für große Unternehmen abgeschafft und Steuerflüchtlinge verfolgt werden sollten. Auch kritisiert er die seiner Meinung nach unnötige Anschaffung 24 neuer Kampfflugzeuge.

Die Gründe für die große Mobilisierung sind ähnlich wie schon beim großen Streik im November 2019: Laut dem Streikkomitee verlangt die Bevölkerung, dass soziale Aktivist:innen effektiv geschützt, die Vereinbarungen des Friedensabkommens eingehalten sowie die Gesundheitsversorgung gestärkt werden. Weitere Punkte sind unter anderem eine schnellere Impfung, die Garantie eines Basiseinkommens, die Gratisimmatrikulation für Studierende sowie eine Hilfe für kleine Unternehmen.

Die Forderungen der Demonstrant:innen umfassen ein breites Spektrum: Sie richteten sich auch, wie etwa in Anorí im Departamento Antioquia, gegen die geplante Wiederaufnahme von Glyphosat-Sprühflügen zur Drogenbekämpfung (amerika21 berichtete). Weiter wurde das Vordringen von großen Unternehmen in Gebiete der indigenen Bevölkerung und von afrokolumbianischen Gemeinschaften angeprangert. In Cali haben Vertreter:innen der indigenen Bevölkerung Misak die Statue des spanischen Eroberers Sebastián de Belalcázar vom Sockel gestürzt. 

Die Bevölkerung wolle einen grundlegenden ökonomischen und sozialen Wandel, sagte der Senator Iván Cepeda in einem Fernsehinterview.

Die größten Demonstrationen fanden in Bogotá, Cali und Medellin statt. Proteste gab es jedoch auch in zirka 600 kleineren Städten und Gemeinden. Das Streikkomitee schätzt, dass um die fünf Millionen Protestierende auf den Straßen waren. "Wenn das Volk in der Pandemie auf die Straße geht, ist es, weil die Regierung gefährlicher als das Virus ist", lautete einer der immer wieder skandierten Sprüche.

Vornehmlich in Bogotá und Cali kam es zu massiven Ausschreitungen. Landesweit wurden im Zuge der Demonstrationen mehrere Menschen getötet und zahlreiche Demonstrant:innen verletzt. Menschenrechtsorganisationen berichten von mindestens acht Toten. Politiker verlangen, dass die Gewalttaten restlos aufgeklärt werden müssen. Auch seitens der Polizei sind viele Verletzte zu verzeichnen. Der frühere Präsident Álvaro Uribe forderte seinerseits den Einsatz des Militärs.

In Cali kam es trotz Ausgangssperre und Militarisierung zu weiteren Konfrontationen. Die Stadträtin Ana Eraso beklagte, dass Sondereinsatzeinheiten die Protestierenden angegriffen hätten und dass auch sie Opfer dieser Attacken sei. Verteidigungsminister Diego Molano kündigte am Abend des zweiten Streiktages an, weitere 300 Soldat:innen und 700 Polizist:innen nach Cali zu beordern.

Präsident Iván Duque reagierte auf die Proteste mit der Verurteilung der Gewalt, ging aber kaum auf die Argumente und Forderungen der Protestierenden ein. Laut Kommentator:innen ist dies ein Ausdruck der Kluft, welche zwischen der Regierung und der Bevölkerung herrscht – einer Bevölkerung, die zunehmend verarmt: Der Anteil der armen Bevölkerung nahm zwischen 2019 und 2020 um 6,8 Prozent zu und betrug Ende 2020 42,5 Prozent.