Den Haag. Der internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat seinen Jahresbericht zum Stand von Voruntersuchungen und Ermittlungen zu Eingaben vorgelegt, die unter seine Gerichtsbarkeit wegen Verbrechen gegen die Menschheit fallen könnten. Unter den weltweit neun vorgestellten Fällen beziehen sich vier auf Lateinamerika.
Eine Untersuchung, die seit dem Jahr 2002 andauert, betrifft das NATO-Partnerland Kolumbien. Der Jahresbericht listet Kriegsverbrechen, gewaltsames Verschwindenlassen, Geiselnahmen und Vertreibungen im Zusammenhang des bewaffneten internen Konfliktes, der 2016 mit einem Friedensabkommen zwischen dem Staat und den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Farc) formell beendet wurde.
Ferner enthalten die Materialien bis heute anhaltende, straflos bleibende Massaker von rechten Paramilitärs an demobilisierten ehemaligen Farc-Angehörigen und Familienmitgliedern, an Aktivisten von sozialen Bewegungen und Indigenen. Die paramilitärischen Verbände kämpfen um territoriale Vorherrschaft, Kontrolle im Drogenhandel und agieren oft im Dienste von Großgrundbesitzern, denen sie durch Vertreibung von lokalen Kleinbauern die Ausdehnung ihres Besitzes ermöglichen. Auch treten sie in Erscheinung, um Widerstand gegen multinationale Großprojekte zu brechen.
Kolumbien ist in Lateinamerika ein beispielloser Fall von straflos bleibender Gewalt gegen sozialen Widerstand und politische Opposition und gegen marginalisierte Bevölkerungsgruppen.
Die Chefanklägerin des Haager Tribunals, Fatou Bensouda, die den Jahresbericht auf einer Pressekonferenz vorstellte, bescheinigte indes den kolumbianischen Behörden, dass sie "bedeutende Schritte unternommen haben, um gegen Verhaltensweisen vorzugehen, die Verbrechen gemäß dem IStGH darstellen". Die nationale Gerichtsbarkeit führe entsprechende Verfahren durch. Dies würde nach den Römischen Statuten eine Anklage vor dem Haager Tribunal ausschließen.
Andere Informationen zur Justiz in Kolumbien veröffentlichte unlängst die New York City Bar Association, eine US-Anwaltsvereinigung mit mehr als 25.000 praktizierenden Anwältinnen und Anwälten sowie Jura-Studierenden. Sie hebt ihre "wachsende Besorgnis über die Unabhängigkeit der Justiz" in Kolumbien hervor. Die Erklärung behandelt dabei das Verfahren gegen den früheren Präsidenten Álvaro Uribe, der als eine Schlüsselfigur für Verbrechen gegen die Menschheit in dem Land gilt.
Ebenfalls im Lateinamerika-Bereich sind beim IStGH zwei Anträge aus Venezuela anhängig, die um Anklagen wegen Verbrechen gegen die Menschheit ersucht haben.
Im September 2018 hatte die rechtsgerichtete Opposition mit Unterstützung der USA und weiterer verbündeter Länder beim IStGH eine Klageschrift eingereicht, in der sie die Regierung von Präsident Nicolás Maduro beschuldigt, für "Verbrechen gegen die Menschheit" während der Unruhen im Jahr 2017 verantwortlich zu sein. Damals organisierten Oppositionsgruppen mehrere Monate lang gewalttätige Straßenproteste mit dem Ziel, Maduro zu stürzen. Während mehrmonatigen, von Oppositionskräften organisierten gewalttätigen Straßenprotesten kamen über 100 Menschen ums Leben, darunter Oppositionelle, Regierungsanhänger, Polizisten und Nationalgardisten sowie unbeteiligte Passanten. Für viele der Opfer waren Demonstrierende verantwortlich.
Die zweite Klageschrift hat die Regierung im Februar dieses Jahres eingereicht. Diese forderte den Strafgerichtshof auf, eine Untersuchung zu den Auswirkungen der US-Sanktionen einzuleiten, die als "Verbrechen gegen die Menschheit" gelten könnten.
Die US-Regierung hat seit 2015 eine ganze Reihe von Sanktionen gegen Venezuela verhängt und zunehmend verschärft. Die völkerrechtlich nicht abgedeckten, einseitigen Strafmaßnahmen zielen auf die Lähmung des Wirtschaftslebens des karibischen Staates ab. Ein Bericht des Washingtoner Centre for Economic and Policy Research (CEPR) veröffentlichte einen Report, wonach diese Strafmaßnahmen allein 2017 und 2018 mindestens 40.000 Mensch das Leben gekostet haben.
Die Voruntersuchungen in Den Haag laufen unter Venezuela I (Ersuchen der Opposition) und Venezuela II (Ersuchen der Regierung). Zu beiden Vorgängen kündigte die Haager Staatsanwaltschaft nun an, dass "im ersten Halbjahr 2021" die Feststellungen zu erwarten seien, ob es "eine vernünftige Grundlage für die Fortsetzung der Ermittlungen" (Venezuela I) und ob es "eine vernünftige Grundlage für die Fortsetzung einer Zulässigkeitsanalyse" gebe.
Schließlich liegt beim IstGH auch ein Ersuchen der inzwischen abgetretenen Putschregierung in Bolivien vor. Die ein Jahr dauernde "Interimsregierung" unter Jeanine Áñez rief nach organisierten Straßenblockaden im August 2020, die die Basis der bis dahin regierenden, durch einen Putsch entmachteten Bewegung zum Sozialismus (MAS), durchgeführt hatte, das Haager Tribunal an. Die MAS habe durch ihre Protestaktionen auch Krankentransporte behindert und damit den Tod von mehreren Menschen verursacht und beabsichtigt. Die Blockaden hätten das Ziel gehabt, die Bevölkerung von der lebensnotwendigen Versorgung abzuschneiden. Dies müsse als Verbrechen gegen die Menschheit behandelt werden.
Den Haag werde "seine Analyse der materiellen Zuständigkeit in der ersten Hälfte des Jahres 2021 abschließen, um festzustellen, ob es eine vernünftige Grundlage für die Fortsetzung der Zulässigkeitsanalyse gibt", so das Bolivien-Kapitel.
Chefanklägerin Bensouda, deren Amtszeit im Sommer endet, legte ihren letzten Jahresbericht vor. Die Vertragsstaaten des Gerichts haben nun über die Nachfolge zu entscheiden.