Experten beklagen "Massaker" in Bolivien und fordern unabhängige Untersuchung

Menschenrechtskommission spricht von Massentötungen während Protesten nach Sturz von Evo Morales. Indiz für Differenzen in OAS

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Soldaten fahren auf Panzern mit Maschinengewehren durch Senkata in der Stadt El Alto, Bolivien
Soldaten fahren auf Panzern mit Maschinengewehren durch Senkata in der Stadt El Alto, Bolivien

Sacaba/El Alto, Bolivien. Nach massiven Militär- und Polizeieinsätzen in den bolivianischen Städten El Alto und Sacaba, bei denen fünfzehn Zivilisten erschossen wurden, fordert die Interamerikanische Menschenrechtsorganisation eine unabhängige Untersuchung. Der Berichterstatter der Kommission für den Schutz von Menschenrechtsverteidigern, Francisco José Eguiguren, sprach sich dafür aus, eine interdisziplinäre und internationale Expertengruppe zur Untersuchung der Gewaltakte zu entsenden. Eguiguren bezweifelt, dass es unter der derzeitigen De-facto-Regierung eine unparteiische interne Untersuchung der Gewaltakte durch bolivianische Institutionen geben kann.

Der Bericht weist auf Differenzen innerhalb der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hin, der die Interamerikanische Menschenrechtsorganisation angehört. OAS-Generalsekretär Luis Almagro ist ein entschiedener Befürworter des Sturzes von Präsident Evo Morales. Ein umstrittener Bericht der OAS versucht, eine Verfälschung der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen von 20. Oktober nachzuweisen. Im Zuge der Proteste gegen den angeblichen Wahlbetrug war Präsident Morales aus dem Amt gedrängt und ins Exil gewungen worden.

Seither kommt es in Bolivien immer wieder zu Protesten von Gegnern der Putschregierung. Sacaba und El Alto sind Hochburgen der Morales-Anhänger. Am 15. November wurden in Sacaba neun Kokabauern getötet, die an einem Protestarsch teilnahmen. Die Polizisten und Soldaten versuchten offenbar unter Einsatz von Schusswaffen zu verhindern, dass der Demonstrationszug das nahegelegene Zentrum der Stadt Cochabamba erreicht. Arturo Murillo, der das Innenministerium kontrolliert, machte die Demonstranten selbst für den Tod der neun Menschen verantwortlich. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission, ein Gremium der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), hatte den "unverhältnismäßigen Einsatz" der Armee in Sacaba scharf verurteilt.

Am 19. November wurden bei einer Blockade von Treibstoff- und Flüssiggastanklastwagen in der Anlage Senkata in der Stadt El Alto erneut mehrere Personen während eines Militär- und Polizeieinsatzes getötet. Die westlich von La Paz gelegene Stadt El Alto zählt zu den Hochburgen indigener und bäuerlicher Bewegungen, die Morales unterstützen.

Die Tageszeitung La Razón zeigte Bilder, auf denen Streitkräfte des Militärs mit schweren Waffen auf Panzern durch die Stadt El Alto fahren. Sicherheitsexperten, die Bild- und Videomaterial ausgewertet haben, berichten, dass Soldaten mit russischen und chinesischen AK-47-Gewehren sowie 9-mm M-16 Maschinengewehren gesichtet wurden.

Das Verteidigungsministerium und die Staatsanwaltschaft streiten die Vorwürfe, Militär oder Polizei hätten scharf geschossen, einstimmig ab. Das Institut für forensische Untersuchungen (IDIF) in La Paz veröffentlichte am 20. November einen Bericht, dem zufolge vier der Toten in El Alto durch 22-mm- und 9-Millimeter-Projektile ums Leben kamen, und schloss den Tod durch Militärmunition aus.

Die Ständige Versammlung für Menschenrechte Boliviens meldet große Zweifel gegenüber dem Bericht des IDIF an und forderte von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, den Vereinten Nationen und der Kommission für Bürger- und Menschenrechte des Mercosur-Parlaments einen unabhängigen internationalen Rapport zu den Ergebnissen des IDIF.

Nach einer Mission der Interamerikanischen Menschenrechtskommission in Bolivien stufte Berichterstatter Eguiguren die Vorfälle in El Alto und Sacaba nun als "Massaker" ein. "Es ist eine sehr alarmierende Situation mit einer Polarisierung, Hassreden, Gewalt und bewaffneten Gruppen", sagte er in einem Interview mit CNN. "Die Kommission wird vorschlagen, eine interdisziplinäre und internationale Expertengruppe einzurichten, die die Ereignisse nach dem Rücktritt von Präsident Evo Morales, die mindestens zwei Massaker in El Alto und Cochabamba zur Folge hatten, gründlich zu untersuchen", fügte er an.

Die Demonstranten in El Alto forderten unter anderem die Aufhebung des Dekrets Nr. 4078, das seit dem 14. November in Kraft war und die Streitkräfte von der strafrechtlichen Verantwortung bei der Unterdrückung von Protesten befreit. "Es ist sehr beunruhigend, dass eines dieser Massaker am Tag nach diesem sehr fragwürdigen Dekret der Übergangsregierung stattgefunden hat", so Eguiguren. Das Dekret wurde am 28. November nach den Vorfällen in El Alto von De-facto-Präsidentin Jeanine Áñez wieder aufgehoben.

Bei Protesten gegen den Putsch sind seither mindestens 33 Menschen von Armee und Polizei getötet worden.