Neue Erkenntnisse zum Massaker in der Haftanstalt Altamira in Brasilien

Mehr als die Hälfte der Getöteten waren Schwarze und noch nicht verurteilt. Experten: Repressive Politik mitverantwortlich für die Gewalt

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Zellentrakt im Gefängnis Altamira im brasilianischen Bundesstaat Pará
Zellentrakt im Gefängnis Altamira im brasilianischen Bundesstaat Pará

Pará. Nach dem Massaker in einer Haftanstalt im Bundesstaat Pará hat die Tageszeitung Folha die Daten der Obersten Gefängnisaufsicht ausgewertet. Mit 76 Prozent waren vor allem Schwarze und People of Color unter den Opfern. Fast die Hälfte (47 Prozent) waren 35 Jahre alt und jünger sowie bisher nicht verurteilt worden.

Bei einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppierungen im Gefängnis Altamira waren am 29. Juli 58 Menschen getötet worden. Vier weitere starben einen Tag später bei ihrer Verlegung in die Landeshauptstadt Belém an Erstickungen. Über die konkreten Umstände dieser Todesfälle ist bisher nichts bekannt.

Nach den Auswertungen der Folha war knapp die Hälfte der Getöteten vorbestraft und wegen Bedrohung, Gewalt, Raub oder Mord angeklagt. Nur sechs von ihnen wurde die Teilnahme an einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Mindestens 19 hatte keinen Schulabschluss, 25 saßen wegen Diebstahl, Drogenhandel oder Delikten ohne Gewaltanwendung hinter Gittern.

Das Profil der Getöteten bestätigt eine Tendenz in Brasilien: Mehr als 64 Prozent der Inhaftierten sind Schwarze und People of Color, die meisten von ihnen jung und ohne einen weiterführenden Schulabschluss.

Für Experten steht das Massaker nicht nur im Zusammenhang mit dem offenen Konflikt zwischen den beiden dominierenden kriminellen Organisationen im Norden Brasiliens. So kritisierte etwa der Soziologe Gabriel Feltran von der Universität São Carlos gegenüber der brasilianischen BBC, dass der Fokus des Staates im Kampf gegen die organisierte Kriminalität auf die Repression gegen "die unterste Riege der Kleindealer" gerichtet sei. Nicht alle Toten seien notwendigerweise Teil einer Fraktion, betonte er. Häufig würden Neuankömmlinge etwa anhand ihrer Adresse einem der beiden Gefängnistrakte zugeordnet.

Ähnlich äußerte sich auch Ivonaldo Cascaes, Anwalt von zwei der Opfer. Die Haftanstalt ist in zwei Bereiche geteilt, einer wird dem "Roten Kommando" (Comando Vermelho, CV) zugerechnet, der andere dem "Kommando Klasse A" (Comando Classe A, CA). Die Gruppen konkurrieren um den Verkauf von Drogen in den Städten, aber auch um die Kontrolle der Drogenrouten aus Kolumbien, Peru und Bolivien. Die Opfer des Massakers werden dem CV-Trakt zugerechnet, 16 von ihnen starben enthauptet, die anderen an einem entzündeten Feuer. Mitglieder des CA hatten eine Zelle des Roten Kommandos in Brand gesetzt.

Laut Fábio Tofic Simantob, Anwalt und Präsident des Instituts für die Verteidigung des Rechts auf Verteidigung (IDDD), sitzen Männer, die wegen "kleiner Straftaten" in Haft sind, in der gleichen Zelle wie "erfahrene Häftlinge" und würden von den Banden rekrutiert. "Etwa 30 Prozent der Häftlinge in Brasilien sitzen hinter Gittern aufgrund von Straftaten im Zusammenhang mit Drogen, die überwältigende Mehrheit von ihnen jung, nicht vorbestraft, erwischt mit weniger als 60 Gramm Rauschgift. Anstatt zu resozialisieren, schaltet das Gefängnis jede Chance auf ein gesetzmäßiges Leben aus, das der Jugendliche anstreben könnte“, schrieb er in einer Analyse zu dem Fall.

Angaben der Nationalen Behörde für Haftanstalten zufolge ist die Zahl der Inhaftierten in den letzten 25 Jahren um mehr als 700 Prozent angestiegen. Überbelegungen sind in vielen Gefängnissen Alltag. Nach aktuellen Zahlen des Nationalen Justizrats (CNJ) hat die Zahl der Gefangenen im Juli diesen Jahres erstmals die 800.000 überschritten und steigt im Durchschnitt um rund acht Prozent im Jahr. In dem Fall der Haftanstalt in Altamira sind 33 Angestellte für 343 Häftlinge zuständig, in einem Gefängnis mit einer Kapazität für 163 Personen.