Krise in Venezuela: "Menschen denken, wir tun unseren Job nicht"

80-jähriger Ex-Guerillero und Abgeordneter kritisiert Untätigkeit der Verfassungsversammlung. Rede löst Debatte in sozialen Medien aus

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Der Abgeordnete der verfassunggebenden Versammlung in Venezuela, Julio Escalona
Der Abgeordnete der verfassunggebenden Versammlung in Venezuela, Julio Escalona

Caracas. In Venezuela hat die scharfe Kritik eines hochrangigen Mitgliedes der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) an der Arbeit der Verfassunggegeben Versammlung hohe Wellen geschlagen. Der Abgeordnete der Asamblea Nacional Constituyente (ANC), Julio Escalona, rief zur "Besinnung" und "Wiederbelebung" der Versammlung auf. Auch klagte er über eine Reihe von Mängeln in der Institution. Seine Rede löste eine intensive Debatte in den sozialen Netzwerken aus. Viele Nutzer halten ihm zugute, dass er die Probleme, unter denen das venezolanische Volk leidet, angesprochen hat.

"Diejenigen von uns, die Zeit auf der Straße verbringen – das sind fast alle, denn wir haben keine Autos, wir benutzen die U-Bahn – werden von den Leuten fast  beschimpft, denn sie sind wütend, weil sie denken, dass wir unseren Job nicht machen. Bisher haben wir ANC-Abgeordneten es nicht verstanden, den Erwartungen gerecht zu werden, die in der Bevölkerung geweckt wurden", sagte das angesehene Mitglied der Versammlung. Escalona hatte sich während der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez (1952-1958) am studentischen Widerstand beteiligt. Später schloss er sich der Guerilla und der Gruppierung Sozialistische Liga (Liga Socialista) an. Vor seiner Wahl in die ANC war er Dozent für Wirtschaftswissenschaften und Diplomat.

Die "Constituyente" war im Juli 2017 gewählt worden, um die gewaltsamen Proteste gegen die Regierung zu beenden, die das Land erschütterten. Sie sollte an einer Verfassungsreform arbeiten und das gesetzgeberische Funktionieren des Landes gewährleisten, nachdem das Parlament als "unter Missachtung des Gesetzes stehend" erklärt und faktisch entmachtet worden war. Chavistische Abgeordnete haben in der ANC die Mehrheit, die Opposition hatte die Wahl boykottiert.

Während die gewalttätigen Straßenproteste tatsächlich aufhörten und eine Reihe von Gesetzen verabschiedet wurde, ist bislang für die Öffentlichkeit kein Fortschritt hin zu einer neuen Verfassung sichtbar, was zu vielen Fragen bezüglich der Effizienz der Versammlung geführt hat. Auch wird kritisiert, dass die ANC trotz ihrer übergreifenden politischen Macht eine Reihe wirtschaftlicher Probleme, unter denen das Land leidet, nicht angegangen hat.

"Die ANC ist bis heute absolut diszipliniert gewesen und wollte in ihren Zuständigkeiten über niemand weggehen, am wenigsten wollte sie die Verantwortlichkeiten der Regierung übernehmen. Aber es gibt Probleme und die Menschen stellen Forderungen an uns auf der Straße", sagte Escalona. "Im selben Boot zu sitzen bedeutet, sagen zu können, was gesagt werden muss, von Angesicht zu Angesicht, offen, mit Loyalität", fuhr er fort und kritisierte, dass es keine interne Debatte in dem Gremium gibt.

Weitere Themen, auf die der 80-Jährige aufmerksam machte, waren die von Präsident Nicolás Maduro kürzlich vorgestellten Festpreise für Grundnahrungsmittel, die angeblich mit privaten Geschäftsleuten vereinbart wurden. Venezolanische Bürger beklagen, dass diese Produkte zu den festgelegten Preisen nicht zu finden und nur zu Spekulationspreisen erhältlich sind. Die Politik der Preisfestsetzung für eine Reihe lebenswichtiger Gütern existiert seit vielen Jahren in Venezuela, und Präsident Maduro hat sie nach seinem wirtschaftlichen Umbau im August verdoppelt. Escalona zufolge funktioniert diese Politik jedoch nicht. "Ich schlage vor, dass wir den zuständigen Regierungsvertreter einladen, hierher zu kommen und uns zu erklären, warum wir darauf bestehen. Dieses Politik scheitert, warum darauf bestehen?", fragte er.

Der Ex-Guerillero kritisierte auch den anhaltenden Transfer subvenionierter Devisenwährungen an die Privatwirtschaft. Er benannte den Präsidenten der Banesco-Bank, Juan Carlos Escotec, sowie den Lebensmittel- und Alkohol-Mogul Lorenzo Mendoza vom Polar-Konzern als die hauptsächlichen Nutznießer. "Wir sprechen über Renten-Ökonomie und Post-Renten-Ökonomie, aber was bedeutet das? Heute übertragen wir noch immer die Erdölrente an Unternehmer", stellte der Abgeordnete fest.

Scharfe Kritik richtete er auch an das Ministerium für Ernährung und erntete Beifall mit seinem Vorschlag, es solle "verschwinden".

"Die privaten Verteilungsnetzwerke organisieren den Weiterverkauf subventionierter Güter zu Schwarzmarktpreisen, den Schmuggel, das Horten und es gibt nicht genug Material für die Kommunen oder die kleinen und mittleren Produzenten", erklärte er mit Verweis auf die Rohmaterialien, die das Ministerium importiert und zum Großteil Privatunternehmen zukömmen lässt. Die Behörde arbeite gegen die Nahrungsproduktion und -versorgung, sie verschwöre sich geradezu dagegen, sagte er weiter. Die verfassungsmäßigen Befugnisse der ANC ermöglichten es, jeden Minister zu entlassen. "Das ist keine Drohung, aber wir können es tun", betonte Escalona.

Escalona merkte an, dass das venezolanische Volk zwar weiterhin die regierende Vereinte Sozialistische Partei unterstütze. Es gebe aber Warnhinweise in der Region, die man beachten müsse: "Die Bevölkerung steht fest zur PSUV und wählt sie. Es sind Menschen voller Überzeugung und Vertrauen. Aber was passiert, wenn Menschen ihr Vertrauen verlieren? Faschismus. Der Faschismus ist in unserer Nähe: in Brasilien, aber auch in Kolumbien. Wir müssen diese Beispiele sehen und sehr ernst nehmen", warnte Escalona.