Venezuela: Zweifelhafte wirtschaftliche Maßnahmen

Die Regierung verschleiert ihre wirtschaftliche Kehrtwende und das Versagen der letzten Jahre. Ob sie damit aus der Krise kommt, bleibt ungewiss

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Am 20. August wurde in Venezuela die neue Währung "Souveräner Bolívar" (Bolívar Soberano, BsS) eingeführt
Am 20. August wurde in Venezuela die neue Währung "Souveräner Bolívar" (Bolívar Soberano, BsS) eingeführt

Die angekündigten Wirtschaftsmaßnahmen von Freitagnacht (17. August 2018) haben mich empört und besorgt gemacht. Ich werde so kurz wie möglich erklären, weshalb:

Die offizielle Abwertung des Bolívar auf sechs Millionen Bolivares Fuertes (Bs.F) pro US-Dollar

Die Abwertung erfolgte fast genau nach dem Tageskurs von Dolar Today 1. Es macht mich zornig, dass man ein kindisches mathematisches Spiel erfindet (1 Barrel = 60 Dollar = 1 Petro = 3.600 Bolívares Soberanos), um nicht gleich einzugestehen, dass dies dem Kurs von Dolar Today entspricht (60 Bs.S = 6.000.000 Bs.F). Es mussten erst fünf Jahre der Zerstörung der Wirtschaft und der nationalen Währung vergehen, in denen man leugnete, dass der illegale Markt in Ermangelung eines offiziellen Angebots von Dollar unter Marktbedingungen unvermeidlich der Bezugspunkt für die Preisfindung werden musste, bis die "wirtschaftliche Revolution" nun Dolar Today als Ausgangspunkt nimmt, aber natürlich ohne es zuzugeben.

Bezüglich der Kryptowährung Petro als "Rechnungseinheit" wiederhole ich, was ich bereits gesagt habe und füge hinzu: Zu sagen, der Petro sei die Rechnungseinheit um den Preis für ein Barrel Öl auszudrücken (jetzt rund 60 Dollar), ist das selbe wie zu sagen, dass ein Dutzend Eier die Rechnungseinheit sei, um zwölf Eier zu beschreiben. Nur dass "ein Dutzend" den Vorteil hat, viel klarer zu sein als "ein Petro". Jeder vernünftige Mensch würde hinzufügen: Und wenn ein Petro den Preis eines Barrels Öl ausdrückt, warum sagen wir nicht einfach "ein Barrel"? Es zeigt sich, dass der Stolz der Schöpfer des Petro stärker war als ihre Besonnenheit: Sie wollen dem Petro seinen "Wert" verordnen, als hätte er einen Marktwert an sich, den gleichen wie ein Barrel Öl ...

Kein ungedecktes Geld mehr

Mich verärgert, wie man ganz nebenbei beichtet, dass die massive (verrückt machend massive) Ausweitung der Geldmenge eine bewusste Entscheidung der gleichen Verantwortlichen war, die die wirtschaftlichen Ankündigungen vom Freitag machten, obwohl diese Ausweitung die Entwertung des Bolívar Fuerte sowie die Hyperinflation maßgeblich befeuerte. Das ganze Programm der "wirtschaftlichen Erholung" basiert auf der Prämisse, dass die Geldschöpfung die Ursache für die Hyperinflation ist!

Viele von uns haben das gesagt. Schon seit Jahren. Und wir wurden als, gelinde gesagt, illoyal bezeichnet, von einer Armee von "Intellektuellen" der sozialen Netzwerke, denen es gleich ist, ob sie nach rechts oder links marschieren, solange ihr Chef es ihnen nur befiehlt. Und der Präsident gab zum ersten Mal ausdrücklich zu, dass das Haushaltsdefizit mit Geldschöpfung "finanziert" wurde, obwohl noch am Tag zuvor alle Wirtschaftskommentatoren mit Nähe zur Regierungspolitik (von Merentes über Curcio, Boza, Salas und Serrano2, mit der ehrenvollen Ausnahme von Jesús Farías) erklärten, dass die Geldschöpfung nicht inflationär sei. Und die Frage, die noch nicht beantwortet wurde, lautet: Mit welchem Ziel und warum hat diese irrationale Politik, die die nationale Wirtschaft zerstört hat, weitergehen können?

Mindestlohnerhöhung auf umgerechnet 30 Dollar

Ich bin einfach empört, dass die Regierung den Mindestlohn im Jahr 2013 bei umgerechnet 200 Dollar von Chávez übernahm, und im Jahr 2018 argumentiert, dass sie ihn wiederhergestellt hat, wenn sie ihn auf umgerechnet 30 Dollar ansetzt. Ohne natürlich zu sagen, dass es 30 Dollar sind, sondern "ein halber Petro". Man wird mir antworten, dass die Erholung sich auf die zwei Dollar bezieht, bei denen sich der Mindestlohn durch die Hyperinflation letztlich einpegelte. Ich würde darauf antworten, dass der einzige Grund für diesen Abfall auf zwei Dollar die erwähnte Finanzierung des Haushaltsdefizits durch die unkontrollierte Geldmengenausweitung war. Den Mindestlohn auf 30 Dollar festzulegen und es als eine Errungenschaft zu präsentieren, lässt das Ausmaß der wirtschaftlichen Zerstörung der letzten fünf Jahre erblicken.

Anders als die rechte Opposition und ihre Intellektuellen, die ihre Liebe zu Austerität und ausgeglichenem Staatshaushalt nicht verbergen können, glaube ich nicht, dass ein monatliches Mindestgehalt von 30 Dollar zu hoch ist. Nehmen wir einmal an, dass die Zerstörung der venezolanischen Wirtschaft derart gewesen wäre, dass wir ein BIP von nur 90 Milliarden Dollar pro Jahr hätten (Niveau von 1999), dann würde unser durchschnittliches jährliches Pro-Kopf-Einkommen bei etwa 3.000 Dollar stehen - fast das Zehnfache des neuen Mindestlohns. In einer Wirtschaft, in der Waren und Dienstleistungen zu internationalen Preisen bezahlt werden und der Staat eine strenge Haushaltsdisziplin aufrechterhält, um die Inflation nicht zu beschleunigen (das bedeutet, falls Präsident Maduro das noch nicht realisiert hat, dass der Staat keine Unterstützungzahlungen leisten könnte, es sei denn er würde die Steuereinnahmen drastisch erhöhen) sind 30 Dollar pro Monat genug, um ... ein Kabel zu essen. Um sich eine Vorstellung davon zu machen: der gesetzliche Mindestlohn in Haiti beträgt 115 Dollar.

Ein europäischer Banker hat mir einmal gesagt, dass "das Gute" der Krise und der brutalen Austeritätskur in Griechenland darin lag, dass die Erwartungen der Menschen am Boden waren und sie sich dann einfach mit allem einverstanden erklärt hätten. Ich glaube, eines der Genies, die den Plan der "wirtschaftliche Erholung" entworfen haben, wird gesagt haben: Vor der Wahl zwischen nichts und 30 Dollar werden die Menschen 30 Dollar als eine frohe Botschaft auffassen. (...)

Haushaltspolitik der "schwarzen Null"

Nur zwei Arten von Menschen auf dem Planeten sehen ein Haushaltsdefizit von null als Ziel an sich: die deutsche, der Austeritätspolitik anhängende verbitterte Rechte von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble sowie Jean-Claude Junker; oder, uns näher stehend, die stirnrunzelnde Linke à la Jorge Giordani 3, für den Geld etwas ist, das nur dazu dient, Schmuck für seine Enkelkinder zu kaufen. Aber nur jemand, der nicht die geringste Ahnung hat, was er tut, kann eines Tages,

  • angesichts eines Verfalls der Öleinnahmen keine makroökonomische Strategie haben
  • über einen Zeitraum von fünf Jahren das Haushaltsdefizit sich verstärken lassen, bedingt durch die fehlende Reform des Wechselkurssystems und die Beibehaltung der überbewerteten Währung
  • erst das Haushaltsdefizit finanzieren mit der irrationalen Ausgabe anormaler Mengen ungedeckten Geldes, um damit Hyperinflation zu generieren und sich dann am nächsten Tag zum Anhänger der schwarzen Null erklären.

Seit der Neoliberalismus als offizielle Lehre der wirtschaftspolitischen Steuerung in den späten 1970er Jahren eingeführt wurde, haben die wirtschaftlich progressiven Ökonomen (ja, progressiv ist kein schlechtes Wort) dafür gekämpft zu beweisen, dass sie regieren und effizienter sein können, ohne sozial rückschrittliche Prämissen wie ein Haushaltsdefizit von null. Ein Haushaltsdefizit ist an sich nicht schlecht, solange es kontrolliert wird, und vor allem, solange es dazu dient, die wirtschaftliche und produktive Aktivität anzukurbeln, indem es zukünftige Steuereinnahmen generiert, um das entstandene Defizit auszugleichen. Und wenn das Defizit Schulden generiert, ist es an sich nicht schlecht, solange der Schuldendienst in gewissen Grenzen bleibt und nicht zur Last wird. Die Finanzkrise von 2008 endete mit der Schlichtung dieser Debatte zugunsten der Progressiven, weil alle neoliberalen Regierungen der Welt gezwungen waren, ein Haushaltsdefizit einzugehen, um den Zusammenbruch ihrer Volkswirtschaften zu vermeiden.

Das Schreckliche an den fünf Jahren, die zwischen den Wahlen vom 14. April 2013 und den Ankündigungen vom 17. August 2018 liegen, ist der Schaden, der der Vorstellung zugefügt wurde, dass eine sozial fortschrittliche Regierung verantwortungsvoll und effizient die Wirtschaft steuern könnte. Durch den plumpen und verantwortungslosen Missbrauch der wirtschaftlichen Werkzeuge wie dem Haushaltsdefizit und der Geldmenge wurde ein günstiger Rahmen geschaffen für die Zerstörung der Währung und der Volkswirtschaft, eine Schmach, die ab nun jeder Venezolaner tragen muss, der sich nicht dem Dogma der neoliberalen Orthodoxie anschließt. Wenn darüber hinaus die gleiche Regierung, die sich revolutionär nennt, sich der schwarzen Null verschreibt, stimmt man damit jener rechten Kritik zu, die das bolivarische Projekt von Anfang an zum Scheitern verurteilt hatte.

Die Sorge bleibt

Die Regierung versucht das Kapital davon zu überzeugen, dass sie über Nacht seriös geworden sei. Ungeachtet der Vagheit und Verwirrtheit der Ansprache des Präsidenten am Freitag erinnere ich mich, dass die Regierung von Mauricio Macri in Argentinien, gefüllt mit Bankern und einer Einstellung zugunsten des globalen Kapitalismus, zwei Jahre das selbe versucht hat, ohne Erfolg. Also wünsche ich viel Glück…

Wenn die zwei (widersprüchlichen) Ziele dieses Anpassungsplans darin bestehen die Inflation zu stoppen und zurück auf den Weg des Wirtschaftswachstums zu finden, sehe ich jedoch weder, wie man das eine noch das andere auf kurze Sicht erreichen kann. Die Regierung selbst gibt dies zu, wenn sie um zwei Jahre Zeit bittet bis sich Ergebnisse zeigen…

Und ich tendiere zu der Annahme, dass angesichts der chaotischen und unbeständigen Situation, in der die venezolanische Gesellschaft versenkt wird, solche Fristen nicht so viel nützen. Ich bin ehrlich gesagt weiterhin besorgt.


Temir Porras aus Venezuela ist Gastprofessor an der Pariser Schule für Internationale Angelegenheiten der Privatuniversität SciencesPo und Chef der Finanzberatungsfirma Ventuari Partners. Unter Präsident Hugo Chávez hatte er Regierungsämter bei der Wirtschafts- und Sozialentwicklungsbank (Bandes), dem Fonds für nationale Entwicklung (Fonden) und im Außenministerium von Venezuela inne.

  • 1. Anm. d. Red.: Dolar Today ist eine US-amerikanische Webseite und die meistgenutzte Seite zur Bestimmung des Schwarzmarktwechselkurses in Venezuela
  • 2. Gemeint sind der langjährige Minister und Zentralbankchef Nelson Merentes, die Wirtschaftswissenschaftler Pacualina Curcio, Tony Boza und Luis Salas, sowie der spanische Wirtschaftswissenschaftler Alfredo Serrano Mancilla, der die venezolanische Regierung in ihrer Wirtschaftspolitik berät und diese öffentlich verteidigt. Siehe zur Thematik auch den Text "Was tun?" und die Replik auf diesen unter dem Titel "Kritik an den Maßnahmen der 'Wirtschaftskrieger'".
  • 3. Anm. d. Red.: Jorge Giordani war langjähriger Minister für wirtschaftliche Planung in Venezuela. Inzwischen äußert er sich sehr kritisch zur Regierungspolitik Nicolas Maduros.