Die Zärtlichkeit des Volkes

Die Amtseinführung von Enrique Peña Nieto in Mexiko wird zum Fanal

protesta-enrique_pena_nieto.jpg

Proteste zur Amteinführung von Enrique Peña Nieto in Mexiko-Stadt
Proteste zur Amteinführung von Enrique Peña Nieto in Mexiko-Stadt

Folgender Artikel stammt aus der an diesem Wochenende erscheinenden Ausgabe 463 der Lateinamerika Nachrichten.

Am 1. Dezember 2012 wurde Enrique Peña Nieto (EPN) als Präsident Mexikos vereidigt. Nach zwölf Jahren kehrte die Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) damit an die Spitze des Staates zurück, den sie schon von 1929 bis 2000 regiert hatte. Die von Protesten begleitete Amtseinführung mündete in schwere Ausschreitungen und eine polizeiliche Repression, wie die Stadt sie seit Jahren nicht erlebt hatte. Ein Auftakt, der nichts Gutes für Peña Nietos Amtszeit verheißt: Die PRI ist zurückgekehrt, mit vollem Programm: Stimmenkauf, Repression und parapolizeilichen Operationen.

Die erste Tränengasgranate des Tages explodiert kurz nach sieben Uhr morgens. Abgeschossen wird sie von irgendeinem Bundespolizisten, der sich mit tausenden seinesgleichen hinter einer dreieinhalb Meter hohen Metallmauer verschanzt, die sich um das Parlamentsgebäude zieht. Die Demonstranten, denen die Granate gilt, antworten mit einer Intensivierung der Molotowcocktail- und Steinwürfe, einige bespritzen die Polizist durch die Gitterfenster in der Metallwand hindurch mit Farbe und Brandbeschleunigern. Die meisten Besitzer der Verkaufsstände auf dem umkämpften Gelände ziehen es hingegen vor, sich in die Tunnel des nahegelegenen Busterminals zu retten. Fünf oder sechs Gasgranaten später tue ich es ihnen gleich, flüchte zwischen tränenüberströmten, röchelnden Reisenden zu einem Nebenausgang und von dort zurück auf eine kleine Anhöhe, wo sich auch der autonome Block wieder sammelt. "Compañeros, das hier ist nur ein taktischer Rückzug, wir müssen uns jetzt koordinieren! Wir haben Kampferfahrung, aber die können wir nur einbringen, wenn wir gemeinsam kämpfen", tönt es vom Lautsprecherwagen der Sektion 22 der Lehrergewerkschaft aus Oaxaca, welche die dortigen Proteste im Jahr 2006 angeführt hat. Aber da bereiten jene, denen der Appell gilt, schon die zweite Angriffswelle vor: "Die Jungs da riskieren ihren Kragen, die kämpfen völlig alleine!", ruft ein Mann mit Sturmhaube und Fahrradhelm.

Tatsächlich: 200 Meter entfernt werfen fünf Jugendliche Steine gegen die Metallwand. 50 andere brechen aus dem Demozug aus, um sie zu unterstützen. Diesmal schießt die Polizei ein bisschen mehr Gas in die Menge als beim ersten Angriff, und sie schießt es auch ein bisschen weiter. Die Lehrer der Sektion 22 weichen noch ein Stück weiter zurück, die Stimme vom Lautsprecherwagen erklärt hörbar genervt, dass man sich nach der "Provokation der Kids" nun wieder ordnen müsse. Derweil klopft der vermummte Teil der Demo Brocken aus Bürgersteigen und füllt Flaschen mit Zucker und Benzin. Es ist der 1. Dezember, der erste Tag der Präsidentschaft von EPN, der erste Tag der Rückkehr der PRI an die Spitze des Staates – und es ist noch nicht einmal acht Uhr morgens.

Dass die Proteste gegen die PRI, EPN und den umstrittenen Wahlverlauf kein Spaziergang werden würden, war schon in den Tagen zuvor klar geworden. Bereits vor einer Woche wurde die Metallwand in weitem Umkreis um das Parlament errichtet, Straßen gesperrt, U-Bahn-Stationen geschlossen und Polizisten zusammengezogen. Die daraufhin entflammten Proteste von Anwohnern und Beobachtern zeitigten einen symbolträchtigen Teilsieg: Der Verlauf der Absperrung musste geändert und die U-Bahn-Stationen mussten geöffnet werden. Aber der Ton für den ersten Dezember war vorgegeben: Der mexikanische Staatsapparat würde zu allem bereit sein, um sich gegen die Bevölkerung zur Wehr zu setzen.

Das Bild, das sich nun am Stichtag um vier Uhr morgens am Protestcamp von #YoSoy132 am Revolutionsdenkmal bietet, lässt keinen Zweifel daran, dass der hier anwesende Teil von Mexikos Jugend ebenso wenig bereit ist, die Ausschließung kampflos hinzunehmen. Es sieht ein wenig so aus, als ob eine postapokalyptische Version von Mittelerde in die Schlacht zöge: Bogenschützen, die einen Köcher voll mit wattebespickten Pfeilen und Schilder aus blechernen Mülltonnendeckeln tragen, drängen sich zwischen mit Glasflaschen und Benzinkanistern randvollen Einkaufswagen; eine moderne Reinkarnation des aztekischen Jaguarkämpfers, von den Stiefeln bis zum verspiegelten Motorradhelm goldgelb und schwarz getupft, reckt seinen Holzknüppel in die Nachtluft; wer hier keine Sturmhaube, Gas- oder Lucha-libre-Maske trägt und weder ein Schild noch Baseballschläger oder Metallrohre schultert, kommt sich schnell underdressed vor.

Klirrend und rasselnd setzt sich der Zug in Bewegung zum Parlamentsgebäude in San Lázaro. Wir sind weniger als 200 Menschen, machen aber Lärm wie 2.000. Keine Minute vergeht, ohne dass die Stille der frühen Morgenstunden durch Chöre zerrissen wird, die EPN ein baldiges Ende prophezeien, die studentischen Kämpfe Lateinamerikas hochhalten oder Mexikos große Universitäten besingen. Und immer wieder, beinahe als wäre es ein Mantra: "México, ¡sin PRI!" ("Mexiko, ohne PRI!") – bis der Zug am Parlamentsgebäude ankommt.

Während der nächsten vier Stunden wird sich weder am Frontverlauf noch an der Taktik beider Parteien etwas ändern. Die Demonstranten werfen sich aufopferungsvoll gegen die Metallwand. Manchmal gelingt es ihnen, ein Teilstück umzureißen. Dann stürmen die hinter der Wand verschanzten Bundespolizisten los, prügeln mit ihren langen Schlagstöcken auf jeden und jede im Umkreis von zwanzig Metern ein, feuern erst Tränengas, dann Gummigeschosse und Pfeffergaskartuschen, richten das Teilstück wieder auf und ziehen sich zurück. Wir sind viele hundert Meter vom Parlamentsgebäude entfernt und nähern uns im Laufe des Tages keinen einzigen Meter davon an. Diese Tatsache lässt den ungebrochenen Willen der Demonstranten, ihr Leben in diesem ungleichen Kampf aufs Spiel zu setzen, noch heroischer erscheinen, oder noch kopfloser, oder beides zugleich. Auf der Anhöhe stehen einige Gewerkschafter, die das Geschehen teils interessiert, teils besorgt verfolgen. "Das sind doch bloß dumme Provokationen", erregen sich zwei Frauen auf meine Nachfrage hin. Eine Gruppe von Lehrern aus Oaxaca gibt sich toleranter und meint, jede Organisation habe halt ihre Methoden und man müsse das akzeptieren.

Ich laufe die Erhebung hinunter, zwischen Demonstranten, die sich ausruhen oder die nächste Attacke vorbereiten und unzähligen anderen, die warten, ohne zu wissen, worauf. Es herrscht eine seltsame Stille, die Explosionen der Granaten scheinen plötzlich meilenweit entfernt. Einzig die Sirenen der herannahenden Krankenwagen schrecken die Menschen auf. Erst einer, dann zwei, dann kommen sie beinahe im Minutentakt und verladen blutende Protestierende, die von anderen auf aus Absperrgittern improvisierten Bahren herangetragen werden. Auf der Straße stehen Frauen und Männer jeden Alters in kleinen Gruppen in der Sonne, sitzen auf den Bürgersteigen oder auf den Bänken eines kleinen anliegenden Parks. Was auch immer sie für heute geplant hatten, ist untergegangen in diesem Sumpf aus Blut und brennendem Benzin auf der anderen Seite des Hügels. Sie sind Tausende, die die ganze Nacht in drittklassigen Überlandbussen auf Mexikos Landstraßen und Autobahnen verbracht haben, und morgen wird keine Zeitung sie auch nur erwähnen. Und sie wissen das.

Gegen elf Uhr morgens beginnt die Veranstaltung sich aufzulösen. Auf der anderen Seite des Metallzauns wurde Peña Nieto die Präsidentenbinde von seinem Vorgänger übergeben. Jetzt rauscht er zum Nationalpalast, um seine Antrittsrede zu halten. Ich hingegen laufe vorbei an zerstörten Bushaltestellen und zertretenen Blumenbeeten, verärgert dreinblickenden Nachbarn in Morgenmänteln und neugierigen Kindern. Da steht es also, das Volk, das heute so oft angerufen wurde und in dessen Namen wir kämpfen. Es sieht nicht so aus, als ob es die Opfer, die wir ihm bringen, zu würdigen wüsste. "Wir wollen eine breite Plattform aufbauen, permanente Versammlungen in den Stadtvierteln schaffen und so die Mehrheit der Bevölkerung einbinden", hatte N. mir am Vortag im Protestcamp von #YoSoy132 erklärt. "Aber das ist schwierig", klinkte sich A. in die Unterhaltung ein. "Wir sind jung, Studenten und Schüler und im Grunde ohne jede Organisationserfahrung – in den Stadtvierteln und von den Bewegungen können wir unglaublich viel lernen, aber natürlich begegnen die uns erst mal mit Misstrauen. Wir fangen gerade erst an, das zu überwinden".

Die beiden sind seit fünf Monaten im Camp aktiv und leben die meiste Zeit dort, in unzähligen Diskussionen, meetings und sit-ins, in tagtäglicher unbezahlter Kleinarbeit haben sie Plakate gebastelt, Texte geschrieben und Netzwerke zwischen der studentischen Bewegung, Stadtteilinitiativen und anderen Organisationen geknüpft. Während ich über das zersplitterte Glas von Werbetafeln springe, frage ich mich, was von all dem noch übrig bleiben wird, nach diesem 1. Dezember.

#YoSoy132 hat als Organisation stets pazifistische Weisen des Protests befürwortet und auch an diesem Tag distanziert sie sich schon früh von dem gewalttätigen Widerstand. Aber dass dies nicht das Bild ist, das Televisa, TV Azteca und die großen Zeitungen verbreiten werden, ist allen klar. Sie porträtieren den studentischen Protest per se als gewalttätig und kriminell, entfremden ihn so von anderen Bewegungen und rechtfertigen jede Repression. Genau um dies zu erreichen, hat der mexikanische Staatsapparat erwiesenermaßen agents provocateurs auf der Demonstration eingesetzt und Menschen dafür bezahlt, dass sie für ein Höchstmaß an Zerstörung sorgen. Die PRI ist zurückgekehrt, mit allem, was das bedeutet: Stimmenkauf, Repression und parapolizeiliche Operationen.

Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Der Diskurs, mit dem die mexikanischen Aktivisten derzeit die Polizeigewalt und willkürliche Festnahmen anprangern, kennt nur friedliebende Demonstranten, hinterhältige Infiltrierte und brutale Sicherheitskräfte. Strategisch ist das nachvollziehbar, allerdings werden auf diese Weise einige der komplizierteren Fragen verschwiegen, welche der 1. Dezember aufgeworfen hat. So ist es erwähnenswert, dass ich während einem unserer "taktischen Rückzüge" N. aus dem Protestcamp von #YoSoy132 treffe. Komplett in olivgrün gekleidet, die Kapuze seiner Jacke zugezogen und schwarz maskiert begrüßt er mich, wir plaudern kurz, dann sagt er mir, er müsse sich nun um die Erneuerung der "Bewaffnung" kümmern. Warum riskiert N., der so viel Zeit und Energie für den Aufbau der Strukturen seiner Organisation aufgewendet hat, dass all seine Arbeit in ein paar Stunden zunichte gemacht wird? In einem Kampf gegen eine Metallwand, in dem es nichts zu gewinnen gibt?

Es ist mit Sicherheit keine Naivität; N. ist ein strategisch und politisch denkender Mensch: "Als #YoSoy132 agieren wir pazifistisch", hatte er mir in unserem Interview erklärt. "Aber wir koordinieren uns mit anderen Gruppen, die direkte Aktionen machen – was ja auch legitim ist –, um uns gegenseitig zu unterstützen, aber auch, um Distanz zu wahren." Genau diese Koordinierung zwischen Organisationen aber war am 1. Dezember nicht vorhanden. Die Gewalt des Staates war kalkuliert und strategisch, die der Demonstranten hingegen war nicht mehr als eine spontane, undurchdachte und selbstzerstörerische Explosion aufgestauter Frustration. "Wem nützt die Gewalt?" fragen die Aktivist in diesen Tagen und suggerieren, dass, da die Regierung der einzige Nutznießer ist, sie auch die Schuld tragen müsse. Aber die Frage ist falsch gestellt, denn nur ein Teil der Gewalt (die der Polizei und der Infiltrierten) war überhaupt nutzenorientiert. Die andere Gewalt, die Gewalt der Opposition, hat andere Gründe, und die zu klären ist eine der dringenden Aufgaben der mexikanischen Linken.

Eine Erklärung beginnt damit, dass Mexiko ein Land im Krieg ist. Ein guter Teil der jugendlichen Demonstranten wurde unter der Regierung von Felipe Calderón (2006-2012) politisch sozialisiert. Im Laufe seiner Amtszeit starben täglich etwa 30 Menschen im "Drogenkrieg". Der mexikanische Staat verabschiedet sich sukzessive von seinen sozialen Funktionen, gleichzeitig wächst der Polizei- und Militärapparat unaufhaltsam an. Zudem sind die von Betrugsverdacht überschatteten Wahlen von 2006 und 2012 für viele ein Beweis dafür, dass das politische System sich hermetisch abgeschottet hat und ihm auf parlamentarischem Wege nicht beizukommen ist. Wo jede politische Selbstorganisation kriminalisiert wird und Wahlen eine Farce sind, was bleibt da noch? Auf einem der Brückenpfeiler, vor der dunklen Metallwand in San Lázaro, hat jemand in weißer Farbe geschrieben: "Wir sind keine Guerilleros, aber bald werden wir es sein".

Vor meiner Haustür, wenige Straßen vom Zócalo entfernt, schleppen Aufstandsbekämpfungseinheiten 30 oder 40 Kästen Tränengasgranaten an mir vorbei, zwei Hundertschaften formieren sich vor meinem Fenster. Es dauert nur Minuten, dann sind alle Straßen gesperrt und ich bin vom Rest des Geschehens abgeschlossen. Ein paar Häuserblocks entfernt werden Starbucks, das Sheraton und ein paar Banken ihrer Glitzerfassaden entkleidet. Da hier keine Metallwand mehr die Kontrahenten trennt, herrscht offener Straßenkampf. Die Polizei geht brutal und unterschiedslos gegen Demonstranten vor, über hundert Menschen werden festgenommen, 69 kommen vorläufig in Haft (55 von ihnen werden eine Woche später frei gelassen werden). #YoSoy132 erklärt ihre Teilnahme an den Protesten für beendet und distanziert sich erneut von den Ausschreitungen – dennoch wird die Bewegung die Befreiung der Gefangenen noch am selben Tag zu ihrem wichtigsten Anliegen erklären und schon zwei Tage später die erste Demonstration organisieren. Das ist eine konsequente Entscheidung, die aber letztlich nur das Unvermeidliche anerkennt: Das Schicksal der Bewegung ist nun untrennbar mit dem #1Dmx (1. Dez. 2012) verbunden.

Als ich am Abend über die Alameda Central schlendere, wo sich nach San Lázaro die heftigsten Kämpfe zugetragen haben, komme ich an einem Regierungsgebäude vorbei, dessen Scheiben bis hoch zum dritten Stock eingeworfen sind. "Peña: Die Zärtlichkeit des Volkes, das dich gewählt hat", steht an der Fassade. Pärchen fotografieren sich und ihre Kinder vor dem Schriftzug und zwischen zersplitterten Schaufensterscheiben, Arbeiter fegen Scherben zusammen. In zwei, drei Tagen wird es hier aussehen als sei alles wie zuvor. Aber die Zärtlichkeit des Volkes wird so bald nicht erlöschen.