Ein Beispiel langjähriger, erfolgreicher medizinischer Hilfe

Aiuto Medico al Centro America (AMCA): Seit mehr als 25 Jahren in Zentralamerika präsent

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Auf der Neugeborenenstation konnte die Sterblichkeit in fünf Jahren von 50 Prozent auf 20 Prozent reduziert werden.
Auf der Neugeborenenstation konnte die Sterblichkeit in fünf Jahren von 50 Prozent auf 20 Prozent reduziert werden.

Ostern 1985 besuchte ich meine Lebenspartnerin in Managua, Nicaragua. Sie hatte die erste onkologische Station im Frauenspital Bertha Calderón organisiert. Im Jahr 1979 hatten die Sandinisten die blutige Diktatur Somozas gestürzt. Daraufhin hatten sie im nach Haiti zweitärmsten Land Lateinamerikas breitflächige Erziehungs- und Gesundheitsprogramme lanciert. Sie leiteten auch eine Agrarreform ein, was der dortigen Oligarchie und US-Präsident Reagan, der Nicaragua schon als zweites Kuba sah, missfiel. Deswegen finanzierte die CIA ab 1982 eine aus armen Bauern zusammengesetzte Rebellenarmee, die vor allem Terrorattacken gegen Schulen und Einrichtungen der Basismedizin ausführte. Die Regierung musste deswegen immer mehr Mittel in die Armee stecken, weswegen sie ihre Gesundheitsprogramme kaum noch finanzieren konnte.

Bei meinem Besuch baten mich die Gesundheitsministerin und einige Ärzte um Hilfe. Daraufhin gründeten Ärzte, Krankenpfleger und Gewerkschafter AMCA: Aiuto Medico al Centro America, Vereinigung für ärztliche Hilfe in Zentralamerika. In den mehr als 25 Jahren seines Bestehens hat AMCA viele medizinische Hilfsprojekte in ganz Zentralamerika durchgeführt, wobei aber der Löwenanteil in Nicaragua entwickelt wurde. Anfänglich versuchten wir vor allem, mit der Entsendung von freiwilligem Personal Abhilfe zu schaffen. Bald mussten wir aber einsehen, dass dies nicht der richtige Weg war: Der Abgang jedes Freiwilligen hinterließ ein Vakuum. Somit liessen sich keine strukturellen Probleme lösen. Aus der Praxis lernten wir also, dass Entwicklungshilfe erst dann wirksam ist, wenn sie langfristig geplant wird und auf die Ausbildung lokaler Ressourcen setzt.

Die Schwerpunkte: Frauen und Kinder

Auch in der medizinischen Entwicklungshilfe muss man Schwerpunkte setzen. Wir entschieden uns für Frauen und Kinder, auch weil Nicaragua eine sehr junge Bevölkerung hat (heute 6 Millionen Einwohner, Durchschnittsalter 18 Jahre). In Managua gibt es das einzige Kinderspital des Landes, La Mascota. Dort starteten wir 1987 unser erstes langfristiges Projekt: den Aufbau einer hämato-onkologischen Abteilung. Während in der westlichen Welt schon damals etwa zwei Drittel der krebskranken Kinder geheilt wurden, konnte in Nicaragua kein Kind geheilt werden. Die Gesundheitsministerin sagte mir: "Diese Kinder dürfen nicht sterben, nur weil sie hier geboren wurden." Damit konterte sie meine Bedenken, eigentlich müsste man vor allem in die Basismedizin investieren (was sowieso schon sehr viele Organisationen taten). Zusammen mit der pädiatrischen Universitätsklinik Mailand (Prof. G. Masera) begannen wir zuerst in Mailand und in Bellinzona mit der Ausbildung von Ärzten, Krankenschwestern und Laborantinnen. Wir legten dann gemeinsam Behandlungsprotokolle fest, die den lokalen Gegebenheiten angepasst waren. Nicht unbedingt notwendige Medikamente oder solche, die "zu gefährlich" waren (z. B. wegen der Gefahr besonderer Infektionen bei Patienten, die meistens einen schlechteren Allgemeinzustand haben als bei uns), wurden weggelassen. Die ersten Leukämiefälle wurden "standesgemäß" ab etwa 1989 behandelt, kurz darauf führten wir auch eine computerisierte Erfassung der Daten ein. Dies und die regelmäßige Durchsicht der Knochenmarkpräparate erlaubten uns, ein klares Bild der Situation zu bekommen. Einer von uns ging alle 3–6 Monate für 1–2 Wochen vor Ort. Die Erfahrungen der ersten 10 Jahre dieses Projektes haben wir in einem Artikel, der im Lancet publiziert wurde, zusammengefasst.1

Dank der Spende einer Kobaltmaschine durch die norwegische Regierung verfügten wir ab 1985 auch über eine Strahlentherapie: AMCA hatte schon früher den Bunker gebaut. Heutzutage werden in der hämato-onkologischen Abteilung des Kinderspitals La Mascota jährlich etwa 200 neue Fälle pädiatrischer Tumoren behandelt. Die Struktur besteht aus zwei Bettenabteilungen mit je 15 Betten und aus zwei Ambulatorien. Alles in allem lassen sich die Resultate sehen: So werden z. B etwa 60% der Kinder mit einer akuten lymphatischen Leukämie (ALL) geheilt. Entscheidend dabei waren gezielte soziale Maßnahmen. Anfänglich verschwanden bis zu ein Drittel der Kinder nach erfolgreicher Erstbehandlung während der sogenannten Erhaltungstherapie, die z. B. bei ALL etwa zwei Jahre dauert. Diese Phase wird ambulant durchgeführt. Die meisten Eltern hatten die nötigen finanziellen Mittel nicht, um dauernd nach Managua zu reisen. Daraufhin haben wir ein kleines Gästehaus errichtet und zudem einen Teil unserer finanziellen Mittel für die Deckung der Ausgaben der Familien verwendet. Dank dieser Maßnahmen ist der Drop-out jetzt sehr gering. Nach und nach konnten wir dann die nicaraguanische Regierung überzeugen, einen immer größeren Teil der Behandlungskosten, die natürlich viel kleiner als bei uns ausfallen, zu übernehmen. Dank diesem Engagement der Regierung, aber auch dank der Gründung einer Krebsliga und eines Elternvereins ist das Projekt Hämato-Onkologie im Kinderspital La Mascota heute fast selbsttragend geworden. Wir sichern noch die Supervision der Behandlungsprotokolle, springen ein, wenn plötzlich ein Medikament nicht zur Verfügung steht, und vor allem bezahlen wir einen Teil der Löhne der Ärzte, wenn sie ganz oder teilweise auf ihre Arztpraxis in der Stadt verzichten. Jeder, der die medizinische Situation der Dritten Welt kennt, weiß, dass das Hauptproblem in den Spitälern darin liegt, dass ab spätem Morgen meist keine erfahrenen Ärzte, sondern nur noch ein paar sehr junge Assistenzärzte anzutreffen sind.

Geburten und Neugeborene

Seit langem unterstützt AMCA drei Geburtshäuser in den gebirgigen Regionen Nicaraguas. Vor mehr als 10 Jahren entschieden wir uns dann, das Frauenspital Bertha Calderón (HBC), das Referenzzentrum für Geburtshilfe, anzupacken. Bereits damals gab es dort jährlich rund 11 000 Geburten. Heutzutage sind es mehr als 13 000! Die Verhältnisse waren äußerst primitiv. Bei 40–45 Geburten pro Tag waren alle Gebärenden in einem einzigen Raum zusammengepfercht. Dank einer großzügigen individuellen Spende (600 000 Franken) konnten wir den Gebärsaal völlig umbauen, sodass heute ein Minimum an Intimität gewährleistet ist: Zum ersten Mal in einem öffentlichen Spital darf jetzt auch ein Familienmitglied dabei sein. Fast alle Mütter stammen aus unterprivilegierten Schichten, sind häufig unterernährt, viele noch Teenager. Mehr als ein Fünftel der Neugeborenen braucht aus verschiedensten Gründen eine Intensivpflege. Vor 10 Jahren starben mehr als die Hälfte in den ersten Wochen nach der Geburt. Wir haben dann die Neugeborenen-Intensivpflegestation restrukturiert und dementsprechend mit den nötigen Hilfsmitteln ausgestattet. Gleichzeitig begannen wir eine intensive Schulung des Personals vor Ort. Wir haben uns auch viel Mühe gegeben, um "freundlichere und einfachere" Technologien einzuführen. So haben wir z. B. breitflächig die CPAP-Beatmung eingesetzt, die in vielen Fällen eine Intubation, die unter den dortigen Verhältnissen häufig mehr Schaden als Nutzen bedeutet, vermeidet. Wir haben letzthin die Daten von 2004 und diejenigen von 2009 auswerten lassen. In 5 Jahren konnten wir die Sterblichkeit von etwa 50% auf ca. 20% reduzieren. Wir bereiten jetzt eine Zusammenfassung dieser Erfahrungen für eine internationale Zeitschrift vor, da sie auch für andere Drittweltländer interessant sein kann.

Zervixkarzinom: das große Problem

Weltweit wird jährlich bei fast 500 000 Frauen die Diagnose "Zervixkarzinom" gestellt, mehr als die Hälfte der Patientinnen wird daran sterben. Während bei uns die meisten Patientinnen geheilt werden, liegt die Sterberate in den Entwicklungsländern immer noch um ca. 80%.2 Das Zervixkarzinom ist die häufigste tumoröse Erkrankung der Frau in ganz Lateinamerika, die Inzidenz ist in Zentralamerika am höchsten. Im Jahr 1987 fragte mich die Gesundheitsministerin, ob ich ihren Plan für die Erstellung eines nationalen Programms für die Frühdiagnose des Zervixkarzinoms begutachten wollte. Der äußerst voluminöse Plan stellte sich als unbrauchbar heraus. Stattdessen schlugen wir eine Pilotstudie in einer Gegend am Rande Managuas (teils städtisch, teils ländlich) vor, womit wir bessere Voraussetzungen für die Erstellung eines nationalen Plans etablieren wollten. Die genaue Logistik dieser Pilotstudie, die von AMCA mit 150 000 Franken finanziert wurde, habe ich an anderer Stelle beschrieben.3 Nach einer zweijährigen Probezeit wären wir in der Lage gewesen, einen vernünftigen Plan für den größten Teil Nicaraguas aufzustellen. Doch dann verloren im Februar 1990 die Sandinisten entgegen jeder Prognose hauchdünn die Wahlen. Die neoliberalen Regierungen, die dann bis 2007 das Zepter übernahmen, waren an diesem Programm nicht mehr interessiert, und die Privatisierung fast aller Spitäler hätte auch seine Realisierung weitgehend verunmöglicht.

Letztlich hat die Fallzahl noch zugenommen, aber die Rahmenbedingungen haben sich verändert. Ab 2007 sind nämlich die Sandinisten wieder an der Macht. Dazu gibt es neue Methoden für die Frühdiagnose des Zervixkarzinoms. In der Tat hat die traditionelle Methode des Vaginalabstrichs (PAP-Test) in den meisten Entwicklungsländern aus verschiedenen Gründen nie richtig funktioniert. Unterdessen stehen aber andere diagnostische Methoden zur Verfügung, vor allem die sogenannte VIA (Visual Inspection with Acetic Acid), die wenn nötig mit der Kolposkopie kombiniert in einer einzigen Sitzung die Diagnose eines Zervixkarzinoms erlauben. Dazu müssen aber zuerst die Frauen ausgesucht werden, die besonders gefährdet sind. Verschiedene Schnelltests, die das Vorhandensein von HPV-Stämmen, die besonders onkogen sind, nachweisen, werden heute dafür angeboten. Vor fünf Jahren haben wir zusammen mit der Union for International Cancer Control (UICC) und der amerikanischen Non Governmental organisation PATH eine Studie in Masaya (eine Stadt in der Nähe von Managua) lanciert, mit der wir die traditionelle Diagnose mit PAP und die neue Methode (HPV-Schnelltest und VIA) vergleichen. In den nächsten Monaten sollten wir die Schlussresultate dieser Pilotstudie erhalten. Wir sind aber beeindruckt, wie viele Frühfälle in dieser Periode diagnostiziert und behandelt werden konnten. Unterdessen sind alle öffentlichen Spitäler in Nicaragua wieder unentgeltlich für die ganze Bevölkerung zugänglich, und wir haben in Erwartung dieser Patientenzunahme die gynäkoonkologische Abteilung im Frauenspital Bertha Calderón (inkl. das onkologische Ambulatorium, wo 1985 alles begonnen hat) um- und ausgebaut.

... und doch nicht einmal so teuer!

Neben den zwei großen Spitalprojekten betreibt AMCA seit mehr als 15 Jahren auch die Schule Barillete de Colores, die mitten in einem sehr armen Stadtviertel in Managua liegt und in der wir etwa 400 Kinder (von wenigen Wochen bis zu einem Alter von 12 Jahren) ganztägig betreuen. Wir sorgen nicht nur für Krippe, Kindergarten und Primarschule, sondern auch für Ernährung und medizinische Betreuung, auch während der schulfreien Perioden. Seit 2007 hat die Regierung jetzt zumindest die Kosten der Lehrtätigkeit für die Primarschule übernommen.

Einige Leser werden sich jetzt vielleicht zwei Fragen stellen: Wie erklären wir den Erfolg von AMCA und woher bekommen wir das notwendige Geld? Für den Erfolg habe ich zwei Erklärungen. Erstens die langfristige und sorgfältige Planung der Projekte. Aber dann vor allem die Tatsache, dass sie weitgehend auf dem sogenannten Twinning Model4 basieren. Das heißt, wir zwingen den Leuten nicht unsere Technologie auf, sondern entwickeln gemeinsam die adäquateste Lösung der Probleme und verknüpfen die dortigen Institutionen (Spitäler, Schulen usw.) mit hiesigen Einrichtungen, damit unter vielen Mitarbeitern ein ständiger Kontakt und Informationsfluss entsteht. Diese Arbeitsweise trägt auch zur Kostenbeschränkung bei. Weitere Sparfaktoren sind die niedrigen bürokratischen Kosten, der Einsatz vieler Freiwilliger und sich auf das "Essentielle" zu beschränken. Entscheidend ist auch, dass wir seit 20 Jahren auf die Anwesenheit einer Schweizer Koordinatorin, Nicoletta Gianella, vor Ort zählen können. Sie kann jedes Projekt täglich verfolgen.

Insgesamt hat AMCA seit 1985 weniger als 15 Millionen Franken in Nicaragua investiert. Dieses Geld stammt vor allem aus sehr vielen privaten Spenden. Wir haben etwa 300 Personen (vor allem im Tessin), die eine Patenschaft für ein krebskrankes Kind, einen Schüler von Barrilete de Colores oder einen Neugeborenen von Bertha Calderón in Höhe von 500–1000 Franken pro Jahr übernehmen. Viele private Stiftungen und die Krebsliga Schweiz helfen uns. Dazu organisieren wir jedes Jahr mehrere Aktivitäten (Feste, Lotterien usw.). Subventionen von Kanton und Bund sind qualitativ wichtig, betragen aber weniger als 10% von dem, was wir benötigen. Vielen Leuten, die mich nach den notwendigen Ressourcen fragen, gebe ich immer folgende standardisierte Antwort: Mit einem guteingesetzten Franken kann man dort mindestens zehn Mal mehr erreichen, als man es hier könnte. Gerade deswegen zählt für uns wirklich jeder Franken ...


AMCA: Aiuto Medico al Centro America

Die Vereinigung für ärztliche Hilfe in Zentralamerika ist ein im Kanton Tessin anerkannter Verein mit etwa 300 Mitgliedern. Co­Präsidentinnen sind zurzeit Nationalrätin Dr. Marina Carobbio und Dr. Patrizia Frösch. Prof. F. Cavalli ist Direktor der Projekte. Weitere Informationen finden sich auf der Website www.amca.ch Spenden können auf das PC-­Konto 65­7987­4 einbezahlt werden (und sind steuerlich absetzbar).

  • 1. Masera G et al. North-South twinning in paediatric haemato-oncology: the La Mascota Programme, Nicaragua. Lancet. 1998;352:1923–6.
  • 2. Cavalli F. Cancer in the developing world: can we avoid the disaster? Nature Clinical Practice Oncology. 2006;3:582–3.
  • 3. Cavalli F. Medizinischer Technologietransfer in die Dritte Welt: zwei Beispiele und einige Betrachtungen. Soziale Medizin. April; 2005. S. 35.
  • 4. Ribeiro RC and Pui CH. Saving the Children – Improving Childhood Cancer Treatment in Developing Countries. N Engl J Med. 2005;352:2158–60.