Guatemala: "Unser Ziel ist ein plurinationaler Staat"

Gespräch mit Mauro Vay Gonón vom Komitee für bäuerliche Entwicklung (Codeca)

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Codeca kämpft für einen plurinationalen Staat
Codeca kämpft für einen plurinationalen Staat

Vor 30 Jahren gehörten Sie zu den Mitbegründern der Landarbeiterorganisation Codeca. Was waren die Gründe, die Organisation ins Leben zu rufen?

Die beiden prinzipiellen Probleme für die Landbevölkerung in Guatemala: Das fehlende Land für Kleinbauern und die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft auf den großen Fincas. Konkret war es in der Gemeinde Monseñor Romero an der Costa Sur. Diese Gemeinde wurde 1986 oder 1987, ich erinnere mich nicht mehr genau, gegründet. 1985 waren wir Teil einer Bewegung von Padre Andrés Girón für den Zugang zu Land, daraus bildete sich die Gemeinde.

Das "Komitee für bäuerliche Entwicklung" [Comité de Desarrollo Campesino, Codeca] entstand aus den Kämpfen um Land in dieser Gemeinde, später dann teilweise auch im Konflikt mit Padre Girón. Weil in der Gemeinde Menschen aus verschiedenen Regionen Guatemalas lebten, breitete sich die Organisation schnell aus. Bei der Gründung waren wir 17, zwei verließen die Organisation schnell wieder aufgrund des Druckes, dem wir ausgesetzt waren. Von den 15 verbliebenen vergrößerte sich die Organisation schnell auf 150 aktive Mitglieder in der Departamentos Retalhuleu und Totonicapán, heute sind wir zehntausende und landesweit tätig.

Wie war es bei Ihnen persönlich, wann begannen Ihre ersten politischen Kämpfe?

Ich arbeitete als Landarbeiter auf den Fincas an der Costa Sur. Extrem ausgebeutet, damals wurden 1,20 Quetzal als Tageslohn gezahlt [ein Quetzal entsprach etwa einem Dollar]. In großen Streiks konnten wir Anfang der 1980er Jahre eine Erhöhung des Tageslohns auf 3,20 Quetzales durchsetzen, gefordert hatten wir aber fünf. Durch die einsetzende Repression mussten ich und andere nach den Streiks allerdings untertauchen. Wir haben uns der "Guerillaarmee der Armen" [Ejército Guerillero de los Pobres, EGP] angeschlossen. Nach militärischen Niederlagen der Guerilla verlor ich den Kontakt zur EGP und musste mich verstecken. Später, nach einer Amnestie, bekam ich wieder Kontakt zur Guerilla.

Welche Rolle spielte die Guerilla bei der Gründung von Codeca?

Gar keine, 1992 gab es keinen Kontakt zur Guerilla. Allerdings kamen viele der Genossen aus Strukturen der Guerilla, vor allem von der EGP und es ging uns nicht nur um Zugang zu Land, wir wollten schon eine Bewegung aufbauen, um das System grundlegend zu verändern.

Ab 1993 arbeiteten wir in der "Nationalen Koordination der Bauernorganisationen" [Coordinadora nacional de organizaciones campesinas, Cnoc] mit. 1995 bekamen wir dann wieder Kontakt zur Guerilla "Organisation des bewaffneten Volkes" [Organización del pueblo en armas, Orpa], mit der wir bis zum Friedensabkommen 1996 zusammenarbeiteten. So war die Geschichte unserer Gründungsphase.

Was sind die vorrangigen Ziele von Codeca?

Eine verfassungsgebende Versammlung, das "Buen Vivir" (Gutes Leben). Am Anfang wollten wir das Land ändern, wussten aber nicht wie. Im Laufe des Kampfes haben wir verstanden, dass alle Probleme strukturelle Ursachen im westlichen Kolonialsystem haben.

Unser Ziel ist ein plurinationaler Staat und Respektierung der Kulturen der verschiedenen Völker Guatemalas. Die Überwindung des kapitalistischen Systems, ein plurinationaler Staat mit der Politik des "Buen Vivir".

"Buen Vivir" bedeutet den Schutz von Mutter Erde, den Erhalt unserer Lebensgrundlagen für kommende Generationen. Der westliche Kapitalismus sucht nur die Ausbeutung des Menschen und der natürlichen Ressourcen, aber ohne Wasser, ohne Sauerstoff können wir nicht überleben. Wir, die Völker der Maya, haben die Natur immer geschützt, wir setzen uns als Organisation auch sehr für ökologische Landwirtschaft ohne Chemikalien und Kunstdünger ein. Da sind vielleicht die Erträge etwas geringer, aber die Ausgaben für die Kleinbauern sind geringer und der Schutz der Natur ist gewährleistet.

Codeca wird überwiegend mit dem Boykott der Stromrechnungen und Straßenblockaden in Verbindung gebracht. Aber wie sieht der Alltag in Ihrer Organisation aus?

Das Thema der Stromversorgung war eine Linie des Kampfes von Codeca. Am Anfang stand das Problem der Konzentration des Landes in wenigen Händen, die Verteidigung des Mindestlohnes und der Arbeiterrechte, die Rechte der Frauen, der Jugend, der Menschenrechte im allgemeinen und die Rechte der verschiedenen Völker Guatemalas. Die Verteidigung der öffentlichen Daseinsversorgung gegen die Privatisierungen kam als letzter Punkt dazu.

Der Kapitalismus ist in einer Phase, wo er sich auf die Ausbeutung durch die Privatisierung der sozialen Daseinsvorsorge konzentriert. Daher fordern wie die Nationalisierung der Stromversorgung in Guatemala und haben als Widerstandsform beschlossen, kollektiv keine Stromrechnungen zu bezahlen. Wie sollen die Leute auch die hohen Stromrechnungen nach der Privatisierung bezahlen? Es gibt keine Arbeit, kein eigenes Land zum bestellen.

Großen Wert legen wir auf die Information und die Bildung der Menschen durch politische Fortbildungen in unserer Organisation, die die Menschen über ihre Rechte aufklären. Niemand kennt seine Rechte in Guatemala, das betrifft auch die Menschen mit formell höherer Bildung, Lehrer, Buchhalter, BWLer, niemand kennt die Arbeiterrechte, die in unserer Verfassung verankert sind.

Wie begehen sie das Jubiläum und was sind ihre Planungen für die nächste Zeit?

Wir haben eine Rundreise durch Guatemala mit internationalen Gästen aus Chile, Bolivien und Ecuador durchgeführt, am 15. Juni feierten wir unseren Gründungstag hier an der Costa Sur. Wir haben das Jubiläum nie gefeiert, aber jetzt wollen wir es auch nutzen, um jüngeren Genossinnen und Genossen die Geschichte unsere Organisation näher zu bringen.

Zum Ende des Jahren führen wir die zentrale Versammlung unseres politischen Instrumentes, der Partei "Bewegung für die Befreiung der Völker" [Movimiento para la Liberación de los Pueblos, MLP] 1) durch. 2023 werden wir uns auf die dann stattfindenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen konzentrieren.

Eine gekürzte Fassung des Interviews ist am 17. Juni bei junge welt erschienen

  • 1. 2018 gründete Codeca die MLP, 2019 verpasste die Partei bei den Präsidentschaftswahlen nur knapp die Stichwahl