Wirkliche Menschenrechte

Das Menschenrechtssystem muss radikal geändert werden, damit es nicht länger Zwecken dient, die denjenigen, für die es geschaffen wurde, zuwiderlaufen

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Ich bestehe darauf: Kaum eine Sache ist edler als die der Menschenrechte; und nur wenige wurden für unedlere Zwecke eingesetzt. Damit das Menschenrechtssystem nicht weiterhin Zwecken dient, die denjenigen, für die es geschaffen wurde, zuwiderlaufen, sind radikale Veränderungen dringend nötig. Die erste betrifft diejenigen, denen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden können. Jede herrschende Klasse ist immun gegen die von ihr auferlegten Gesetze. Scheinbar unerbittlich gegen Länder und Regierungen, gelten Menschenrechtsstandards nicht für Unternehmer. Ihrer Meinung nach kann nur der öffentliche Sektor wegen Verletzung dieser Rechte verklagt werden. Ich habe diese Spitzfindigkeit einmal "die Theologie Satans” genannt. In der kapitalistischen Welt sind es die Unternehmer, die die Wirtschaftskräfte beherrschen und die Macht haben, die Umwelt zu zerstören, Regierungen zu beeinflussen und die Menschenrechte des Einzelnen zu verletzen. Die Normen in diesen Angelegenheit verhindern, sie aus diesem Grund anzuklagen, zu verfolgen oder zu verurteilen. Solange explizite Regelungen die mögliche Urheberschaft der kapitalistischen herrschenden Klasse bei Menschenrechtsverletzungen nicht anerkennen und als Straftatbestand qualifizieren, ist das diesbezügliche System weiterhin ein großer Betrug.

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Die zweite unverzichtbare Reform ist die Kategorisierung dessen, was als Menschenrechte gelten sollte. Erklärungen und Verträge zu diesem Thema fassen Normen zusammen, die das Handeln politischer Autoritäten in politischen Angelegenheiten einschränken: freie Meinungsäußerung, Demonstrationsfreiheit. Im Allgemeinen lassen sie die wesentlichen Rechte, die jeder Mensch als Voraussetzung für das Politische anstrebt, in der Luft hängen: Bildung, Gesundheit, Nahrung, Arbeit, Wohnung und Kultur. So heißt es in Artikel 25 Absatz 1 der UN-Menschenrechtskonvention: "Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen gewährleistet, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.“

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Artikel 26 dieser Konvention sieht vor: "Jeder hat das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zum mindesten der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fach- und Berufsschulunterricht müssen allgemein verfügbar gemacht werden, und der Hochschulunterricht muss allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offenstehen.“ Und Artikel 26 der Internationalen amerikanischen Charta der sozialen Garantien der Organisation Amerikaner Staaten (OAS) besagt: "Die Vertragsstaaten verpflichten sich, sowohl im Inland als auch durch internationale Zusammenarbeit, insbesondere in wirtschaftlicher und technischer Hinsicht Maßnahmen zu ergreifen, um schrittweise und zumindest im Rahmen der durch Gesetzgebung oder andere geeignete Mittel verfügbaren Ressourcen die volle Verwirklichung der Rechte zu erreichen, die sich aus den wirtschaftlichen, sozialen und bildungsmäßigen, wissenschaftlichen und kulturellen Normen ergeben, die in der Charta der OAS in der durch das Protokoll von Buenos Aires geänderten Fassung enthalten sind.“ Es sind programmatische Erklärungen, die voller Bedingungen sind ("zumindest", "schrittweise erreichen", "im Rahmen der verfügbaren Ressourcen"). Ihre Nichteinhaltung steht vor den zuständigen Gerichten praktisch nicht zur Debatte. Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte müssen ausdrücklich und kategorisch erklärt werden; ihre Einhaltung muss noch sorgfältiger überwacht werden als die der politischen Rechte.

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Der dritte Punkt, der eine unverzichtbare Reform verlangt, ist der perverse Mechanismus, durch den die Hegemonialmächte Immunität gegen Entscheidungen der Menschenrechtsgremien genießen, während sie andere Regierungen dazu bringen, sich von ihnen beurteilen zu lassen. Die USA haben weder die Interamerikanische Menschenrechtskonvention unterzeichnet noch irgendein Abkommen, das sie der Beurteilung durch ausländische Gremien aussetzt, was sie gegen jeden Versuch immun macht, sie vor internationale Instanzen zu bringen. Die Länder Lateinamerikas und der Karibik werden dagegen vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte der OAS angeklagt und vor Gericht gestellt, wobei Letzteres eine in Washington ansässige Organisation ist, die hauptsächlich von den USA finanziert wird. Die OAS legitimierte die Söldnerinvasion gegen das Guatemala von Jacobo Árbenz, die Intervention gegen die Dominikanische Republik, den Ausschluss Kubas, den Putsch gegen Evo Morales, die vielgestaltige Aggression gegen Venezuela ‒ aber sie hat nie eine einzige Klage gegen die USA vor ihrem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht.

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Der vierte Punkt, der reformiert werden muss, ist die einhellige Missachtung der Normen eines ordnungsgemäßen Verfahrens durch die Organe, die vorgeben, die Thematik der Menschenrechte zu kennen. In ihrem Bericht für die Allgemeine Periodische Überprüfung 2011 beschuldigt uns die Interamerikanische Menschenrechtskommission in 233 Punkten. In 205 geht es um Fälle, in denen die innerstaatlichen Rechtswege noch nicht erschöpft sind, sodass sie nach den einschlägigen Vorschriften nicht vor der externen Gerichtsbarkeit geltend gemacht werden können. In 225 werden keine Fakten wie Namen, Daten, Orte oder andere Daten genannt, die für die Zulassung einer Anklage unerlässlich sind. In 182 Fällen urteilt sie auf der Grundlage von Annahmen über zukünftige und ungewisse Geschehnisse, die sich ereignen "könnten". In ihrer Gesamtheit beruft sich die Kommission fast ausschließlich auf Gerüchte oder Zeitungsausschnitte, die kein Gericht, das diesen Namen verdient, als Beweismittel heranziehen würde. Sie wagt es sogar, ihr Veto gegen Gesetzesprojekte einzulegen, deren Annahme einzig und allein vom souveränen Willen des Volkes und nicht von einem Büro Washingtons abhängt.

Insgesamt sammelt der Bericht in 233 Punkten mindestens 612 Verletzungen der OAS-Charta, der Interamerikanischen Menschenrechtskonvention und der Verordnungen selbst. Auf der Basis dieser Sammlung von Betrügereien nimmt die Interamerikanische Kommission Venezuela auch in eine "Kategorie IV" von Ländern mit "schweren Menschenrechtsproblemen" auf, nur begleitet von Kuba, Honduras und Haiti. Diese extravagante Kategorie wird von der Kommission selbst geschaffen und angewandt, was gegen das Prinzip der Gewaltenteilung verstößt, nach dem ein und dasselbe Gremium nicht nach Belieben Regeln aufstellen, auslegen und anwenden kann. Obendrein bekommt die venezolanische Vertretung für die Verteidigung gegen solche Dossiers mit mehr als zweihundert Anschuldigungen zwanzig Minuten Zeit: etwa eine Minute für zehn Anschuldigungen, sechs Sekunden für jede von ihnen. Solche Verstöße disqualifizieren nicht nur das Dokument, das sie enthält, sondern auch die Stelle, die es herausgibt. Es wird keine Menschenrechte geben, solange ihre Regelungen nicht ausdrücklich die sofortige Entlassung von Funktionären vorsehen, welche gegen die Vorschriften verstoßen, die ihr Handeln bestimmen sollten. In der Zwischenzeit ist die einzige Lösung diejenige, die Venezuela gewählt hat: sich aus Gremien zurückzuziehen, in denen Menschenrechte mit Rechtsbeugung verwechselt werden.

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Der fünfte Punkt, der drastisch reformiert werden muss, ist die Aufteilung der angeblichen Menschenrechtsgremien auf die sie finanzierenden Mächte. Die USA stellen mehr als drei Viertel des OAS-Budgets zur Verfügung. Dies erklärt, warum in der blutigen Zeit zwischen 1969 und 1998, als es in Venezuela Konzentrationslager und Massaker wie Cantaura, Yumare, Caracazo und Amparo gab, eine Zeit, in der die Wahrheitskommission insgesamt 1.080 politische Morde nachwies, der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte aber nur sechs Fälle behandelte, die das Land betrafen. Einer dieser Fälle wurde von dem Terroristen und Völkermörder Posada Carriles zu seiner Verteidigung eingeführt. Im Gegensatz dazu hat sie zwischen 1999 und 2011 63 Fälle bearbeitet: fast zehnmal so viele in einem Drittel der Zeit.

Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat keine bessere Bilanz vorzuweisen. Zwischen 1981 und 1998 löste er nur einen Fall gegen Venezuela, den des Massakers von El Amparo. Aber zwischen 1999 und 2011 verurteilte er 13 und bearbeitet 11 weitere. 24 Fälle gegen unser Land. Weder die OAS-Menschenrechtskommission noch der Gerichtshof beschlossen irgendeine Aktion angesichts des Putsches vom 11. April 2002. In einer weiteren Demonstration ihrer Voreingenommenheit drängte die Kommission Venezuela am 10. Mai 2011, "dringend alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Rechte auf Leben und persönliche Integrität sowie die politischen Rechte, das Versammlungsrecht und die Rechte auf Vereinigungsfreiheit und freie Meinungsäußerung in diesem Zusammenhang zu garantieren". Der Bericht von 2019 des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Menschenrechte über Venezuela wurde mit 20 Vertretern der legitimen Regierung und mehr als 1.000 Vertretern der Opposition als Zeugen verfasst, von denen sich 460 im Ausland befanden und daher keine direkte Kenntnis des Landes hatten. Ein weiters Mal disqualifiziert ein solches Maß an Vorurteilen den Bericht und das ihn ausstellende Gremium. Es wird keine Menschenrechte geben, solange die Menschenrechtsorganismen von den wichtigsten Menschenrechtsverletzern finanziert werden

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Die oben genannten Überlegungen machen schon von sich aus eine sechste Reform zwingend. Es ist ein unüberwindbarer Widerspruch, dass Strukturen als Verteidiger der Menschenrechte betrachtet werden, die von den wichtigsten Menschenrechtsverletzern bezahlt werden, die sich zudem selbst gar nicht diesen Gremien unterwerfen. Gesponserte Entscheidungen tendieren unweigerlich dazu, die Sponsoren zu bevorzugen. Aus diesen Gründen müssen sich Nationen, die auf ihre Souveränität achten, von Körperschaften trennen, die den Imperien untergeordnet sind, wie es Kuba und Venezuela durch ihre Loslösung von der OAS getan haben. Die Länder der Dritten Welt und Lateinamerikas sollten die Angelegenheit in internen Organismen behandeln oder sie Gremien anvertrauen, die nicht der unipolaren oder bipolaren Diplomatie unterliegen. Wir sprechen von Gremien wie dem Russell-Tribunal, der Blockfreien Bewegung, der Union südamerikanischer Nationen (Unasur), der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (Celac) oder der Bolivarischen Allianz (Alba). Die Schaffung eines Tribunals des Gewissens oder eines Antiimperialistischen Tribunals Hugo Chávez Frías sollte ebenfalls vorgeschlagen werden. Die Menschenrechte sind zu wichtig, als dass man sie in den Händen von Unmenschen belassen sollte.