Russland in Lateinamerika: Eine Bedrohung für die USA?

Die Länder Lateinamerikas und der Karibik und die Russische Föderation verteidigen eine multipolare Welt

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Die USA sehen ihre wirtschaftlichen Interessen in Lateinamerika und der Karibik durch Russland gefährdet
Die USA sehen ihre wirtschaftlichen Interessen in Lateinamerika und der Karibik durch Russland gefährdet

Die "russische Bedrohung" steht in jüngster Zeit erneut ganz oben auf der Tagesordnung der Medien. Trotz der [wie im Müller-Bericht hervorgehoben: nie bewiesenen} vermeintlichen Hilfe Moskaus bei Donald Trumps Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2017 oder der ambivalenten Erklärungen von Trump zu Wladimir Putin im Besonderen oder der Russischen Föderation (RF) im Allgemeinen steht fest, dass das US-Establishment eine feindliche Haltung gegenüber Russland beibehält.1

Der Rückzug der USA aus dem Vertrag über Nuklearwaffen mit mittlerer Reichweite (INF-Vertrag) am 2. August mit der Begründung, Russland habe diesen nicht eingehalten, ist das jüngste Kapitel einer Reihe von Unstimmigkeiten2, zu denen die wiederholten Sanktionen der USA gegen die RF hinzukommen3.

In der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA von 2017 wird Russland und China vorgeworfen, "die militärischen Beziehungen und die Waffenverkäufe in der gesamten Region auszuweiten". Zudem wird Russlands "gescheiterte Politik des Kalten Krieges" zur Unterstützung der Regierungen von Kuba und Venezuela hervorgehoben4.

Tatsächlich verurteilen die USA während der jüngsten offenen Krise zwischen der US-Administration und der venezolanischen Regierung ‒ in Folge der Unterstützung des selbsternannten "Interimspräsidenten" Juan Guaidó seitens der USA ‒ wiederholt den Rückhalt Russlands für Venezuela und warnen vor der Destabilisierung der Hemisphäre, zu der ihrer Meinung nach die Präsenz russischer Helfer auf venezolanischem Territorium führe.

Aber wie ist jenseits der Propaganda der wirkliche Umfang der russischen Präsenz in Lateinamerika und der Karibik (LAK)? Was veranlasst Russland, politische, wirtschaftliche oder militärische Beziehungen zu Ländern aufzubauen, die weit von seinem natürlichen Expansions- und geopolitischen Einflussgebiet entfernt sind?

Russland und die Welt

Die Länder Lateinamerikas und der Karibik und die Russische Föderation sind sich einig in der Verteidigung einer multipolaren Welt. Größter Verfechter dieser Doktrin war im Fall Russlands der ehemalige Außenminister Jewgeni Primakow (1996-98). Sie teilen daher die Ablehnung des Unilateralismus bei der Lösung globaler Probleme als entscheidenden Schritt, um die Kräfteverhältnisse auf internationaler Ebene auszugleichen und die Grundlagen für die Schaffung globaler Regulierungsmechanismen zu schaffen, die repräsentativer sind. Für die lateinamerikanischen Länder bedeutet die multipolare Ordnung, ihren Handlungsspielraum auf internationalen Ebene zu erweitern und alternative Entwicklungsprojekte zu ermöglichen.

Die zuletzt im Jahr 2015 aktualisierte Nationale Sicherheitsstrategie (NSS)5 Russlands zeigt diese Tendenz. Das Dokument zielt im Gegensatz zum US-Gegenstück darauf ab, die politische, militärische und geistige Fähigkeit des Landes zu erhöhen, um Einfluss auf weltweiter Ebene für den Aufbau einer plurizentrischen und multipolaren Welt zu nehmen. Die Strategie bekräftigt die Wichtigkeit der Sicherstellung der eigenen und der Souveränität und Selbstbestimmung anderer Länder, auf dass die Interessen der USA und der Nato nicht einseitig durchgesetzt werden; denn, wie in Punkt 13 festgestellt, deren Einmischungspolitik und damit die globale Instabilität habe zugenommen.

Es ist keine Nebensächlichkeit, dass das Jahr der Ausarbeitung des Dokuments (2015) der Höhepunkt des "arabischen Frühlings" war. Diese Revolutionen oder vermeintlichen Revolutionen endeten damit, dass sich die westlichen Streitkräfte in geopolitisch zentralen Regionen wie dem Nahen Osten, dem Maghreb und den an Russland angrenzenden Staaten in Stellung brachten. Die Russische Föderation betrachtet diese Prozesse als Beispiele für Einmischung und Bedrohung, die den Prinzipien der Selbstbestimmung und Souveränität widersprechen (Punkt 15).

Die politischen Allianzen mit Lateinamerika und der Karibik

Im "Konzept der Außenpolitik der Russischen Föderation" wird die Wichtigkeit einer Stärkung der Beziehungen zu den Ländern Lateinamerikas und der Karibik "angesichts der wachsenden Bedeutung dieser Region in internationalen Angelegenheiten" betont. Daher wird vorgeschlagen, die Beziehungen zu diesen Ländern zu festigen und "die Zusammenarbeit mit multilateralen Bündnissen und Integrationsmechanismen in Lateinamerika, wie der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten, dem Gemeinsamen Markt des Südens, der Union Südamerikanischer Nationen, dem Mittelamerikanischen Integrationssystem, der Bolivarischen Allianz für die Völker unserer Amerikas, der Pazifik-Allianz und der Karibischen Gemeinschaft auszubauen".6

Russland hat seine diplomatischen Beziehungen zu den Ländern Lateinamerikas und der Karibik seit Beginn des 21. Jahrhunderts ausgedehnt und vertieft. Im Jahr 2000 unternahm Präsident Putin den ersten hochrangigen offiziellen Besuch in der Region, zunächst in Kuba und 2004 dann in Mexiko. Umgekehrt besuchte im Jahr 2001 der damalige venezolanische Präsident Hugo Chávez Frías Russland, ebenso wie der ehemalige chilenische Präsident Ricardo Lagos und Fernando Henrique Cardoso aus Brasilien (2002).

Von 2002 bis 2004 nahm Russland diplomatische Beziehungen zu einigen Staaten der Kleinen Antillen wie Grenada, Saint Vincent und Grenadinen, Saint Kitts und Nevis, Saint Lucia und den Bahamas auf. Zwischen 2000 und 2017 waren die meistbesuchten Länder Kuba, Venezuela, Brasilien und Nicaragua.

In den Jahren 2002 und 2003 fanden gegenseitige Besuche der Präsidenten der Oberen Kammern des russischen und mexikanischen Parlaments statt. Auch besuchten russische Parlamentsdelegationen Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Panama, Peru und Ecuador, und Delegationen der Parlamente von Venezuela, Guatemala, Costa Rica, Chile und Ecuador besuchten Russland.

Damit wurde die Grundlage für die Förderung der überregionalen Beziehungen und die Stärkung der Position Russlands in Lateinamerika und der Karibik gelegt und dies ermöglichte wiederum ein ideales Szenario für die Entwicklung verschiedener Projekte.

Militärabkommen

Im militärischen Bereich ist Russland zum zweitgrößten Waffenexporteur der Welt geworden und hat es geschafft, in den lateinamerikanischen Markt einzutreten, wobei 2007 ein Höchststand erreicht wurde (14 Prozent)7. Die Exporte russischer Rüstungsgüter nach Lateinamerika stiegen von 1,247 Milliarden Dollar im Jahr 2005 auf 6,347 Milliarden Dollar im Jahr 20128. Im LAK-Gebiet war die Militärtechnologie traditionell US-amerikanischer, israelischer und europäischer Herkunft.

Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Ecuador, Mexiko, Nicaragua, Uruguay und Venezuela sind Käufer russischer Waffen, militärischer Geräte und Technologien. In den letzten Jahren zeigen die Zahlen des Wertindikator-Trends des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitutes (Sipri) einen beachtlichen Anstieg des Gesamtwertes der Käufe aus lateinamerikanischen Ländern9.

Venezuela ist mit 73 Prozent im Zeitraum 1992-2017 der größte Käufer russischer Waffen in der Region und unterhält eine enge technisch-militärische Zusammenarbeit beim Technologietransfer und der Ausbildung10. Dies ist nicht nur der herausragendste Fall des russischen Einflusses auf die Region, der auch beim letzten Treffen von [Russlands Außenminister Sergei] Lawrow und [seinem US-Amtskollegen Mike] Pompeo zur Sprache kam, wo sie völlig gegensätzliche Positionen einnahmen11. Venezuela wird von einigen russischen Autoren auch als "die Tür nach Lateinamerika" für den euroasiatischen Riesen angesehen12. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich auch die wiederholten Äußerungen der "Besorgnis" ranghoher Vertreter der Trump-Regierung über die russische "Intervention" in diesem Land interpretieren.

Wenn wir uns jedoch die Prozentsätze der Waffenverkäufe von Russland an die LAK-Länder ansehen, sehen wir insbesondere ab 2014 einen Rückgang, der den US-Alarmismus zerstreuen könnte.

Erwähnenswert sind auch einige Schachzüge der RF in Mittelamerika ‒ einer strategischen Zone für die Sicherheit der USA ‒ wie die Eröffnung des Zentralamerikanischen Anti-Drogen-Trainingszentrums im Jahr 2017, das vom russischen Innenministerium und der nicaraguanischen Nationalpolizei in Managua errichtet wurde 13.

Wirtschaftlicher Austausch

Mit dem Zerfall der UdSSR ging der Handelsaustausch Russlands mit den LAK-Ländern schlagartig zurück. Laut Dr. Vladimir M. Davydov erreichte der Handel 1992 aufgrund der katastrophalen Folgen der Zerstörung des Wirtschaftsapparats eines aus 15 Republiken bestehenden Staates das niedrigste jährliche Durchschnittsniveau der UdSSR. Seit Mitte der 1990er Jahre begann eine allmähliche Erholung. Die Tendenz ist steigend gewesen. Vergleichen wir die gesamte Handelsbilanz von 1992 (306 Millionen US-Dollar), so stellt man fest, dass es bis 2017 (mit 10,21 Milliarden) eine deutliche Zunahme gibt.

Lateinamerika machte 2017 1,2 Prozent der russischen Gesamtexporte aus, ein leichter Anstieg gegenüber dem Jahr 2000 (0,81), seit Russland begonnen hatte, die multipolare Geopolitik von Primakow zu vertiefen. Einige der in den LAK-Ländern gehandelten russischen Produkte sind Baustoffe und Maschinen, chemische Produkte, Transportfahrzeuge, Kunststoffe und Gummi, Lieferungen von Waffen und Weizen. Bei den Gesamtimporten ist ebenfalls ein leichter Anstieg zu verzeichnen: von 2,1 Prozent im Jahr 2000 auf 2,8 in 2017, mit Argentinien, Mexiko und Brasilien als wichtigsten Handelspartnern. Die RF importiert aus den LAK-Ländern Zwischenprodukte, hauptsächlich aus der petrochemischen Industrie (Aluminiumfolie, Öle, Walzstahl usw.). Es gibt aber auch einen zunehmenden Import anderer Waren wie Wein, Obst oder Kaffee.

Zusammenarbeit im Energiesektor

Im Energiebereich haben es die beiden größten russischen Energieunternehmen Rosneft (Mineralöl) und Gazprom (Erdgasförderung) geschafft, in den lateinamerikanischen Markt einzusteigen. Im Rahmen der Förderprojekte der Gasvorkommen von Ipati und Akio bestehen enge Verbindungen zwischen Gazprom und Bolivien14. Gazprom arbeitet seit 2007 in diesem Land und hat ein Abkommen über die Entwicklung der Gasindustrie bis 2040 unterzeichnet.

Die Föderale Agentur für Atomenergie Russlands (Rosatom) hat im Jahr 2016 ein Abkommen mit der bolivianischen Atomenergiebehörde (ABEN) unterzeichnet15, in dem man sich auf die Einrichtung des Zentrums für Forschung und Entwicklung in der Kerntechnik geeinigt hat, das sich in El Alto im Bau befindet. Während des letzten offiziellen Besuchs von Evo Morales in Moskau am 11. Juli 2019 wurde dieses wichtige Projekt weiterverfolgt.

Der Erdöl-Gigant Rosneft ist eng am Projekt des venezolanischen Orinoco-Erdöl-Gürtels "Hugo Chávez" mit 80 Prozent16 der russischen Anteile an mindestens drei Vorhaben in diesem Gebiet beteiligt.

Im Zusammenhang mit der politischen Konfrontation in Venezuela kommt der Tatsache, dass das venezolanische Erdölunternehmen PDVSA im Jahr 2016 49,9 Prozent seiner Citgo-Anteile ‒ einer Tochtergesellschaft in den USA, die derzeit der Blockade der US-Regierung unterliegt ‒ an Rosneft abgetreten hat, besondere Bedeutung zu. Diese Beziehungen vertiefen sich noch mit dem Beschluss, eine PDVSA-Filiale in Russland zu eröffnen, um das Büro in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon zu ersetzen und die mit diesem Sektor verbundenen Aktivitäten an Zahlungsmechanismen zu binden, die den Dollar oder Euro vermeiden. Zudem sollen Allianzen im eurasischen Block erweitert werden17.

Erwähnenswert ist auch das Projekt zur Errichtung eines Navigationszentrums des russischen globalen Satellitennavigationssystem Glonass in Kuba18, wie es bereits in Nicaragua besteht und das eine direkte Konkurrenz zum nordamerikanischen GPS-System darstellt. Es stellt zudem eine Annäherung zwischen Russland und Nicaragua in wirtschaftlichen Angelegenheiten und, wie vorstehend erwähnt, eine verstärkte Zusammenarbeit in Krisensituationen und Fragen der Sicherheit dar19. Diese Faktoren positionieren Russland im Zentrum des "Lebensraums" (Anm. d. Red.: im Originaltext auch in deutscher Sprache: "en pleno corazón del lebensraum o ‘espacio vital’ estadounidense") der USA.

Einige Überlegungen zum Abschluss

Auch wenn die russische Expansion in den Ländern Lateinamerikas und der Karibik in den letzten Jahren im Wachstum begriffen ist, dürften diese politische Präsenz und die militärische Kooperation für die USA kein Grund für Alarmstimmung sein. Tatsächlich hat die Russische Föderation keine Militärbasen in dem natürlichen US-amerikanischen Einflussbereich errichtet, ganz im Gegensatz dazu, was die USA im russischen Einflussbereich getan haben, der vollgestopft ist mit Nato-Basen. Von daher scheint es so, dass die USA eher eine Bedrohung für die Sicherheit Russlands sind als Russland eine Bedrohung für die Sicherheit der USA.

In der zugrundeliegende Debatte geht also darum, dass jedes Vorankommen einer Macht, die die Hegemonie der USA in der Welt in Frage stellt, insbesondere, wenn es in der "strategischen Reserve" der USA stattfindet, zu einer Bedrohung für die wirtschaftlichen Interessen der USA wird ‒ in einem Kontext des geopolitischen Übergangs und des Kampfes um die Energie- und Mineralressourcen zwischen den USA, China und der Russischen Föderation. Einige dieser Ressourcen sind auf dem Gebiet der lateinamerikanischen und karibischen Länder sehr zahlreich zu finden. Ihre Kontrolle wird der Schlüssel sein, wenn es darum geht, die neue Konfiguration des internationalen Systems der Zukunft zu bestimmen. Russland und China sind dabei die wichtigsten Herausforderer der USA, vielleicht liegt darin ihre "Bedrohung" und die Gefahr für die USA.