Mercosur ‒ Europäische Union: Freihandel mit Folgen

Gewerkschaften warnen vor Reduktion des Mercosur auf kolonialen Status als Lieferant von Rohstoffen und Absatzmarkt für EU-Konzerne

Mit Applaus begrüßt die deutsche Exportindustrie die Einigung auf ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem südamerikanischen Staatenbund Mercosur. Das Abkommen, das Ende vergangener Woche nach 20 Jahre währenden Verhandlungen fertiggestellt wurde, senkt die Zölle dramatisch, mit denen die vier Mitgliedstaaten des Mercosur, darunter Brasilien, bislang ihre Industrie schützten. Es öffnet die Länder damit für Exporteure aus der EU. Die EU-Kommission spricht von Zolleinsparungen in Höhe von vier Milliarden Euro. Ein guter Teil davon wird den größten Mercosur-Lieferanten der EU, deutschen Unternehmen, zugute kommen. Umgekehrt öffnet das Abkommen die Agrarmärkte der EU für die südamerikanische Agrarindustrie ‒ zum Schaden insbesondere französischer und irischer Bauern. Tatsächlich hat Berlin das Abkommen gegen Widerstand aus Paris durchgesetzt. Protest wird auch in Südamerika laut: Dort warnen Gewerkschaften vor einem "Todesurteil" für die einheimische Industrie und der Reduktion des Mercosur auf einen kolonialen Status als Rohstofflieferant der EU und Absatzmarkt für europäische Konzerne.

Erfolg nach 20 Jahren

Die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem südamerikanischen Staatenbund Mercosur1, die schon vor rund 20 Jahren aufgenommen worden waren, haben Ende vergangener Woche zum Erfolg geführt. Beide Seiten einigten sich auf einen Vertragstext, der die Zölle auf beiden Seiten des Atlantiks dramatisch senkt und damit dem Handel einen gewaltigen Schub verleihen soll. Die EU hat bereits Freihandelsvereinbarungen mit zahlreichen Ländern und regionalen Zusammenschlüssen in Lateinamerika geschlossen2. Dem neuen Abkommen mit dem Mercosur kommt allerdings ‒ neben demjenigen mit Mexiko ‒ spezielle Bedeutung zu. Ist Mexiko für die EU nicht nur als Absatzmarkt interessant ‒ seine Einwohnerzahl ist die zweithöchste unter den Ländern Lateinamerikas ‒, sondern vor allem als Produktionsstandort für Verkäufe in die USA, so ragt der Mercosur ebenfalls wegen seiner Marktgröße, aber auch wegen seiner politischen Rolle heraus. Brasilien, das die größte Bevölkerung ganz Lateinamerikas verzeichnet, erarbeitet gut drei Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung des Mercosur und strebt nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch eine Führungsposition in Südamerika an.

Die Hauptprofiteure

Auf Seiten der EU erhoffen sich von dem Abkommen vor allem Industrieunternehmen steigende Profite. Der Mercosur hat seine Wirtschaft bislang mit relativ hohen Zöllen geschützt; so liegen die Zölle für die Einfuhr von Autos bei 35 Prozent, für Autoteile bei 14 bis 18 Prozent, für Maschinen bei 14 bis 20 Prozent.3 Laut Schätzung der EU-Kommission können Unternehmen aus der EU nach dem Inkrafttreten des Vertrages und der damit verbundenen Abschaffung der Zölle bis zu vier Milliarden Euro jährlich sparen. Vor allem aber werden sie in die Lage versetzt, ihre Produkte in den Mercosur-Staaten günstiger anzubieten und Konkurrenten zu verdrängen. Der größte Lieferant des Mercosur in der EU ist die Bundesrepublik; entsprechend können deutsche Unternehmen als Hauptprofiteure des Freihandelsabkommens gelten, zumal die deutsche Industrie seit Jahrzehnten eine starke Stellung nicht zuletzt in Brasilien hält ‒ so etwa in der Industriemetropole São Paulo.4 Exportzuwächse erhofft sich insbesondere die Kfz-Branche. Dies betrifft zum einen die Lieferung von Fahrzeugen vor allem auf den schnell wachsenden brasilianischen Automarkt, daneben aber auch den Export von Autoteilen an Fabriken im Mercosur, darunter VW do Brasil und Mercedes-Benz Argentina. Deutschland ist ‒ nach China und vor den USA ‒ Brasiliens zweitwichtigster Kfz-Zulieferer.5

Rohstofflieferant und Absatzmarkt

Im Mercosur wiederum rechnet vor allem die Agrarbranche mit einer deutlichen Steigerung ihrer Exporte. Dies betrifft insbesondere die Ausfuhr von Soja, Rindfleisch, Geflügel und Zucker. Zwar stellt die EU, soweit bislang bekannt, bei bestimmten landwirtschaftlichen Produkten nur eine quotierte Menge tatsächlich zollfrei und erhebt Abgaben auf darüber hinaus gehende Lieferungen. Dennoch wird mit einem erheblichen Anstieg agrarischer Mercosur-Exporte gerechnet. Faktisch führt dies aller Voraussicht nach zu einer Stärkung der Rolle des Mercosur als Rohstoff- und Agrarlieferant der EU, während gleichzeitig die Industrie des Mercosur ‒ soweit vorhanden ‒ unter wachsenden Konkurrenzdruck gerät. Südamerikanische Kritiker warnen bereits ausdrücklich, das Freihandelsabkommen werde "katastrophale Auswirkungen" haben; es könne sich als "Todesurteil für unsere Industrie" erweisen, heißt es in einer Erklärung von insgesamt 20 Gewerkschaften aus den Mercosur-Staaten und Chile.6 Tatsächlich ist die Vereinbarung geeignet, den Mercosur auf eine klassisch koloniale Stellung festzulegen - als Absatzmarkt für EU-Industrieprodukte und Lieferant von Rohstoffen.

Berlin besiegt Paris

Innerhalb der EU hat das Freihandelsabkommen alte Risse offengelegt und die Spannungen in der Union weiter erhöht. Ausdrücklich unterstützt worden ist die Einigung auf den Vertrag vor allem von Deutschland, dessen Industrie die größten Profite erwartet. Explizit befürwortet wird die Vereinbarung außerdem von Spanien und Portugal7, die von den historischen Bindungen an ihre ehemaligen Kolonien zu profitieren hoffen. Scharf kritisiert ist das von der EU-Kommission ausgehandelte Abkommen allerdings von EU-Staaten, deren Landwirtschaft durch die Konkurrenz aus dem Mercosur erhebliche Einbußen zu erleiden droht; vor allem Frankreich und Irland haben sich deshalb energisch um klare Änderungen an dem Vertrag bemüht. Durchgesetzt hat sich letzten Endes die deutsche Position. Für Frankreich schmerzlich ist nicht nur die erneute Niederlage im Machtkampf gegen die Bundesrepublik, sondern auch, dass Berlin Madrid, mit dem Paris manches Interesse teilt, in Sachen Mercosur auf seine Seite gezogen hat. Freilich muss das Abkommen noch vom Europaparlament und von den nationalen Parlamenten abgesegnet werden. Widerstände sind dabei nicht ausgeschlossen.

Bolsonaros Komplizin

Scharfer Protest kommt zudem von zahlreichen europäischen Nichtregierungsorganisationen. Die Kritik gründet sich zum einen darauf, dass das Freihandelsabkommen nicht zuletzt mit Brasiliens ultrarechtem Präsidenten Jair Messias Bolsonaro ausgehandelt wurde. Bolsonaro hatte unter anderem angekündigt, der Polizei beim Schusswaffengebrauch zur Kriminalitätsbekämpfung völlig freie Hand zu lassen. Tatsächlich nehmen die Polizeimorde mittlerweile dramatisch zu. Allein in Rio de Janeiro, wo ein Anhänger des Präsidenten als Gouverneur amtiert, wurden in den ersten vier Monaten 2019 558 Menschen von Polizisten umgebracht ‒ mehr als je zuvor.8 Im Mai gingen mit 171 Todesopfern 32,2 Prozent aller Morde in Rio auf das Konto der Polizei ‒ auch dies ein Rekord.9 Andererseits knüpft die Kritik daran an, dass Bolsonaro nicht nur Vertretern der Agrarindustrie wichtige Posten in seinem Kabinett verschafft hat, sondern auch systematisch Schutzrechte der indigenen Bevölkerungsteile niederreißt, um Agrarkonzernen den Zugriff auf noch nicht industriell genutzte Territorien zu erleichtern. Indem das Freihandelsabkommen EU/Mercosur den brasilianischen Agrarexport befeuere, könne es dazu führen, dass nicht nur noch mehr Regenwald abgeholzt werde, sondern auch Übergriffe auf indigene Bevölkerungsgruppen zunähmen, lautet die Befürchtung. Die EU, so heißt es, dürfe sich nicht zu Bolsonaros Komplizin machen. Genau das tut sie, tritt das nun ausgehandelte Freihandelsabkommen in Kraft.

  • 1. Dem Mercosur gehören Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay als Vollmitglieder an. Die Mitgliedschaft Venezuelas ist dauerhaft suspendiert. Bolivien befindet sich im Beitrittsprozess
  • 2. Die EU unterhält Freihandelsvereinbarungen mit Mexiko, mit Zentralamerika (Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Panama), mit 15 Staaten der Karibik, mit Teilen der Andengemeinschaft (Kolumbien, Peru, Ecuador) und mit Chile
  • 3. Darum geht es im Freihandelsvertrag mit Mercosur. Frankfurter Allgemeine Zeitung 01.07.2019
  • 4. S. dazu Amerika21: Der Chicago Boy und sein Präsident
  • 5. Branche kompakt: Brasiliens Kfz-Markt auf Erholungskurs. gtai.de 27.02.2019
  • 6. Marta Andujo: Nach der Euphorie kommt Kritik am EU-Mercosur-Freihandelsabkommen. amerika21.de 01.07.2019
  • 7. Christoph G. Schmutz: Unterhändler ringen um ein Handelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten. nzz.ch 27.06.2019
  • 8. Número de mortos pela polícia aumenta no Rio. metropoles.com 05.06.2019
  • 9. Polícia do RJ cometeu 1 em cada 3 homicídios no estado em maio. otempo.com.br 28.06.2019