Chile / Menschenrechte

Menschenrechtsverletzungen im Süden Chiles

Die Spannungen zwischen den indigenen Mapuche und staatlichen Autoritäten und Großunternehmen in Chile halten an

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In dem ehemaligen Land der Mapuche, das einen südlichen Teil des heutigen Chiles umfasst, brodelt ein Jahrhunderte alter Konflikt
In dem ehemaligen Land der Mapuche, das einen südlichen Teil des heutigen Chiles umfasst, brodelt ein Jahrhunderte alter Konflikt

Immer wieder dringen Stimmen aus dem Süden Chiles in die internationale Öffentlichkeit, die den Behörden Menschenrechtsverletzungen vorwerfen. Dabei geht es meist um polizeiliche oder gerichtliche Maßnahmen gegenüber Angehörigen der im Süden des Landes heimischen indigenen Mapuche. Anfang dieses Jahres sprach auch der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte seine Besorgnis über die Lage in Chile aus. Diese Äußerungen sind Ausdruck von anhaltenden Spannungen zwischen den indigenen Mapuche und staatlichen Autoritäten und Großunternehmen. Die Konflikte im Süden Chiles, die sich daraus ergeben, haben eine lange Tradition und tiefe sozio-kulturelle Wurzeln.

In dem ehemaligen Land der Mapuche, das einen südlichen Teil des heutigen Chiles umfasst, brodelt ein Jahrhunderte alter Konflikt. War dieser einst durch spanische Kolonialherren entfacht worden, entzündete er sich in der jüngeren Vergangenheit vorwiegend durch die Ausbreitung großflächiger Forstplantagen. Dabei stehen sich im Wesentlichen zivilgesellschaftliche Gruppen und Mapuche-Organisationen auf der einen und der Nationalstaat, transnationale Großunternehmen und die regionale Elite auf der anderen Seite gegenüber. Während sich die Mapuche um kulturelle und politische Selbstbestimmung bemühen, fördert der Staat die extraktivistische Wirtschaft und infrastrukturelle Großprojekte im einstigen Heimatland der indigenen Gruppe.

Die soziale Situation in der Araucanía

Die südliche Region der Araucanía ist die am stärksten von den Konflikten betroffene Region des Landes. Allein zwischen Januar und März dieses Jahres seien laut der Arbeitgebervereinigung der Araucanía 16 politisch motivierte Attentate verübt worden. Immer wieder kommt es zu Zusammenstößen, Besetzungen und Sabotageakten. Während Nichtregierungsorganisationen und Mapuche-Organisationen von einer Unterdrückung indigener Kultur, legitimer Gebietsansprüche und indigener Rechte sprechen, sehen regionale Unternehmer und Großgrundbesitzer kleine bewaffnete Gruppen von Terroristen am Werk. Um diesen beizukommen seien eine entschiedenere Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols bis hin zur Verhängung des Ausnahmezustandes in der Region nötig.

In Chile leben je nach unterschiedlichen statistischen Methoden zwischen 600.000 und 1,4 Millionen Mapuche. Etwa ein Drittel davon ist in der südlichen Region La Araucanía beheimatet. Über 20 Prozent der Bevölkerung bezeichnet sich dort als einer indigenen Gruppe zugehörig. Gleichzeitig gelten 35 Prozent der Bevölkerung in der Region als arm. Dies hängt mit einer extrem ungleichen Verteilung des Bodens zusammen. In Chile verfügt das eine Prozent der größten Bodenbesitzer 74,5 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche.

In der Araucanía wird diese Situation vor allem durch die Ausbreitung der Forstindustrie und infrastrukurelle Großprojekte – oft Staudammprojekte für die Energieproduktion – zusätzlich zugespitzt. Die Plantagen der Forstindustrie machen mehr als 15 Prozent der gesamten Fläche der Region aus. Für die ländliche Bevölkerung bedeutet dies neben dem Mangel an Land auch einen Mangel an Arbeitsplätzen und Wasser (da die schnell wachsenden Arten dem Boden große Mengen an Wasser entziehen) sowie eine hohe Waldbrandgefahr. Während ein Großteil der Nutzflächen der Araucanía den Monokulturen der großen Forstindustrie vorenthalten bleibt, fließen die Gewinne, die durch die industrielle Produktion von Zellstoff aus den zahllosen Bäumen gewonnen wird, nur zu einem äußerst geringen Bruchteil wieder in die Region zurück. Selbst die Steuern fließen an den Fiskus in der Hauptstadt Santiago.

Kleine Diebstähle und große Brände

Das schroffe Nebeneinander von rentablen transnationalen Wertschöpfungsketten und breiter sozialer Unsicherheit führt zu einer permanent konfliktiven Situation in der Region. Vor allem seit den späten 1990er Jahren begannen Mapuche-Organisationen wie die CAM (Coordinadora Arauco-Malleco) die sozialen Probleme mit der Forderung nach einem Anrecht auf ihr angestammtes Land (Wallmapu) zu verbinden. Die CAM stellt in den Augen regionaler Unternehmerverbände und der staatlichen Politik eine terroristische Vereinigung dar, die teilweise bewaffnet versucht, eine vom chilenischen Staat unabhängige Region durchzusetzen. Gleichzeitig hat der Protest der Mapuche nicht nur ganz unterschiedliche Organisationen hervorgebracht, sondern spielt sich auch auf sehr verschiedenen Ebenen ab. Einerseits berufen sich viele Angehörigen der Mapuche auf ein historisches Recht auf ihr Land – wie es auch das „Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker“ der ILO enthält. Andererseits hat sich ein Teil der Bewegung auch auf eine vorwiegend kulturelle Rückbesinnung auf die Traditionen und die Sprache der Mapuche konzentriert. Wird letzterer mit zunehmender Akzeptanz begegnet, treffen die sozialen Auseinandersetzungen in der Araucanía nach wie vor – auch unter den tendenziell linken Regierungen – auf harsche Repression. Immer wieder wird von Gewalttaten und Folter gegenüber Angehörigen der Mapuche berichtet.

Das autoritäre Durchgreifen der Behörden betrifft in hohem Maße auch die Proteste, die sich gegen die Forstindustrie richten. Dabei spielt inzwischen weniger das Inbrandsetzen von Plantagen als vielmehr die Zerstörung von Forstmaschinerie ein bedeutende Rolle. Laut einem Interview, das der chilenische Fernsehkanal TVN (Televisión Nacional de Chile) nach eigenen Angaben mit Vertretern der CAM führte, geht es den Aktivisten dabei darum, das Wallmapu (Land der Mapuche) vor den transnationalen und chilenischen Großunternehmen zu schützen.

Von einem der schlimmsten Attentate seit den späten 1990er Jahren sprachen einige Medien, als Mitte März an einem Tag 19 Fahrzeuge abgebrannt wurden. Dabei drohen den Tätern nicht nur lange Haftzeiten, sondern auch Gerichtsverfahren im Rahmen der unter Diktator Augusto Pinochet eingeführten Anti-Terrorismusgesetze. Zudem ist keineswegs immer klar, wer für die jeweiligen Anschläge wirklich verantwortlich ist. Obwohl in der Presse meist Bekennerschreiben von Mapuche-Gruppen auftauchen, bleibt umstritten, ob die jeweiligen Akte wirklich auf diese zurückgehen.

Eine besondere Eskalationsstufe erreichte der Konflikt durch den Tod eines Ehepaars im Jahre 2013. Die beiden Großgrundbesitzer verbrannten in der Folge einer Brandstiftung in ihrem Haus. Bis heute ist der Fall nicht aufgeklärt. Ende Mai dieses Jahres traten die Angeklagten, die für den Tod des Ehepaars verantwortlich gemacht werden, in den Hungerstreik. Sie werfen unter anderem der Staatsanwaltschaft vor, im Rahmen des Verfahrens Geständnisse zu erpressen.

Zu einiger Bekanntheit hat es auch ein Fall einer Mapuche gebracht, die während ihrer Haftzeit ein Kind gebar und angab während der gesamten Entbindung gefesselt gewesen zu sein. Die zweifache Mutter war verurteilt worden, Gegenstände aus einem Fahrzeug der Forstindustrie gestohlen zu haben.

Der Konflikt auf internationaler Ebene

Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) beobachtet einzelne Verfahren in Chile. Kürzlich beschäftigte sich die NGO mit der rechtswidrigen Festnahme und der Folter eines Mapuche-Aktivisten im vergangenen Jahr. Dass die Ermittlungen gegen die Verantwortlichen nun staatlicherseits eingestellt wurden, hält AI für ein fatales Signal. Dies stelle jenen einen Freifahrtsschein aus, die daran arbeiteten, kritische Stimmen abzuwürgen.

"Jahrzehnte der Diskriminierung haben eine tiefe Ungerechtigkeit und Ungleichheit hervorgebracht. Eine angemessene Anerkennung und ein Dialog sind unverzichtbar, vor allem in der Region der Araucanía, in Bezug auf die wir angesichts von Berichten über die exzessive Ausübung von Gewalt und anderer Missbräuche gegenüber Mitgliedern von indigenen Gruppen besorgt sind", sagte am 29. März dieses Jahres der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Zeid Ra’ad Al Hussein.

Während sich Al Hussein um die Rechte der Mapuche sorgt, beteuern die verschiedenen Unternehmen, die im Forstbereich arbeiten, dass sie die eigentlichen Opfer im Konflikt seien. Die Vertreter der Vereinten Nationen hätten nie mit den „wirklichen Opfern des Konfliktes“ gesprochen, so ein Vertreter des Transportsektors. Der Präsident der regionalen Bürgerwehr 'Paz en la Araucanía' (Frieden in der Araucanía) fügt hinzu, dass die UN verstehen müssten, dass der Staat eben auf seine Weise die Ordnung in der Region gegenüber den 'Terroristen' durchsetzen müsse.

Im Land, wo Bäume Menschen fressen

Im 16. Jahrhundert beschrieb Thomas Morus, wie die Durchsetzung von großen Schafsweiden gegen die Kleinbauern in England deren Verarmung hervorbrachte. Die Schafe seien, so der Autor, so gefräßig und wild geworden, dass sie begonnen hätten Menschen zu fressen und Länder, Häuser und Städte verwüsteten und entvölkerten. Derartige Worte, die die Vertreibung der einfachen Bevölkerung von ihren Ländereien vor langer Zeit bildlich machen, könnten auch die jüngste Geschichte des chilenischen Südens beschreiben. Während der Holz- und Forstsektor im Jahr 2015 Güter für mehr als sechs Milliarden US-Dollar exportierte, lebt die Mehrheit der Bevölkerung rund um die Plantagen in Armut. Damit heute junge Bäume rasch wachsen können, mussten die Mapuche, die einst dort wohnten, weichen. Eine Situation die notorisch einen zugespitzten sozio-kulturellen Konflikt stets von Neuem hervorbringt.

Die Aneignung von Weideflächen und Wäldern, die einst von der ländlichen Bevölkerung genutzt wurden, durch profitorientierte Privatunternehmen hat eine lange Geschichte. Was Karl Marx Mitte des 19. Jahrhunderts über die armen Holzsammler in der Pfalz schrieb, könnte auch jüngst über die Situation im südlichen Chile gesagt worden sein: "Man kann unmöglich auf elegantere und zugleich einfachere Weise das Recht der Menschen vor dem Recht der jungen Bäume niederfallen lassen."

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