Venezuela / Politik

"Venezuela steht nicht am Rande des Zusammenbruchs"

Gespräch mit dem Historiker und Politikwissenschaftler Steve Ellner über die venezolanische Krise und die bevorstehenden Parlamentswahlen

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Steve Ellner
Steve Ellner

In den internationalen Medien, aber auch hier in Venezuela selbst, ist sehr viel von der aktuellen Krise, von den Versorgungsengpässen und den Warteschlangen die Rede und man zeichnet das Bild eine Landes, das am Rande des Zusammenbruchs steht. Wie ernst ist die Situation?

Ich denke es gibt Übertreibungen bezüglich der Lage hier in Venezuela. Die Tatsache, dass die Berichte internationaler Medien so stark die Kommentare der Opposition wiedergeben, macht es einem Analysten oder einem Beobachter schwer, deren Übertreibungen zu korrigieren. Dabei handelt es sich nicht um Lügen, sondern um Halbwahrheiten.


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Was die Frage angeht, ob sich Venezuela am Rande des Zusammenbruchs befindet, so würde ich das definitiv mit Nein beantworten. Und der Beweis liegt darin: Im vergangenen Jahr, als es Proteste gab, die zum großen Teil von Jugendlichen aus der Mittelklasse ausgingen, von denen einige an Gewalthandlungen, andere an Aktionen zivilen Ungehorsams beteiligt waren, bei denen sie auf den großen Avenidas der Städte im ganzen Land stundenlang den Verkehr blockierten, bestand die Strategie der Opposition darin, Proteste in den Stadtvierteln zu schüren. Sie dachte, dass diese Proteste in den wohlhabendsten Gebieten der Mittel- und der Oberklasse eine Art Zündfunke für die breiten Volksschichten sein könnten. Aber das geschah nicht. Die Proteste beschränkten sich vor allem auf Bereiche wie den Osten von Caracas, der eine wohlhabende Gegend ist, und gelangten nicht in den Westen der Stadt, wo eher die gewöhnlichen Leute leben. Im Fall von Ciudad Guayana gab es auch in San Félix, wo eher die unteren Klassen angesiedelt sind, keine Resonanz. In Barcelona und Puerto La Cruz, in Anzoátegui, gab es vor allem Proteste in Lechería, wo der Bürgermeister ein wichtiger Führer der Opposition ist. Aber das Ganze breitete sich nicht sehr weit aus, weder auf die Seite von Barcelona noch auf die Seite von Puerto La Cruz. Beide Städte haben chavistische Bürgermeister.

Dies ist ein Beweis dafür, dass Venezuela nicht am Rande des Zusammenbruchs steht. Diese Warteschlangen, die für die Mehrheit der Menschen hier in Venezuela ziemlich schwierige Verhältnisse darstellen, könnten in einem anderen Szenarium leicht der Beginn massiver Proteste sein, die zu Unruhen und dann zu einem Staatsstreich oder etwas derartigem führen könnten. Das ist bisher nicht passiert.

Ein fundamentaler Bestandteil dabei ist, dass die Opposition die Versuche der Jahre 2002 und 2003 anführte, die Regierung von Hugo Chávez zu stürzen. In beiden Fällen kompromittierten sie bedeutende Sektoren der Streitkräfte, die danach die militärischen Institutionen und in vielen Fällen auch das Land verlassen mussten. Dies ermöglichte es dem Chavismus, sich in einigen Sektoren der bewaffneten Streitkräfte zu konsolidieren und, was vielleicht noch wichtiger ist, dass die Regierung die weniger vertrauenswürdigen Militärs identifizieren konnte. Im Grunde ging daraus die Situation hervor, die wir heute vorfinden, in der es einige Offiziere gibt, die den Veränderungsprozess politisch unterstützen, einen weiteren Sektor, der "institutionalistisch" ist, und vielleicht einige Offiziere, die gegen die Regierung eingestellt sein mögen. Dies unterscheidet sich sehr von der Situation Allendes in Chile, wo es einen institutionalistischen und einen putschistischen, aber keinen sozialistischen Sektor innerhalb der Streitkräfte gab.

Nun sind die Warteschlangen und der Mangel hier zu ziemlich heftigen Problemen geworden, und die internationalen Medien haben einen Großteil ihrer Berichterstattung über Venezuela auf diese Situation konzentriert. Ich lese zum Beispiel die New York Times und sehe CNN auf Spanisch, und da ist viel vom Problem der Warteschlangen die Rede und in diesem Sinne wird nicht übertrieben, sie befragen die Leute, die dort anstehen. Natürlich wird jemand, der mehrere Stunden Schlange stehen muss und nicht weiß, ob er das, was er möchte oder braucht auch bekommt, ganz unabhängig von seiner ideologischen oder politischen Überzeugung ziemlich verärgert sein.

Es ist aber sehr auffällig, dass diese Berichterstattung fast nichts über die Durchsuchungen der Lager sagt, die in einigen Fällen zu sehr großen Unternehmen gehören. So wurden zum Beispiel bei Herrera Hermanos, der exklusiven Vertriebsfirma der Produkte von Procter and Gamble, General Mills, Pfizer und anderer multinationaler Unternehmen, Lager mit Grundbedarfsgütern entdeckt, für deren Kauf die Menschen Schlange stehen und die wochenlang, in einigen Fällen monatelang, dort gehortet wurden.

Jetzt kann man natürlich fragen: "Warum lässt ein Händler ein Produkt solange Zeit in einer Lagerhalle?" Na, mir scheint jedenfalls, wenn es darum geht, ein Produkt zu verkaufen, das hier in Venezuela so knapp ist, dann gibt es keinen Grund, es länger als einen oder zwei Tage im Lager zu lassen, weil du es wie warmes Brot verkaufen kannst. Andererseits ist die Sache, wenn du es als Schmuggelware verkaufen willst, wenn du es als Schmuggelgut nach Kolumbien bringen willst, nicht so einfach. Du musst den geeigneten Moment abwarten, musst Fahrer, Fahrzeuge und falsche Papiere auftreiben und Beamte bestechen. Das könnte erklären, warum das Zeug so lange im Lager liegt. Es fällt auf, dass die internationalen Medien diesen Aspekt der Nachricht vollkommen ignorieren.

Deshalb sage ich, dass es sich um Halbwahrheiten handelt, was jedoch nach meiner Meinung eine völlige Falschmeldung darstellt ist, dass Venezuela am Rande des Zusammenbruchs stünde.

Wenn wir schon davon sprechen, Sie hatten bereits auch Chile erwähnt: Die Regierung redet viel vom Wirtschaftskrieg und man weiß, dass dies in Chile eine wichtige Sache war, um die Regierung von Allende zu stürzen. Was sind die Ursachen für die aktuelle Lage?

Das Problem des Mangels ist eine komplexe Erscheinung. Man könnte von Faktoren sprechen, die ein bisschen wichtiger sind als andere, aber es gibt verschiedene davon, die dabei in Betracht zu ziehen sind. Der Wirtschaftskrieg, so würde ich sagen, ist vermutlich einer davon. Ich sage vermutlich, weil ich zwar keine harten Beweise dafür habe, dass es ein Komplott gibt, aber ich habe sehr wohl Gründe dafür, zu denken, dass es sich um einen Faktor handelt. Erstens weil der Mangel eine Taktik war, die in vielen ähnlichen Situationen wie im Chile Allendes angewandt wurde. In jenem Fall war er eine Ursache für den Staatsstreich Pinochets. Er erzeugte ein Umfeld, das dem Putsch den Boden bereitete. Und es gibt auch noch andere historische Beispiele für Situationen, in denen Unternehmer eine Art Streik durchgeführt haben, einen Arbeitgeberstreik mit politischen Zielen.

Zweitens, weil dies hier in Venezuela genau das ist, was der wichtigste Unternehmerverband, Fedecámaras, angewandt hat, und zwar bei verschiedenen Gelegenheiten. Die wichtigste davon war der Erdölstreik des Jahres 2002/2003. Man erzeugte einen Mangel mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen. Weiter nichts, das war der Grund, das war das Ziel und niemand leugnet das. Das nächste Mal, als es ein Mangelproblem gab, war vor dem Referendum von 2007, das für den privaten Sektor sehr wichtig war. In den Monaten vor diesen Wahlen gab es eine ziemlich starke Knappheit an Gütern.

Drittens, weil ich Besitzer von kleinen und mittleren Unternehmen kenne, die mir sagen, dass sie keinen einziger Bolívar oder Dollar in ihr Geschäft stecken, der nicht absolut nötig wäre, weil sie dieser Regierung nicht helfen wollen. Wenn schon die Kleinen und Mittleren das sagen und tun, dann kann man sich vorstellen, dass die Großen das Gleiche machen, und zwar nicht nur aus individuellem Antrieb, sondern auf koordinierte Weise.

Ein weiterer Aspekt ist der Fall Sundde1. Das ist die Behörde, die damit beauftragt ist, die kommerziellen Verkäufe zu überwachen und die sehr viele Lagerhallen voller Waren entdeckt hat. Jetzt kann man natürlich sagen, dass es das Ziel der privaten Unternehmen ist, ihre Gewinne zu maximieren und dass der Schmuggel ein gutes Geschäft ist. Aber ich glaube, dass es da zwei Faktoren gibt: Natürlich streben die Unternehmer danach, Gewinn zu machen, wobei aber auch der politische Faktor seinen Einfluss hat. Im Fall von Herrera Hermanos gibt es eine Teilhaberin namens Peggy Quijada, eine führende Figur der radikalen Oppositionspartei Voluntad Popular, der Partei von Leopoldo López. Es gibt also schon Faktoren, die dieses Argument, dass es sehr wohl einen "Wirtschaftskrieg" gibt, bestärken.

Aber zuweilen konzentriert sich der Chavismus zu sehr auf diesen Faktor, als ob er der einzige wäre. Ich glaube, dass diejenigen Chavisten, die die Bedeutung des Marktes nicht anerkennen, einen Fehler begehen. Sie sehen den Markt als etwas künstliches, als einen Bestandteil des kapitalistischen Systems, und da das Ziel der Sozialismus ist, berücksichtigen sie ihn nicht. Ich glaube, das ist ein Irrtum, denn das Ziel mag der Sozialismus sein, aber die Wirtschaft ist weiterhin kapitalistisch und der Markt ist eine Realität. Wenn das Gefälle zwischen dem offiziellen Preis und dem Straßenpreis sehr groß ist, dann ist dies quasi ein Rezept für schwerwiegende wirtschaftliche Probleme.

Einer der Punkte ist, dass die staatlichen Betriebe, die in diesem Moment des Mangels eine wichtige Rolle spielen müssten, sich in einer nachteiligen Position befinden. Wenn die offiziellen Preise sehr niedrig sind, können die Staatsbetriebe ihre Funktion nicht erfüllen, weil alles, was sie produzieren, unter Verlust geschieht. Da ist zum Beispiel der Fall des Erdgases. Venezuela ist ein Land der fossilen Brennstoffe und es gab eine große Erwartung in Bezug auf die häusliche Erdgasversorgung. Es gibt Probleme mit der Gasverteilung. Wenn man nun sieht, dass der offiziellen Preis für Gasflaschen hier in Venezuela fast dem Benzinpreis entspricht, dass heißt sehr niedrig, um nicht zu sagen praktisch gratis ist, dann geschieht die Verteilung mit Verlust, man macht beim Verkauf des Produktes Verluste. Das ist zum großen Teil der Tatsache geschuldet, dass die staatlichen Unternehmen nicht besonders gut funktionieren. Aus diesem Grund sage ich, dass es verschiedene Faktoren gibt, die das Dilemma des Mangels erklären. Ein weiterer Faktor ist der Fall des Erdölpreises auf weltweiter Ebene, was natürlich auch zu Fehleinstellungen in der venezolanischen Wirtschaft führt.

Die Warteschlangen und die allgemeine Situation erzeugen eine große Unzufriedenheit, die es bei der Opposition immer gegeben hat. Aber man scheint auch in Sektoren des Chavismus größere Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation zu empfinden, vielleicht weil die Regierung aus verschiedenen Gründen als passiv wahrgenommen wird. Wir befinden uns erneut in einem Wahljahr, es wird Parlamentswahlen geben, und möglicherweise könnte die Opposition im Jahre 2016 ein Abwahlreferendum gegen Präsident Nicolás Maduro durchführen. Wie sehen Sie die Perspektive für das nächste Jahr auf wahltaktischer Ebene und in Bezug auf die Fortsetzung des politischen Prozesses?

Einerseits hat der Grad an Apathie, Enttäuschung oder Gleichgültigkeit, die an der chavistischen Basis existieren können, auch mit der langen Dauer des Chavismus an der Macht zu tun. Es gibt wenige Fälle in der Geschichte der Demokratie, in denen es einer Partei – sei es der Rechten, der Mitte oder der Linken – gelang, sich auf dem Wege von Wahlen so lange Zeit an der Macht zu halten. Natürlich dauert, wie Max Weber schon vor über 100 Jahren ausführte, der Enthusiasmus einer charismatischen Führung nicht ewig, sie muss sich notwendigerweise verändern und es ist schon aus physiologischen Gründen, aufgrund der Natur des menschlichen Wesens, praktisch unmöglich, einen Grad an Mut und Hingabe beizubehalten, wie er den Chavismus für so lange Zeit charakterisiert hat. Das ist wie im Fall einer Liebesbeziehung oder Ehe. Während der Verliebtheit herrscht Hochstimmung, aber das kann nicht für immer andauern, also muss es Veränderungen geben. Dieser Faktor wirkt sich unabhängig von den Fehlschlägen oder Erfolgen der Regierung auf die Politik aus.

Aber abgesehen davon gilt es zu berücksichtigen, dass die Situation, auch wenn es auf Seiten des Chavismus ein geringeres Maß an Enthusiasmus gibt, auf Seiten der Opposition sogar noch schlechter oder eher noch zugespitzter ist. Zunächst war die Niederlage der Guarimbas – der städtischen Unruhen – im Jahre 2014 ein Schlag für die Opposition. Die Führer der Opposition hatten den Leuten an der Basis zu verstehen gegeben, dass sie die Guarimbas von Februar 2014 bis April oder Mai durchhalten müssten, da der Sturz der Regierung unmittelbar bevorstehe. Hier war die Gewalt fürchterlich, die Barrikaden, die Toten, die Zerstörung öffentlichen Eigentums, die Angriffe auf kubanische Ärzte, etwa 150 kubanische Ärzte wurden attackiert, das war schrecklich. Die Führer versuchten, mittels der sozialen Netzwerke und anderen Medien die Basisgruppen zu überzeugen – "ihr müsst noch eine Woche durchhalten, Maduro macht es keine Woche mehr". Als dieser Plan scheiterte, machte sich natürlich ein Stadium der Apathie, der Enttäuschung und der Gleichgültigkeit auf Seiten der Opposition breit. Dieses Jahr ist das Problem des Mangels noch stärker als im vergangenen Jahr, aber die Opposition hat es nicht vermocht, ihre Basis in großer Zahl zu mobilisieren.

Es gibt hier an den Wänden Aufschriften, die besagen "23 de enero levántese, despiértese" (23. Januar erhebt euch, wacht auf). Der 23. Januar ist in Venezuela ein Tag von historischer Bedeutung, weil es an diesem Tag im Jahr 1958 zum Sturz der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez kam, ein symbolisches Datum. Die Chavisten mobilisierten ihre Leute für diesen Tag und die Opposition für den darauf folgenden 24. Und so etwas dient immer dazu, die Kräfte zu messen. Hier in Venezuela ist das Kräftemessen politisch gesehen sehr wichtig. Na, am 23. waren die Chavisten auf jeden Fall auf der Straße, und am 24. hatte die Opposition praktisch niemanden, was von den Führern der Opposition selbst zugegeben wurde. Das ist vom wählerischen Gesichtspunkt aus gesehen ein wichtiger Faktor, da die Meinungsumfragen zeigen, dass der Verlust an Unterstützung des Chavismus keine Verlagerung in Richtung Opposition bedeutet, sondern eine steigende Zahl derer, die hier als die "ni-ni", die Weder-Noch-Anhänger bezeichnet werden. Das bedeutet für die Wahlen, dass die Seite, die die Leute zu mobilisieren vermag, die Seite, die einen höheren Organisationsgrad erreicht, im Vorteil ist. Denn es handelt sich nicht um Leute, die bereits entschlossen sind, da viele Menschen sich erst in dem Moment entscheiden, wenn sie zur Abstimmung gehen.

Eine gut organisierte Partei hat in einem Szenarium dieser Art einen großen Vorteil. Die Opposition ist nicht gut organisiert. Wenn man die Avenida Fuerzas Armadas in der Stadt Barcelona in Richtung Flughafen entlangfährt, sieht man die Parteizentrale (im Staat Anzoátegui) der alten sozialdemokratischen Partei Acción Democrática, ein sehr großes Gebäude. Während der Vierten Republik war hier an jedem Tag der Woche alles voll, heute kommt man dort vorbei und die Tür des Gebäudes ist immer verschlossen. Ich glaube, ich habe in den letzten zehn Jahren niemand vor diesem Haus gesehen, das sich das Haus der "Partei des Volkes" nennt. Beim Gebäude der Copei, der alten konservativen Partei, ist es das Gleiche. Es steht im Zentrum von Barcelona und ist immer geschlossen. In diesem Sinne liegt der Vorteil auf Seiten des Chavismus.

Manchmal frage ich mich: Wenn die Opposition so sehr davon überzeugt ist, dass das chavistische Modell gescheitert ist, warum wartet sie dann nicht einfach ab? Zumindest, wenn du nicht daran glaubst, dass es Wahlbetrug gibt, den es meiner Meinung nach nicht gibt – dann bin ich zu 100 Prozent davon überzeugt, dass all das eine Erfindung einiger radikaler Sektoren der Opposition ist. Das Volk ist nicht unwissend, es kann kurzfristig getäuscht werden, wacht aber auf lange Sicht auf und das ist schon immer so gewesen. Dass es einen Erdölboom gibt, bedeutet nicht, dass eine Regierung mit falschen politischen Strategien Wahlen gewinnen wird. In den 1970er Jahren gab es einen Erdölboom, der sehr dem der letzten zehn oder 15 Jahre ähnelte, und trotzdem verlor der damalige Präsident Carlos Andrés Pérez die internen Wahlen der Acción Democrática und die Acción Democrática verlor die Präsidentschaftswahlen von 1978 – und das bei einem Erdölboom ohnegleichen in der Geschichte von Venezuela! Wenn du wirklich glaubst, dass das Modell gescheitert ist, warum wartest du dann nicht ab, anstatt an Aktionen wie den Guarimbas teilzunehmen oder sie zu unterstützen?

Ich habe eine Hypothese. Ich denke, dass die Opposition eine Vorgehensweise betreibt, den Weg der Wahlen und den Weg der Mobilisierungen zu vermischen – wohl wissend, dass hier im aktuellen politischen Kontext von Venezuela ein Aufruf zu massiven Protesten gegen die Regierung, ohne eine Reihe von konkreten Forderungen zu stellen, nur um gegen die Regierung zu protestieren, einzig zur Gewalt führt. Das weiß man von vorneherein. Man kann die Frage stellen, warum die Opposition, warum ihr Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles, zum Beispiel, im Februar dazu aufgerufen hat, dass die Leute auf die Straße gehen sollten, um dafür zu protestieren, sich den wirtschaftlichen Problemen des Landes zu stellen, ohne auch nur eine einzige Forderung zu erheben? Wenn Capriles zuvor vom Weg der Wahlen gesprochen hatte und sagte "wir werden die Parlamentswahlen Endes dieses Jahres gewinnen", warum hat er dann seine Meinung geändert? Ich glaube, dass ein Faktor dabei sein kann, dass die Opposition zwar weiß, dass der Chavismus an Punkten verloren hat, aber dass auch die Opposition an Punkten verloren hat und dass es aufgrund dessen sein kann, dass der Chavismus, unter allen Schwierigkeiten, die er hat, die Parlamentswahlen gewinnt. Die Opposition kann sich trotz der bestehenden Unzufriedenheit bezüglich der Ergebnisse der Wahlen nicht sicher sein.

Es könnte durchaus sein, dass der Chavismus gewinnt, aber bei einer großen Enthaltung?

Ganz sicher. Ich glaube, dass es in der Strategie der Opposition einen Aspekt gibt, der in ganz starker Weise die Aufmerksamkeit eines jeden Akademikers auf sich zieht, der die politische Situation hier in Venezuela analysiert. Die Akademiker und Analysten, die den Chavismus fast von Beginn an kritisieren, benutzten den Ausdruck der "plebiszitären Demokratie", um die Aussage zu treffen, dass der Chavismus keine demokratische Berufung besäße. In der plebiszitären Demokratie gewinnt der Demagoge die Wahlen, aber er tut dies in dem Sinne, dass das Wahlvolk zwischen einer Regierung, die ihm nicht gefällt, und einer unbekannten Alternative unterscheiden muss, anstatt eine Situation vorzufinden, in der es zwei Strömungen, zwei Parteien, zwei Leitplanken gibt und man die Planke wählt, der man am meisten zuneigt. In der plebiszitären Demokratie gibt es ein Element der Angst aus Unkenntnis. Wenn die Regierung verloren geht, wer weiß, was dann passieren kann? Es entsteht ein Vakuum und man weiß nicht, was dieses Vakuum füllen könnte.

Ich habe mich im Zuge meiner Schriften viel mit dieser These beschäftigt. Die Betrachtungsweise der plebiszitären Demokratie betrifft nicht nur eine Argumentation gegen den Chavismus, sondern auch gegen die so genannte "schlechte Linke", die von dem ehemaligen mexikanischen Politiker Jorge Castañeda, und in Venezuela auch von Teodoro Petkoff vertreten wird. Sie reden von "den Linken", davon, dass es eine "gute" und eine "schlechte" Linke gebe und dass die "schlechte" Linke plebiszitär sei. Castañeda wandte dieses Schema auf Bolivien und auf Manuel López Obrador in Mexiko an. Er hat in seinem Buch, das auf Englisch "Leftovers" heißt, ein Kapitel veröffentlicht, in dem er Andrés Manuel López Obrador anklagt, pebiszitär zu sein, weil er als Gouverneur zu einem Referendum aufgerufen habe. Wenn diese Argumentation die Kritik am Chavismus ausmacht, fällt auf, dass Henrique Capriles anlässlich der Kommunalwahlen von 2013 verkündete, dass diese Wahlen, abgesehen davon, dass sich die Gemeindewahlen auf lokale Themen konzentrieren müssten, ein "Referendum" oder ein Plebiszit über die nationale Regierung seien. Er ging davon aus, dass er die Stimmen der Opposition für sich gewinnen würde und dass dies bedeuten würde, dass das Volk gegen Maduro gestimmt habe.

Überall auf der Welt neigt eine Partei, die an der Macht ist, dazu, die Wahlen zum Abgeordnetenhaus zu verlieren, wenn es sich um die, wie man auf Englisch sagt, "mid-term elections"2 handelt. Obama hat auf drastische Weise die Kongresswahlen 2014 verloren, bei denen die Republikaner einen Durchmarsch erzielten. Aber abgesehen von einigen fanatischen Republikanern sprach niemand davon, dass Obama zurücktreten müsse. Das ist in den USA kein Thema, und dies noch viel weniger, wenn es sich um Wahlen auf Staats- oder Kommunalebene handelt. Dennoch war dies die Herangehensweise von Capriles und der venezolanischen Opposition und nun geschieht das Gleiche in Bezug auf die Wahlen zur Nationalversammlung.

Nehmen wir einmal an, dass die Opposition nach Prozentzahlen, sagen wir um fünf oder sechs Prozentpunkte, gewinnen würde, warum müsste eine derartige Niederlage einen Wechsel der nationalen Führung nach sich ziehen?


Steve Ellner unterrichtet seit 1977 Geschichte und Politikwissenschaften an der Universidad de Oriente (UDO) in Puerto La Cruz im Osten Venezuelas. Das Interview wurde im Februar 2015 in Puerto La Cruz geführt und im August aktualisiert.

  • 1. Superintendencia Nacional para la Defensa de los Derechos Socio Económicos: Nationale Aufsichtsbehörde zur Verteidigung der Sozio-ökonomischen Rechte
  • 2. Wahlen zur Mitte der Legislaturperiode
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