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Multinationale Polizeimission in Haiti wird zu einem Krieg gegen Minderjährige

Sicherheit hat sich weiter verschlechtert. Auftauchen neuer bewaffneter Akteure. Für Kinder ist zum Überleben Aufnahme bei Banden attraktiv

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Die haitianische Nationalpolizei wirbt in einem Film auf X mit ihrer Präsenz in den armen Vierteln (Screenshot)
Die haitianische Nationalpolizei wirbt in einem Film auf X mit ihrer Präsenz in den armen Vierteln (Screenshot)

Port-au-Prince. In den vier Monaten, seit die Multinationale Sicherheitsmission (MMS) für Haiti angelaufen ist, hat sich die Lage in dem Krisenland weiter verschlechtert. Dies zeigt ein Report des Büros der Vereinten Nationen in Haiti (Binuh), den die Einrichtung dem UN-Sicherheitsrat vorgelegt hat. Die Lage von Minderjährigen und Kindern hat sich verschärft.

Nach den aktuellen Zahlen wurden durch die Gewalt von kriminellen Banden, Aufständischen, Bürgerwehren, staatlichen Einsatzkräften und der von kenianischen Polizisten angeführten MMS von Juli bis September mehr als 1.740 Menschen getötet oder verwundet. Dies entspricht einem Anstieg um fast 30 Prozent gegenüber dem vorangegangenen Quartal. Gleichzeitig soll sich das Gebiet unter Kontrolle irregulärer Kräfte in der Hauptstadt Port-au-Prince von 80 auf 85 Prozent ausgeweitet haben.

Unter den im untersuchten Zeitraum Getöteten seien mindestens 669 Menschen, die bei Polizeieinsätzen gegen Banden getötet wurden. Drei Viertel der Opfer sollen mutmaßliche Bandenmitglieder gewesen sein, ein Viertel von ihnen Zivilisten. Die Informationen "deuten auf einen möglicherweise unverhältnismäßigen Einsatz von tödlicher Gewalt und fehlende Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei Polizeieinsätzen hin", so Binuh.

Indes erwähnt das UN-Büro das Auftauchen einer neuen bewaffneten Formation, einer "Brigade de Surveillance des Aires Protégées", die staatlicherseits, aber gesetzlich nicht vorgesehen gegründet worden ist. Verschiedene Medien berichteten zudem von der Anwesenheit von Söldnern einer privaten US-Sicherheitsfirma.

Fragen an Haitis präsidialen Übergangsrat (CPT) über deren Zweck blieben unbeantwortet. Der CPT bestätigte lediglich die Anwesenheit. Ein Termin zur Klärung des offiziellen Status' der Söldner auf höchster Ebene soll an Premierminister Garry Conille gescheitert sein.

Als weiterer Akteur auf diesem Schauplatz zunehmender Gewalt hat sich El Salvador angekündigt. Das Land mit einer laut Regierung erfolgreichen Bandenbekämpfung will Militär nach Haiti entsenden und hat dafür die Straflosigkeit seiner Einsatzkräfte formalisiert. Ein vom Parlament angestrebtes Abkommen für den Einsatz ist geheim, das Außenministerium sprach lediglich von "medizinischen Evakuierungsaktionen", die El Salvadors Streitkräfte durchführen sollen. Guatemala beabsichtigt, die Sicherheitsmission mit 150 Militärpolizisten aufzustocken.

Die US-amerikanische, international tätige NGO Human Rights Watch (HRW) schlug Anfang Oktober Alarm wegen der offensichtlichen Zunahme von Minderjährigen und Kindern bei den Kämpfen. Der Binuh-Bericht führt auf, dass im untersuchten Zeitraum staatliche Einsatzkräfte mindestens 106 außergerichtliche Tötungen vorgenommen hätten, denen auch sechs Kinder im Alter von zehn Jahren zum Opfer gefallen seien. Sie wurden beschuldigt, Informationen an Bandenmitglieder weitergegeben zu haben.

Binuh wie auch Medienberichte gehen davon aus, dass die "Banden" in jüngster Zeit "hauptsächlich" Kinder rekrutiert hätten und beurteilen dies als eine "Reaktion" auf den Beginn der Multinationalen Sicherheitsmission. Kinder dienten als Kundschafter, transportierten Waffen und Munition, nähmen jedoch auch an Kämpfen teil. Bis zu 50 Prozent aller Bandenmitglieder könnten aktuell Kinder sein.

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"Die katastrophale Lage in Haiti macht Kinder noch anfälliger für die Rekrutierung durch Banden", heißt es im Binuh-Bericht. "Der fehlende Zugang zu Bildung, Beschäftigung und Grundbedürfnissen schafft eine Situation, in der der Beitritt zu Banden als einzige Möglichkeit zum Überleben angesehen wird".

Human Rights Watch hebt hervor, dass die Banden für die von Hunger und Armut getriebenen Kinder attraktiv sind, um inmitten der sozialen und wirtschaftlichen Krise zu überleben. "Da es nur begrenzte Überlebensmöglichkeiten gibt, werden viele Kinder in Haiti von kriminellen Gruppen angezogen, wo sie in illegale Aktivitäten verwickelt werden und ernsthaften Risiken ausgesetzt sind", sagte Nathalye Cotrino, Krisen- und Konfliktforscherin bei HRW.

Die NGO zitiert unter anderem einen 16-Jährigen aus Haitis Hauptstadt, der sagte, er sei der Gruppe Village de Dieu beigetreten, als er 14 Jahre alt war. "Bevor ich beitrat, lebte ich bei meiner Mutter. Es war wirklich schwer, Essen und Kleidung zu bekommen", sagte er. "Zu Hause gab es kein Essen. Aber wenn ich bei [der Gruppe] war, konnte ich essen".

Die Organisation gibt Empfehlungen an die Behörden, um bei den Einsätzen von Sicherheitskräften einen besonderen Schutz für Minderjährige und Kinder sicherzustellen. Die Übergangsregierung solle sich "darauf konzentrieren, das Leben der Kinder zu verbessern, indem sie Schutz, Zugang zu lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen, einschließlich Bildung und rechtliche Möglichkeiten für ihre Rehabilitation und Wiedereingliederung, bietet".

Es gibt jedoch keinen Hinweis dafür, dass das von Anfang an hoch militarisierte Konzept der Multinationalen Sicherheitsmission zur Wiederherstellung der staatlichen Funktionen auf dem Gebiet Haitis in Frage steht. Das Auftauchen neuer bewaffneter Akteure deutet auf das Gegenteil hin.

In der haitianischen Öffentlichkeit äußerte sich von Beginn an Widerstand gegen die Einsetzung der MMS (amerika21 berichtete). Die Ablehnung argumentierte vor allem mit der Einschränkung der Souveränität des Landes und bezog sich auf die Erfahrungen mit dem katastrophalen Ausgang früherer ähnlicher internationaler Missionen.

Eine politische Repräsentanz von Kritikern der MMS in den Interimsinstitutionen Haitis war jedoch ausdrücklich ausgeschlossen (amerika21 berichtete), um einen rechtlichen Rahmen für die ausländische Intervention sicherzustellen.