Piñera kann Chile nicht beruhigen, bislang offiziell 15 tote Regierungsgegner

Proteste haben das ganze Land erfasst. Zugeständnisse können Bevölkerung nicht beschwichtigen. Brutale Repression durch Armee und Polizei

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Soldaten in Chile: Bei Protesten wurden bislang offiziell 15 Demonstranten getötet
Soldaten in Chile: Bei Protesten wurden bislang offiziell 15 Demonstranten getötet

Santiago de Chile. In Chile geht die Regierung von Präsident Sebastián Piñera mit zunehmender Härte gegen die andauernden Sozialproteste vor. Angefangen hatten sie Ende letzter Woche mit Demonstrationen und Aktionen von Schülern gegen die Erhöhung der U-Bahn-Preise in der Hauptstadt Santiago. Nach heftigen Polizeieinsätzen weiteten sich die friedlichen Demos zu einem landesweiten regelrechten Aufstand aus.

Am Samstag verhängte die Regierung den Ausnahmezustand und für Santiago eine Ausgangssperre, die bald auf andere Städte ausgeweitet wurden. Nach Angaben des Nationalen Instituts für Menschenrechte (INDH) sind im Zuge der Proteste mindestens 15 Personen ums Leben gekommen. Fünf von ihnen seien direkt von Polizei oder Militär erschossen oder erschlagen worden. Dies sind allerdings nur die bisher bestätigten Todesfälle. Auf sozialen Netzwerken kursieren nicht verifizierbare Videos von leblosen Menschen, die von Militärs in Fahrzeuge verfrachtet werden. Auch wurden Meldungen von Bürgern verbreitet, die ihre Angehörigen vermissen.

Präsident Piñera hatte zwischenzeitlich verkündet, man befinde sich im "Krieg gegen einen mächtigen Feind". Er bekräftigte, weiter auf das Militär zu setzen. Doch weder diese markigen Worte, noch die Ankündigungen zaghafter Reformen führten zu einem Abflauen der Proteste im ganzen Land.

Auch wenn Santiago weiterhin das Zentrum der heftigen Auseinandersetzungen bleibt, finden in ganz Chile Demonstrationen statt. In der nördlichen Hafenstadt Antofagasta, wo am Dienstag dieser Woche der Ausnahmezustand sowie eine Ausgangssperre verlängert wurden, finden trotz des Verbots täglich Demonstrationen mit mehreren tausend Teilnehmern statt. Gleichzeitig wurde der Ausnahmezustand auf die Städte Calama, Tocopilla und Mejillones ausgeweitet.

Die Arbeiter der größten Kupfermine der Welt, Chuqicamata in der Nähe von Calama, kündigten an, am Mittwoch und heutigen Donnerstag in den Streik zu gehen. Sie folgen damit einem Aufruf zahlreicher Gewerkschaften zum Generalstreik an diesen beiden Tagen. Die Gewerkschaften der Mine rieten den Arbeitern, nicht persönlich zur Mine zu gehen, da "das Militär und die Ordnungskräfte ohne Unterschied auf alle Leute schießen".

Auch in den Zwillingsstädten La Serena und Coquimbo, rund 400 Kilometer nördlich von Santiago, kommt es täglich zu Demonstrationen. Dort gelten nach wie vor Ausnahmezustand und Ausgangssperre. Das heißt, das Militär hat auch hier die Kontrolle über die "öffentliche Sicherheit" übernommen. Was das bedeutet, wurde schon am Sonntag deutlich: Soldaten erschossen Romario Veloz Cortez (26), das erste offiziell bestätigte Todesopfer staatlicher Gewalt dieser Tage. Seine Tante sagte zur Tageszeitung La Tercera: "Er demonstrierte inmitten all des Chaos und sie schossen auf ihn und seine Freunde. Er war eine fröhliche Person, ihm gefiel Musik. Es tut uns weh." Veloz Cortez studierte in La Serena Automechanik und war in der Stadt bekannt, weil er auf den verschiedenen Plätzen beatboxte, um sich so etwas Geld dazu zu verdienen.

Auch im Süden des Landes kommt es dieser Tage zu zahlreichen Demonstrationen. So etwa in Curicó, rund 200 Kilometer südlich von Santiago. Obwohl dort kein Ausnahmezustand verhängt wurde, erschossen auch hier Militärs einen jungen Demonstranten. Nach Augenzeugenberichten war José Miguel Uribe Antipani (25) auf dem Rückweg von einer Demonstration, als ihm ein Soldat in den Brustkorb schoss und zwei weitere Menschen verletzte. Der junge Mann lebte eigentlich in Santiago und war, um dem Ausnahmezustand dort zu entkommen, zu seiner Familie gefahren.

In der Hauptstadt der Region Araucanía wurden Demonstrationen von der Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen angegriffen. In Temuco und der ganzen Region sind besonders viele Polizisten stationiert, da der chilenische Staat hier aggressiv gegen die sich organisierenden indigenen Mapuche vorgeht. Die Polizei setzte dort so viel Tränengas ein, dass der Direktor des örtlichen Krankenhauses die Polizei ermahnte, dies zu unterlassen, da die Patienten gefährdet seien.

Verschiedene Mapuche-Organisationen riefen nach einer Versammlung in einer gemeinsamen Erklärung zur Solidarität mit den Protesten auf: "Wir solidarisieren uns mit den Studenten, Arbeitern, Familien und sozialen Organisationen, die spontan beschlossen haben, ihre Empörung auf dem gesamten Staatsgebiet zum Ausdruck zu bringen. Wir rufen zum Aufbau einer neuen Gesellschaft auf; wir Mapuche haben bereits unsere Ziele dargelegt."

Auch in den Städten Concepción, Valdivia, Puerto Montt, im patagonischen Punta Arenas, im äußersten Norden in Iquique und Arica, selbst in kleinen Dörfern wie Neltume gibt es Demonstrationen mit hunderten bis zehntausenden Teilnehmern.

Wenn sich Piñera in einem Krieg befinden sollte, führt er ihn gegen das ganze Land. Und er ist dabei, ihn zu verlieren.