Chile hebt Urteil gegen Flüchtling der Sekte Colonia Dignidad auf

Ehemaliger Bewohner der deutschen Foltersiedlung war mehrfach geflohen. Nach Flucht nach Deutschland kämpfte er für die Rechte der Opfer

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Chilenischer Zeitungsartikel aus dem Jahr 1967
Chilenischer Zeitungsartikel aus dem Jahr 1967

Santiago de Chile. Die zweite Kammer des Obersten Gerichtshofs in Chile hat diese Woche in einem seltenen Vorgang ein Unrechtsurteil gegen Wolfgang Kneese aus dem Jahr 1967 aufgehoben. Damit wurde der damals wegen "Beleidigung und Verleumdung" zu fünf Jahren Haft verurteilte ehemalige Bewohner der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad über fünfzig Jahre nach seiner erfolgreichen Flucht vollständig rehabilitiert.

Kneese war das erste Koloniemitglied, dem nach zwei erfolglosen Versuchen in den Jahren 1962 und 1963 im Februar 1966 eine Flucht aus dem umzäunten und gut bewachten Gelände gelang. Er informierte die chilenischen Behörden und bundesdeutsche Diplomaten über die menschenrechtswidrigen Zustände in der Sektensiedlung. Kneese berichtete über Freiheitsberaubung, körperliche Gewalt und mysteriöse Todesfälle, Ruhigstellung durch Psychopharmaka und den systematischen sexuellen Missbrauch an Koloniebewohnern durch den Sektenführer Paul Schäfer. Die Colonia-Dignidad-Führung zeigte Kneese daraufhin wegen Verleumdung an und erreichte eine Verurteilung zu fünf Jahren Haft.

Wolfgang Kneese (damals: Wolfgang Müller) konnte sich vor Haftantritt in die Bundesrepublik absetzen, wo er seitdem die Verbrechen der Colonia Dignidad anprangerte und Aufklärung forderte. Er war Mitgründer der Vereine "Not- und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad" sowie "Flügelschlag e.V." und unterstützte den chilenischen Menschenrechtsanwalt Hernán Fernández in seinem Kampf gegen die Sekte. Fernández hatte einen entscheidenden Anteil an der Festnahme von Paul Schäfer in Argentinien im Jahr 2005.

Für ihren unermüdlichen Kampf für die Aufklärung der Verbrechen der Colonia Dignidad wurden Wolfgang Kneese und Hernán Fernández im Jahr 2006 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Beide halten die bisher erfolgte Aufklärung der Verbrechen der Colonia Dignidad seitens der chilenischen und deutschen Justiz jedoch für ungenügend und fordern bis heute eine Intensivierung der strafrechtlichen Aufarbeitung seitens der deutschen und der chilenischen Justiz.

Viele der Mittäter von Paul Schäfer sind in den letzten Jahren in die Bundesrepublik zurückgekehrt. Die hiesige Justiz hat trotz jahrzehntelanger Ermittlungen jedoch noch nie eine Anklage gegen Täter der Colonia Dignidad erhoben. In der vergangenen Woche entschied das Landgericht Krefeld jedoch, dass eine in Chile gegen das ehemalige Führungsmitglied Hartmut Hopp verhängte Haftstrafe in Deutschland vollstreckt werden kann. Die in Berlin ansässige Juristen- und Menschenrechtsorganisation European Center für Constitutional and Human Rights hatte diese "überfällige Entscheidung" begrüßt. "Damit leistet die deutsche Justiz eine erste minimale Unterstützung der chilenischen Justiz in der Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad, insbesondere der Vergewaltigung und des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen", heißt es in einer Mitteilung der Organisation. Wolfgang Kaleck, ECCHR-Generalsekretär, forderte die Staatsanwaltschaft Krefeld zugleich auf, "auch das separate Ermittlungsverfahren gegen Hartmut Hopp verstärkt fortzuführen". Neben den Taten innerhalb der Colonia Dignidad gehe es um seine Rolle als Kontaktperson zum chilenischen Geheimdienst DINA während der Militärdiktatur.

Angehörige von Verschwundenen und ermordeten politischen Gefangenen und Opfern der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile äußerten indes die Befürchtung, Hopp könne sich durch Flucht erneut seiner Strafe entziehen. Myrna Troncoso, Koordinatorin der Angehörigenorganisationen der Region Maule in Chile, begrüßte die Entscheidung des deutschen Gerichtes, forderte die Justizbehörden jedoch auf, Hopp umgehend in Haft zu nehmen, da er sich bereits früher der Strafe entzogen hat: "Wir wissen, dass er über gefälschte Dokumente, Geld und Unterstützernetzwerke verfügt, die er erneut nutzen könnte, um zu fliehen".