Ernüchterung und Hoffnung nach Initiative des Außenamtes zur Colonia Dignidad

Gemischte Reaktionen nach Rede von Außenminister Steinmeier zur deutschen Rolle in dem Fall. Viele Fragen bleiben offen, Effizienz des Vorstoßes unklar

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Außenminister Steinmeier (SPD) bei seiner Rede über die Colonia Dignidad, Chile
Außenminister Steinmeier (SPD) kündigte bei seiner Rede über die Colonia Dignidad in Chile einen erleichterten Zugang zu den Archiven an

Berlin. Opfer der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile und Menschenrechtsaktivisten haben verhalten auf eine Initiative von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) reagiert, die Rolle der westdeutschen Diplomatie in diesem Fall aufzuklären. Der Vorstoß des Auswärtigen Amtes wurde zwar grundsätzlich begrüßt, jedoch bezweifelten mehrere Experten die Effizienz der Maßnahmen.

Steinmeier hatte am Dienstagabend eine teilweise Öffnung der Archive zur Rolle der westdeutschen Diplomatie bei den Verbrechen in der Colonia Dignidad in Chile angeordnet. Normalerweise betrage die Sperrfrist für Dokumente 30 Jahre, sagte Steinmeier. Er habe unter dem Eindruck der aktuellen Debatte aber entschieden, diese Frist um zehn Jahre zu verkürzen. So sind nun auch Dokumente aus dem politischen Archiv des Auswärtigen Amtes bis Mitte der 1990er Jahre einsehbar, zuvor waren alle Akten ab 1986 bis heute gesperrt. "Damit machen wir die Akten der Jahre 1986 bis 1996 für Wissenschaftler und Medien zugänglich," so der Minister. Bereits in der letzten Woche hatte das Amt unter anderem über das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" und die Wochenzeitung "Zeit" eine Transparenzoffensive angekündigt.

Vorsichtig optimistisch zeigte sich nach der Steinmeier-Rede vor rund 400 Gästen der deutsch-chilenische Rechtsanwalt Winfried Hempel, selbst ein Opfer des Terrorregimes der Colonia Dignidad. "Mit dieser Rede wurde ein kleines Fenster geöffnet", sagte Hempel gegenüber amerika21: "Wir müssen nun alles daran setzen, dieses kleine Fenster zu einer großen Tür zu verbreitern." Kritischer äußerte sich der Berliner Jurist und Menschenrechtsaktivist Wolfgang Kaleck: "Diese Initiative kommt zu spät und das ist zu wenig", sagte er. Nach dem Vorstoß Steinmeiers blieben viele Fragen offen. Der Forscher Jan Stehle, der seit Jahren zum Thema Colonia Dignidad recherchiert, zeigte sich ratlos: "Wir reden hier über mindestens 400 dicke Aktenbände", sagte er, "ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, wer das auswerten soll."

Bei seiner Ansprache im Weltsaal des Auswärtigen Amtes hatte Steinmeier zuvor erstmals deutliche Worte zum Terrorregime der Colonia Dignidad gefunden und dabei auch die Unterstützung durch die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland offen kritisiert. Die Art und die Präsentation dieser Abrechnung war nach übereinstimmender Meinung der Anwesenden ein Novum in der Haltung des Außenamtes zu dem Thema. "Der Umgang mit der Colonia Dignidad ist kein Ruhmesblatt, auch nicht in der Geschichte des Auswärtigen Amtes", so Steinmeier. Bis in die achtziger Jahre hätten deutsche Diplomaten "bestenfalls weggeschaut". Als Sektenchef Paul Schäfer 2005 festgenommen wurde und sein Regime zerfiel habe "das  Amt die notwendige Entschlossenheit und Transparenz vermissen lassen, seine Verantwortung zu identifizieren und daraus Lehren zu ziehen." Auf diese mangelnde Transparenz hatte auch amerika21 in der Berichterstattung mehrfach hingewiesen.

Trotz der Kehrtwende in der Politik des Auswärtigen Amtes gegenüber den Verbrechen der Colonia Dignidad bleiben mehrere Fragen offen:

  • Die Öffnung der Archive: Die Akten aus dem politischen Archiv des Außenamtes werden weitere zehn Jahre als bisher zugänglich sein. Zwanzig weitere Jahre fehlen aber. "Und damit gerade die jüngeren Dokumente, die dazu dienen könnten, innerhalb der gesetzlichen Verjährungsfrist gegen Täter aktiv zu werden", merkte Anwalt Hempel an. Von einer "Freigabe der Akten", von der das Auswärtige Amt spricht, kann keine Rede sein;
  • Die Art der Archive: Zugang wird nur für einen Teil der Außenamtsarchive möglich sein. Die wichtigen Akten anderer Bundesbehörden, vor allem des Auslandsgeheimdienstes BND, bleiben unter Verschluss;
  • Die Finanzierung der Forschung: Auch wenn es sich nur um einen Teilzeitraum handelt, ist der Umfang der Außenamtsakten mutmaßlich enorm. Colonia-Dignidad-Forscher Stehle geht von mindestens 400 Aktenbänden aus. Eine Finanzierung ihrer Auswertung – wie etwa bei der von Ex-Außenminister Joschka Fischer veranlassten Erforschung der Nazi-Geschichte des Auswärtigen Amtes – sagte Steinmeier nicht zu;
  • Die Hilfe für die Opfer: Bei einer Podiumsdiskussion nach der Steinmeier-Rede mahnte Colonia-Dignidad-Opfer Anna Schnellenkamp in flehendem Ton Hilfe für die Opfer an: "Wir brauchen dringend professionelle Unterstützung in Therapie und Pflege", sagte sie an Steinmeier gewandt. Vor allem die Alten benötigten nach jahrelanger Sklavenarbeit eine soziale Absicherung. Zugesagt wurde nichts davon. Außenamtssprecher Martin Schäfer wich zwei Fragen nach entsprechenden Maßnahmen aus;
  • Die Strafverfolgung der Täter: Die Menschenrechtsaktivisten Dieter Maier und Wolfgang Kneese wiesen mehrfach auf den "schwer erträglichen Umstand" hin, dass zahlreiche ehemaligen Folterer und Regimehelfer in Deutschland von der Justiz unbehelligt leben. "Wir können uns das langsam nicht mehr erklären", so Maier.

Ungeachtet dieser Kritikpunkte zeigten sich Opfer und Menschenrechtsaktivisten am Dienstagabend erleichtert. Nach Jahren der Blockade durch Auswärtiges Amt und Bundesregierung werde nun endlich etwas unternommen. Und sei es symbolisch.

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