Venezuela / Politik

Interview mit Gewerkschafter Perez Borges

Kampf für ArbeiterInnen-Macht und gegen Bürokratie in Venezuela

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Stalin Perez Borges
Stalin Perez Borges

Stalin Perez Borges ist langjähriger trotzkistischer Aktivist, gehört der Leitung des venezolanischen Gewerkschaftsbundes UNT an und gehört zu einer linken Strömung, die sich Marea Clasista y Socialista nennt und in der sozialistischen Partei von Präsident Hugo Chávez, der PSUV, arbeitet. Stalin Perez hat am 16. Weltkongress der IV. Internationale als Beobachter teilgenommen und gab dort der Avanti folgendes Interview.

Kannst du kurz deine Organisation Marea Clasista vorstellen, eure Arbeit, euren Einfluss und eure politischen Ziele?

Wir sind eine Strömung, die ursprünglich in der Einheitsgewerkschaft Union Nacional de Trabajadores (UNT) entstanden ist. Doch heute stellen wir eine politische Strömung innerhalb der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) dar. In der Vergangenheit waren wir ein Teil der Mehrheitsströmung dieser Einheitsgewerkschaft, welche auf ihrem zweiten Kongress dann beschlossen hat, sich als politische Strömung zu gründen. Daraufhin hat die Mehrheit innerhalb von Marea Clasista sich dafür entschieden der damals neugegründeten Vereinigten Sozialistischen Partei beizutreten. Dies führte allerdings zu Schwierigkeiten innerhalb der Organisation, weil es eine Minderheit gab, die nicht beitreten wollte, was dann zu einer Spaltung geführt hat. Heute gibt es daher zwei Organisationen. Diese zweite Minderheitsströmung nennt sich Vereinigte Revolutionäre Autonome Klassen-Strömung (C-CURA) und steht heute außerhalb der Vereinigten Sozialistischen Partei. Inzwischen übernimmt diese Gruppe Positionen, welche teilweise mit denen der Rechten übereinstimmen. Wir als Marea Clasista arbeiten innerhalb der Sozialistischen Partei, was uns allerdings nicht davon abhält, und das ist für uns auch möglich, in dem Moment, da die Regierung oder der Präsident etwas Falsches macht, das auch offen zu sagen und zu publizieren. Wir haben eine sehr starke Verankerung unter den ArbeiterInnen. So werden wir in einigen Bundesstaaten von der Mehrheit der Beschäftigten im öffentlichen Dienst und den gewerkschaftlich organisierten Bauarbeitern unterstützt. In einigen Bundesstaaten sind wir auch im Metall- und Erdölsektor stark verankert, so z.B. unter den Arbeitern des großen verstaatlichten Stahlwerks SIDOR im Bundesstaat Guayana. Wir haben mit Marea Clasista in der letzten Zeit einen qualitativen Sprung nach vorn gemacht. So konnte z.B. in Caracas durch gezielte Aufbauarbeit die Gruppe der Kader von 7 auf 70 erweitert werden. Für uns ist das vor allem auch deswegen ein qualitativer Sprung, weil es große Fortschritte in der Gewinnung von Jugendlichen und von gut ausgebildeten Genossen gibt.

Der revolutionäre Prozess in Venezuela entwickelt sich jetzt seit über 11 Jahren. Was ist die Situation heute, welche Probleme gibt es?

Dieser Prozess hatte ja eine langsame Aufstiegsphase und entwickelte sich im Wesentlichen positiv. Der Prozess wurde vor allem durch den Präsidenten Chávez losgetreten, der zunächst einmal als der hervorragende Vertreter eines dritten Weges galt und sich jetzt offen als Sozialist bezeichnet. Chávez hat durch die ungeheure Popularität, die er genießt, dazu beigetragen, dass Zehntausende von ArbeiterInnen heute den Sozialismus tatsächlich als eine Alternative sehen. Eigentlich begann der Prozess erst richtig im Jahr 2003, nach dem gescheiterten Putsch der Rechten. Durch die Ereignisse wurde Chávez dann sozusagen bestätigt und anschließend begannen die Maßnahmen der Verstaatlichungen und Enteignung ausländischer Unternehmen, wenn auch mit Entschädigungen. Grundsätzlich war dies ein positiver Schritt und heute verfügt der Staat in bedeutenden Sektoren der Wirtschaft über Staatsunternehmen, z.B. im Erdölbereich, im Elektrizitätsbereich und im Telekommunikationsbereich. Wenn man die letzten elf Jahre Revue passieren lässt, muss man sagen, dass es unter dem Strich bis heute eine positive Bilanz der Regierung gibt. Diese hat die Enteignungen und andere Maßnahmen in dieser Richtung durchgeführt. Allerdings muss man auch festhalten, dass, als die Unternehmen in Staatsbesitz übergegangen sind, sich eine Bürokratie entwickelt hat, welche sich teilweise auch jetzt schon gegen die ArbeiterInnen richtet. Die Popularität des Präsidenten ist in der letzten Zeit daher stark zurückgegangen, auch wenn er in den Umfragen immer noch mit etwa 65 % Zustimmung rechnen kann. Es gibt auch Ereignisse, wie jetzt die Rationierung von Elektrizität, die sehr negativ von der Bevölkerung wahrgenommen werden, weil es so etwas vorher eigentlich nie gegeben hat. Venezuela verfügt eigentlich über eine ausgesprochen hohe Stromerzeugung. Aber es gab in den letzten 30-40 Jahren viele Fehlentscheidungen seitens der Regierungen in diesem Bereich, was jetzt zu den Versorgungsproblemen geführt hat. Das sind Dinge, die eigentlich nicht passieren müssten. Seit 2-3 Jahren haben unsere Genossen, die Mitglieder in der Elektrizitätsgewerkschaft sind, vorausgesagt, dass diese Probleme sich entwickeln würden. Sie haben dies auch den staatlichen Stellen gemeldet. Allerdings ist von der Regierungsseite, also von den staatlichen Stellen, die die Elektrizitätsversorgung verwalten, nichts dagegen unternommen worden. Aufgrund all dieser negativen Entwicklungen besteht durchaus die Gefahr, dass im September bei den Parlamentswahlen die PSUV nicht gewinnt, oder wenn, dann nur sehr knapp. Dies könnte für den Präsidenten ein Problem werden, denn dann könnte so etwas passieren wie in Honduras, wo das Parlament den Präsidenten absetzt, oder gegen ihn ein Gerichtsverfahren eröffnen lässt und derartige Dinge. Die Gefahr beruht darauf, dass in Venezuela nach der Verfassung das Parlament die Kontrolle über die Judikative hat, also über das Gerichtswesen, und nicht der Präsident. Das ist ein Instrument, das einmal eingeführt worden ist, um Putsche von Präsidenten zu vermeiden. Etwas Vergleichbares gibt es auch in Brasilien.

Was ist deiner Meinung nach der nächste große Schritt auf dem Weg zum Aufbau des Sozialismus in Venezuela? Ist es die Entwicklung der consejos comunales (Räte der kommunalen Selbstverwaltung) oder der Ausbau der Arbeiterselbstverwaltung in den Fabriken?

Das, was wir als Marea Clasista fordern, ist eigentlich nicht ein Schritt, sondern es ist eine Kombination aus zwei Forderungen: Ausbau der Volksmacht und Ausbau der Arbeiterselbstverwaltung. Wir glauben, dass der Schlüssel im Ausbau der Arbeiterselbstverwaltung liegt, wie auch im Bereich der Städte oder Stadtviertel und auch auf dem Land. Wir kommen zu dem Schluss, dass das größte Problem, was die bolivarianische Revolution hat, die Korruption ist. Die Korruption hat dazu geführt, dass in den letzten Jahren eine neue Art Bourgeoisie, eine Boliburgesia (bolivarianische Bourgeoisie), entstanden ist, die sich aus den Früchten dieser Korruption ernährt und die in der Staatsbürokratie sitzt. Dies führt seit ca. einem Jahr zu einer Demotivierung der Menschen. Die bedeutendste Konzentration von Arbeitern ist in der Industrie im Bundesstaat Guajana, wo es eine wichtige Minen- und auch Verarbeitungsindustrie von Aluminium, Eisen und anderen Metallen gibt. Die Arbeiter dort waren immer sehr kämpferisch, hatten eine gute gewerkschaftliche Organisierung und konnten daher in der Vergangenheit auch gewisse Errungenschaften durchsetzen. Seit dem Ausbruch der weltweiten Krise sollten diese Errungenschaften zurückgefahren werden, wobei es zu einem großen Widerstand seitens der Arbeiter kam. Sie entwickelten einen Plan, nach dem bis 2015 eine sozialistische Umgestaltung der Industrie durchgeführt werden müsste, dass also alle Unternehmen in Arbeiterhand übergeben werden sollten. Dieser Plan wurde bis heute von der Bürokratie und der Technokratie in den Betrieben hintertrieben. Es ist jetzt ein Jahr vergangen und es ist seitens der Regierung nichts passiert. Das ist unser Kampf und das ist der Weg. Die Kontrolle der öffentlichen und der privaten Unternehmen muss in die Hände der ArbeiterInnen gehen. Meines Erachtens ist dies der einzige Weg, den es geben kann - die Unternehmen in die Hände der ArbeiterInnen und die Staatsmacht in die Hände der kommunitären Selbstverwaltung, der Volksmassen. Und wenn dieser Weg nicht gegangen wird, dann wird der bolivarianische Prozess zum Stehen kommen und sich umdrehen.


Dieses Interview wurde zuerst in Avanti - Zeitung des rsb veröffentlicht. Das Original finden Sie hier. Wir bedanken uns bei der Avanti-Redaktion für die freundliche Übernahmegenehmigung.