Staatssozialismus auf Ölbasis?

Verstaatlichungen oder "nacionalizaciones" haben in Lateinamerika eine lange Tradition, sind aber an sich keine Zauberformel zur Überwindung der ökonomisch prekären Verhältnisse.

Die Verstaatlichungen von Minen, Land-, Forst- oder Ölwirtschaft ereigneten sich in Lateinamerika während der letzten Jahrzehnte bestenfalls im Kontext eines bürgerlich- demokratischen Staatsumbaus und verliefen äusserst widersprüchlich: Sie suggerierten einerseits ein befreiendes "nationales Volksgefühl " gegen das US-Imperium und die einheimischen Oligarchien, das zunächst die Möglichkeit zu eröffnen schien, die jahrhundert lange Plünderungs-, Ausbeutungsund Demütigungsspirale zu durchbrechen. Unter den Bedingungen staatlicher Ineffizienz beziehungsweise Korruption war man aber andererseits kaum in der Lage, eine wirkliche Zäsur in Wirtschaft und Gesellschaft einzuleiten. Was blieb, waren "Parolen, nur die Parolen ", spottete der 1981 ermordete bolivianische Sozialist Marcelo Quiroga in seinem 1982 posthum erschienenen Buch Oleocracia o Patria (Ölherrschaft oder Vaterland). Hinsichtlich des "Aufbaus des Sozialismus im 21. Jahrhundert", den Hugo Chávez auf den Plan rief, soll es nun anders werden. Am 1. Mai 2007 sprach der venezolanische Caudillo vom "Ölsozialismus" angesichts der Verstaatlichung der Ölfelder im 140 Quadratkilometer grossen Orinoco-Gürtel im Osten des Landes, wo die astronomische Menge von 235 Milliarden Barrel (mit den Reserven Saudi-Arabiens vergleichbar) vermutet wird. Das verspricht blühende Zeiten eines auf kapitalistischen "Öldollars" beruhenden Reichtums, mit dem der Sozialismus aufgebaut werden soll.

Suggerierte Befreiung

Ob dieser Sozialismus auf Öl nur eine nationalistische Farce darstellt, wie die KritikerInnen des "Chávismus " sagen, oder ob der Verstaatlichungskurs die "materielle Basis" einer neuen Gesellschaft bildet, steht noch in den Sternen. Während die kubanische "Prensa Latina" Chávez" jüngste Verstaatlichung als unbeirrbaren Weg zum Sozialismus feiert, sind ihre KritikerInnen äusserst skeptisch: "Wenn der Präsident davon spricht, dass gerade aus dem Orinico-Gürtel dem Imperium der Dolchstoss ins Herz versetzt werden soll, so ist das nur ein Possenspiel. Denn Orinoco wurde bereits vor zwei Jahren den Interessen des globalen Kapitals preisgegeben", zitiert Humberto Márquez den linken Wirtschaftsprofessor Víctor Poleo aus der Universidad Central de Venezuela in einem Artikel vom 2. Mai 2007 im IPS (Inter Press Service News Agency). Hatte Lenin 1920 die Parole "Kommunismus als Sowjetmacht plus Elektrifizierung" ausgegeben, die in der historischen Folge nur als Elektrifizierung und Stalinscher Staatsterrorismus aufging, so spricht Chávez 2007 vom "Sozialismus als Staatsmacht plus Öl". Von Skepsis ist jedenfalls hier nicht die Rede. Der proklamierte, nicht der abwägende Diskurs bestimmt weiterhin das politische Credo des Venezolaners.

Reichtümer des Staates

Weltweit führten Verstaatlichungen der Ölreichtümer jedenfalls nicht zum Sozialismus. Mexiko verstaatlichte das Erdöl bereits 1938, in Indonesien erfolgte die Verstaatlichung 1965, in Bolivien 1969, in Algerien 1971, im Irak und in Libyen 1973, in Venezuela während der ersten Präsidentschaft von Carlos Andrés Pérez 1975, woraus 1976 das grösste, aber nur bedingt effiziente Staatsunternehmen PDVSA (Petroleros de Venezuela S. A.) hervorging, das nun auch das ökonomische Herzstück von Chávez" Staatssozialismus sein soll.

Auch Boliviens Verstaatlichung der Ölindustrie 1969 durch die linksnationalistische Regierung von Alfredo Ovando, die nur die politische Folge des Traumas von Che Guevaras Ermordung im Jahr 1967 war, scheiterte am ineffizienten staatlichen Ölunternehmen YPFB. Die Verstaatlichung blieb seitdem lange eine heilige Kuh, die auch vom rechten Militär Hugo Bánzer (1971- 1978) nicht geopfert wurde. Erst der Neoliberale Gonzalo Sánchez privatisierte 2003 die Ölindustrie, worauf er von einem Volksaufstand gestürzt wurde.

Aber auch die Verstaatlichung der Erdgas- und Ölindustrie im Mai 2006 durch die Regierung Morales stösst inzwischen auf Unwägbarkeiten und schwere Komplikationen. Obgleich sich dadurch die Staatseinnahmen auf etwa zwei Milliarden US-Dollar (im Vergleich zu 2005 vervierfacht) erhöht haben, fliessen die Erlöse der Verstaatlichung bisher kaum in die Hände der Ärmsten des Landes. Morales und seine Regierung seien "nicht in der Lage", bemängelt Gabriel Tabera Solíz am 6. Mai 2007 in der linken venezolanischen Zeitung "Aporrea", "den hungernden Arbeitern Boliviens einen menschenwürdigen Lohn" zu sichern. Morales hatte am 1. Mai eine 5% Erhöhung des monatlichen Mindestlohns auf 525 Bolivianos (knapp über fünfzig Euro) per Staatsdekret festgelegt. Der bolivianische Gewerkschaftsführer Pedro Montes - sonst ein Freund der Regierung - konnte seine Empörung kaum verdecken und ging so weit, die Erhöhung als eine "Schande" zu bezeichnen, die im Vergleich zur 4,5%igen Inflationsrate "lächerlich" sei.

Der Magie widerstehen

Sind die jüngsten Verstaatlichungen in Lateinamerika die Vorzeichen eines langfristigen Transformationsprozesses, der zum Sozialismus führt? Oder nur ein Teil eines verlängerten Populismus, der sich historisch als Meister im Ausgeben von Parolen erwiesen hat? "Ihnen zu widerstehen" ist jedenfalls, so 1979 der französische Soziologe Pierre Bourdieu, Pflicht und Kunst des Analytikers, der sich gegen die "Magie der Worte" stemmen muss, um der Komplexität realer Prozesse gerecht zu werden.

In Anlehnung an alte kulturelle Traditionen hat diese "Magie der Worte" für die lateinamerikanische Linke noch eine grosse Anziehungskraft und bleibt bisher ein Steckenpferd populistischer Rhetorik und Politik. Einsweilen scheint nur eines sicher: Erst wenn sich die dortige Linke nicht mehr von Parolen verzaubern lässt, kann der Sozialismus als reale und rationale Bewegung eine Chance zum Erfolg haben.


Der Autor ist Redakteur der Ostberliner Zeitschrift "Der Gegner"