Venezuela

"Venezuela muss Allianzen schaffen"

Gespräch mit Oscar Figuera, dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas

Oscar Figuera ist Generalsekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) und einer ihrer sieben Abgeordneten in der Nationalversammlung.

Kommt man in den Sitz der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) in Caracas, fallen einem zunächst die zahlreichen Gemälde an den Wänden auf: Lenin, Ernst Thälmann, Ho Chi Minh. Vergangene Woche erst hat Ihnen die chinesische Botschaft ein Ölbild von Mao Tse-tung geschenkt. Inwieweit spiegelt sich das Denken dieser Politiker in der bolivarischen Revolution wider?

Bewußt finden ihre Ideen keine Beachtung. Das heißt, die Konzepte von Marx, Lenin, Luxemburg, Ho Chi Minh, Mao, Thälmann, Fidel oder anderen bestimmen den sozialen und politischen Vorsatz dieser Revolution nicht. Viele ihrer Ideen finden sich zwar in denen von Präsident Hugo Chávez Frías wieder. Aber seine Politik baut auf verschiedenen revolutionären Strömungen auf, darunter auch auf dem Marxismus. Der Leninismus aber existiert in Venezuela in erster Linie im Sinne des Antiimperialismus, weniger in der konzeptionellen Idee von Staat und Partei. Und schließlich haben die Ideen von Antonio Gramsci einen großen Einfluß auf den hiesigen Prozeß.

In den öffentlichen Stellungnahmen des Präsidenten finden sich also Ideen verschiedenster revolutionärer Strömungen wieder, wobei die nationalpatriotische Komponente eindeutig dominiert. Die Traditionen des Kampfes des venezolanischen Volkes, die Ideologie Simón Bolívars - darin findet sich viel Solidarisches, Emanzipatorisches bis hin zu antiimperialistischen Ideen. Am Ende der zwanziger Jahre des vorletzten Jahrhunderts schrieb Bolívar an einen Freund: "Die Vereinigten Staaten scheinen von der Vorsehung bestimmt, Amerika im Namen der Freiheit mit Elend zu überziehen." Das nationale und patriotische Denken, das er daraus ableitete, ist fortschrittlich und, das muß ich im Gespräch mit einer deutschen Zeitung wohl erwähnen, nicht nationalchauvinistisch.

Weil es aus einer antikolonialen Tradition heraus entstanden ist?

Der lateinamerikanische Nationalismus hat sich in der Tat im Kampf gegen die Fremdbestimmung gebildet. Und schon damals wurde die langfristige Rolle der USA als imperiale Macht erkannt. Diese Analyse bestimmt die Politik bis heute und bildet einen Hauptpfeiler der bolivarischen Revolution.

Dabei ist dieser Prozeß weitgehend von sozialen Reformen geprägt, die eigentlich auch sozialdemokratisch sein könnten. Hugo Chávez fordert etwa einen "Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit". Ist das revolutionär?

Die Aussagen von Präsident Hugo Rafael Chávez Frías müssen immer unter dem Gesichtspunkt des permanenten Wandels und der Weiterentwicklung betrachtet werden. Präsident Chávez kommt zunächst aus einer militärischen Tradition. Schon während der Armeezeit hatte er aber auch Kontakt zu fortschrittlichen Ideen bis hin zum Marxismus. In der venezolanischen Armee gab es immer ein humanistisches Denken, das sich aus den Ideen Simón Bolívars (1783-1830 - d. Red.), denen seines Mentors Simón Rodríguez (1769-1854) oder aus dem egalitären Anspruch des venezolanischen Generals und Landreformers Ezequiel Zamora (1817-1860) speiste. Daraus entstand schließlich der Widerspruch zwischen Armee und politischer Führung, der 1992 zu Chávez´ Aufstand gegen das Regime von Carlos Andrés Pérez führte. Und wenn wir uns heute seine damaligen Stellungnahmen ansehen, wird deutlich, daß er sich über vieles von dem, was er heute öffentlich vertritt, noch nicht bewußt war. Nach seiner Wahl 1998 gab es eine Zeit, in der er den "Dritten Weg" vertreten hat, der von Anthony Blair und William Clinton propagiert wurde ...

... und von Gerhard Schröder ...

... und wir, die PCV, haben uns damals entschieden gegen dieses Konzept gewandt. Für uns war es schlimmer als der klassische sozialdemokratische Reformismus, weil das Konzept des "Dritten Weges" eine neue imperialistische Strategie als progressive Ideologie verkaufen wollte.

Als sich Mitte April zum fünften Mal die Niederschlagung des Putschversuches rechter Militärs gejährt hat, forderte Präsident Chávez eine "Radikalisierung der Revolution". Worin soll die bestehen?

In der geschilderten Weiterentwicklung. Es ist ein eindeutiger Fortschritt, wenn heute nicht mehr vom "Dritten Weg" die Rede ist, sondern vom Sozialismus. Heute hat die bolivarische Revolution einen klaren antiimperialistischen Charakter. Und mehr noch: Es ist heute in Venezuela unbestritten, daß die Befreiung eines Landes von Fremdherrschaft mit einer sozialen Befreiung einhergehen muß. Geschieht das nicht, werden die alten Mechanismen der Ausbeutung wieder aufgenommen, nur von anderen Herren.

Das wäre etwa eine Entwicklung, wie sie Südafrika nach Ende der Apartheid genommen hat. Wie können Fehler vermieden werden?

Es wird immer Fehler geben. Präsident Chávez entstammt keiner bestimmten politischen Schule, sondern er ist Militär. Und als solcher sucht er die besten Möglichkeiten, das Land aus Fremdbestimmung und Unterdrückung zu führen. Klar, daß dabei auch Fehler gemacht werden, die sich in konkreter Politik ausdrücken können. Meine Partei beobachtet diese Entwicklung und nimmt natürlich auch aktiv teil daran. Wir versuchen, unsere Ideen einzubringen und kritisieren, was unser Meinung der politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und militärischen Selbständigkeit nicht dient. Das ist möglich, weil es eine gemeinsame Basis gibt: die demokratische Teilnahme der Bevölkerung an politischen Entscheidungen. Zum anderen ist unbestritten, daß eine kontinentale Allianz notwendig ist, um die Selbständigkeit zu erreichen. Und schließlich besteht Konsens darüber, daß es mit dem Washingtoner Imperialismus kein Bündnis geben kann.

Das wäre aber nicht das einzige fragwürdige Bündnis. Die freundschaftliche Haltung Venezuelas gegenüber Iran basiert schließlich auch auf der gemeinsamen Ablehnung der US-Außenpolitik. Aber ist ein politisches Bündnis mit einem Staat zu befürworten, in dem es unzählige politische Gefangene gibt, darunter viele Kommunisten?

Grundsätzlich erkennen wir an, daß es unterschiedliche Arten von Bündnissen gibt. Allianzen auf Regierungsebene etwa: Sie sind sehr begrenzt auf gemeinsame Interessen. Im Fall Irans besteht diese Gemeinsamkeit in der Gegenwehr gegen den US-amerikanischen Imperialismus, einen der mächtigsten Gegner überhaupt. Auf der anderen Seite stehen Allianzen der politischen, revolutionären Basisbewegungen. Diese müssen die Regierungspolitik nicht zwingend unterstützen. Anders ausgedrückt: Die theoretische und politische Nähe zwischen zwei Staaten entwickelt sich unabhängig von der Politik außenpolitischer Zwänge. Als der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad vor einigen Wochen hier in Caracas zu Besuch war, hat die PCV eine Erklärung verabschiedet. Darin haben wir zwar die Notwendigkeit eines Bündnisses gegen den US-Imperialismus anerkannt. Im letzten Abschnitt haben wir aber auch unser Bedauern über die politische Verfolgung zum Ausdruck gebracht, unter der vor allem die Tudeh-Partei, die Kommunistische Partei, leidet. Der venezolanische Staat muß diesen Punkt nicht beachten. Wir müssen es. Das ist Teil der Differenzen, die wir mit der Regierungspolitik haben. Und das ist der Grund, warum eine Kommunistische Partei für die bolivarische Revolution dringen notwendig ist.

Ein Resultat dieser Differenzen ist, daß die PCV eine Selbstauflösung ablehnt, um Teil einer "Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas" zu werden, die Präsident Chávez mit den bisherigen Koalitionspartnern gründen will.

Unserer Meinung nach ist der größte Feind für den politischen Prozeß hier in Venezuela der US-amerikanische Imperialismus. Wenn wir dies als Grundanalyse voranstellen, dann ergibt sich daraus die zwingende Notwendigkeit, eine möglichst breite Front gegen diese imperialistische Gefahr aufzubauen. Es sollte eine Front sein, die Klassen und Staatsgrenzen überschreitet. Wir denken auch, daß man dabei nicht nur auf erklärtermaßen sozialistische Kräfte setzen darf.

Eine Volksfront im klassischen Sinne also?

Ja, es wird auch eine Allianz mit dem Teil des Bürgertums notwendig, der mitunter als "nationale Bourgeoisie" bezeichnet wird. Ich glaube dabei aber nicht, daß es sich um nationale Kräfte handelt. Doch ich denke, daß es Teile des Bürgertums gibt, die sich mit dem internationalen Kapital gleichberechtigt zum Großbürgertum entwickeln wollen. Für diese Teile der Bourgeoisie ist es notwendig, die gerade in Lateinamerika ständige Offensive transnationaler Konzerne abzuwehren. Und deswegen, das ist unsere Erfahrung, sind die zu Allianzen bis hin zu uns Kommunisten bereit. Sie paktieren sogar mit ihrem Klassengegner, den Arbeiterinnen und Arbeitern. In dieser breiten Front, von der die bolivarische Revolution bislang getragen wird, gibt es also Sozialisten und Kommunisten, es gibt aber auch andere Kräfte. Als Präsident Chávez Mitte Dezember vergangenen Jahres zur Gründung einer sozialistischen Einheitspartei aufgerufen hat, haben wir dies so verstanden, daß er eine Mehrklassenpartei aufbauen will. Und die PCV ist schlichtweg nicht bereit, sich zugunsten einer solchen Gruppierung aufzulösen. Unser Klassencharakter verbietet uns einen solchen Schritt. Trotzdem befürworten wir den Vorstoß.

Weshalb?

Weil diese neue Partei unterschiedliche politische und soziale Strömungen zusammenfaßt. Eine solche Bündelung der Kräfte ist für die Aktionsfähigkeit und Schlagkraft der bolivarischen Revolution natürlich gut. Wir gehen davon aus, daß Präsident Chávez die politische Entwicklung und auch die Einheit schneller vorantreiben will und deswegen auf einem solchen Zusammenschluß besteht. Er hat in der Vergangenheit in seinem Handeln zur Genüge bewiesen, daß er auf eine möglichst tiefgreifende Debatte über wichtige Entscheidungen ebenso Wert legt wie auf eine breite Unterstützung aus der Bevölkerung.

Als der Staatschef am 15. Dezember die Gründung der neuen Partei angekündigt hat, hörte sich das anders an. Damals erklärte er: "Ich erkläre heute, daß ich eine neue Partei gründen werde". Und weiter: "Diejenigen Parteien, die bestehen bleiben wollen, können das tun, aber sie werden aus der Regierung ausscheiden." Neben anderen Unterstützern der Regierung hat der venezolanische Soziologe Edgardo Lander diesen Stil in einem Essay kritisiert.

Das kommt darauf an. Chávez ist der Staatschef und hat als solcher weitreichende Befugnisse. In Venezuela gibt es keine parlamentarische Demokratie wie in den meisten europäischen Staaten. Wir haben hier eine Präsidialdemokratie. In Venezuela müssen sich die Parteien nicht einigen, um einen Premierminister zu bestimmen. Bei uns wird der Staatschef direkt gewählt und kann seine Minister bestimmen und entlassen. Dieses System existiert übrigens fast in ganz Amerika, eingeschlossen die Vereinigten Staaten.

Unter welchen Umständen würden sich die venezolanischen Kommunisten einer Einheitspartei der Regierungskräfte anschließen?

Wir haben am 2. und 3. März einen Sonderparteitag abgehalten, um die Haltung zu dem Projekt einer Einheitspartei zu erörtern. In der Debatte stimmten wir darin überein, daß die sozialistische Einheitspartei keine größere kommunistische Partei werden wird. Natürlich wird es eine gemeinsame Basis geben, vor allem die bolivarische Tradition des Widerstandes gegen jede Form der Fremdbestimmung. Aber das allein genügt uns nicht, denn der ideologische Charakter ist unserer Partei verständlicherweise sehr wichtig. Wenn aus einer solchen Einheitspartei der Regierungskräfte zu einem künftigen Zeitpunkt eine marxistisch-leninistische Kraft wird, die sich ebenso auf den Bolivarismus stützt, dann wäre das für uns die ideale Entwicklung. Denn für uns ist klar, daß eine antiimperialistische Partei in Zeiten des entfesselten US-Imperialismus zugleich eine leninistische Partei sein muß.

Das führt direkt zum vieldiskutierten Konzept eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts". Diese Idee wird vor allem von Venezuela und Kuba aus forciert und ist inzwischen auf internationaler Ebene Bestandteil der politischen Debatten. Edgardo Lander hat in seinem Essay eine Debatte über dieses noch diffuse Konstrukt gefordert.

In der Tat ist die theoretische Entwicklung dieses Konzeptes bislang sehr beschränkt. Ich halte diesen Hinweis von Edgardo Lander deswegen für sehr wichtig. Das Schwierige bei diesem Konzept ist, daß sich eine lebendige Debatte um ein Gesellschaftssystem, das noch nicht existiert, schwer entwickeln kann. Der sogenannte Sozialismus des 21. Jahrhunderts versucht, das Vergangene und das Derzeitige zu überwinden. Unserer Meinung nach betrifft der Sozialismus vor allem die ökonomischen Grundlagen von Staat und Gesellschaft. Und das ist etwas, was in Venezuela vordergründig keine Rolle spielt. Bislang dreht sich die Diskussion vor allem um politische Reformen, die Beteiligung der Menschen an politischen Entscheidungen. Die Frage des Eigentums spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Wenn etwa über den Großgrundbesitz gesprochen wird, bleibt unerwähnt, daß es sich um eine vorkapitalistische Form des Besitztums handelt. Sie zu beseitigen, bedeutet nicht, den Sozialismus zu erreichen. Die Beseitigung des Großgrundbesitzes kann eine Stärkung des modernen Kapitalismus gegenüber Überbleibseln der kolonialen Herrschaft bedeuten.

Tatsächlich hat Präsident Chávez inmitten des "Krieges gegen den Großgrundbesitz" vor einigen Wochen einen Vertrag mit einem der größten Sojaproduzenten Südamerikas unterzeichnet, dem Argenti­nier Gustavo Grobocopatel.

Das ist Teil des politischen Eklektizismus, der für Venezuela derzeit typisch ist. An erster Stelle wird die Notwendigkeit gesehen, neue Wege zu ebenen und Allianzen zu schließen. Dabei ist die internationale Lage wichtig. Wenn es ein Prozeß wie der venezolanische nicht schafft, breite Allianzen zu bilden, kann er leicht zerschlagen werden. Diese Wahrheit muß man sehen. Denn die Wahrheit ist auch, daß die Gegner dieses Prozesses sehr flexibel in der Wahl ihrer Partner sind, mit denen gemeinsam sie die bolivarische Revolution hemmen oder sogar beseitigen könnten.