Offener Brief und Aufruf von Brasilianerinnen und Brasilianern, die im Ausland leben

Das Verhalten des Präsidenten deutet ziemlich klar darauf hin, dass er weiterhin die Absicht hat, nur die Interessen der großen Unternehmen zu vertreten

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"Bolsonaro muss weg": Aufruf von Gewerkschaften in São Paulo am 19.Mai zu einer Kundgebung
"Bolsonaro muss weg": Aufruf von Gewerkschaften in São Paulo am 19.Mai zu einer Kundgebung

Wir Brasilianerinnen und Brasilianer, die im Ausland leben, beobachten mit großer Sorge die Auswirkungen, die das Coronavirus (Covid-19) sowohl in unserem Land Brasilien als auch in dem Land haben, in dem wir jetzt leben. Mit noch größerer Furcht beobachten wir, wie die aktuelle brasilianische Regierung angesichts dieser sich ankündigenden Tragödie äußerst unverantwortlich seit dem Anfang der Pandemie handelt.

Während Deutschland sich an die Regelungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält und sie in Präventionsmaßnahmen umsetzt, ist das in Brasilien ganz anders. Wenn wir aus der Perspektive Deutschlands die Pandemie-Entwicklung beobachten, stellen wir fest, dass trotz der Früherkennung und der von der deutschen Regierung ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sich das Virus innerhalb kurzer Zeit rasch im ganzen Land ausbreitet. Dennoch ist Deutschland das Land, das im Vergleich zu den anderen Nationen der Europäischen Union eine geringere Zahl von Todesfällen zu verzeichnen hat.

Leider steht dieses Bild von Deutschland in krassem Gegensatz zu dem Bild von Brasilien. Präsident Jair Bolsonaro erklärt weiterhin in einer seiner Fernsehansprachen, dass eine solche Pandemie nur einer "kollektive Hysterie" gleichkommt und dass das Virus nichts anderes als eine "kleine Grippe" sei, während er die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Gesundheitsministeriums seiner eigenen Regierung ignoriert. Trotz der wachsenden Zahl der Opfer bekräftigt Bolsonaro weiterhin, dass die Wirtschaft des Landes die höchste Priorität genießt, und startet eine Kampagne mit dem Slogan "Brasilien darf nicht stillstehen".

Neben dem Versuch des Präsidenten, die Bevölkerung dazu zu zwingen, die von den einzelnen brasilianischen Bundesländern durchgesetzte soziale Isolation zu durchbrechen, ermutigt er die Bevölkerung, auf die Straße zu gehen, insbesondere mit dem Ziel, für die Schließung des Nationalkongresses und des Bundesverfassungsgerichts (Supremo Tribunal Federal) zu demonstrieren. Er wählt zu diesem Zweck ganz gezielt den 31. März aus, den Gedenktag an den Beginn der Diktatur in Brasilien. Diese fing 1964 an und endete 1985. Immer wieder hat der Präsident Jair Bolsonaro seine Anhänger angefeuert, weitere Demonstrationen zu veranstalten.

Vermutlich ist Jair Bolsonaro infiziert mit dem Coronavirus. Trotzdem geht er aus, gibt den Menschen die Hand und nimmt mit seinen Anhängern an Protesten teil. Die Politiker und Bürger, die sich seinen Befehlen und Meinungen widersetzen, werden bedroht. Nach der Rückkehr von seiner Reise aus den USA waren viele seiner Reisebegleiter und Minister mit dem Coronavirus infiziert und positiv getestet. Nur Bolsonaro weigert sich, das Ergebnis seines Tests zu veröffentlichen.

Andererseits hat sich ein großer Teil der Regierungen der Bundesländer verbündet, um die internationalen Richtlinien zur Bekämpfung des Coronavirus umzusetzen. Dennoch erreichte die Zahl der Infizierten im Land am Sonntag, den 17.05.2020, den Stand von 241.080 und es wurden 16.1181 Todesfälle im Zusammenhang mit der Krankheit registriert. Denken Sie daran, dass diese Zahlen nicht alle Fälle enthalten, da nicht alle Infizierten den Test durchführen können! Brasilien steht heute bei der Zahl der Toten an neunter Stelle in der Welt.

Diese unterschiedliche Vorgehensweise seitens des Präsidenten und der einzelnen Regierungen der Bundesstaaten der Föderation führen zu einer Fehlinformation der Bevölkerung und dazu, dass die Regeln zur Bekämpfung des Virus nicht gleichmäßig befolgt werden. Proteste seitens der kleinen und mittelständischen Unternehmer in sogenannten Carreatas (Autokorsos) stehen immer öfter auf der Tagesordnung, was Unruhe und Unsicherheit bei der Bevölkerung hervorruft.

Ein Teil der Bevölkerung Brasiliens zeigt aber seine Unzufriedenheit mit der unverantwortlichen Haltung der Regierung durch die sogenannten Panelaços, die darin bestehen, dass jeder täglich von seinem Fenster oder von seinem Balkon zu einem gemeinsamen Konzert auf Töpfe schlägt und Parolen (z.B. Fora Bolsonaro/Bolsonaro muss weg!) gegen den Präsidenten ruft.

Respektierte zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Brasilianische Anwaltskammer (OAB), die Nationale Bischofskonferenz (CNBB), die Brasilianische Akademie der Wissenschaften (ABI) und die Brasilianische Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (SBPC) haben sich bereits in diesem Sinne geäußert und den Präsidenten beschuldigt, die Gesundheit der BrasilianerInnen zu gefährden.

Der Nationalkongress verabschiedete am 30. März 2020 die Zahlung eines Mindesteinkommens von 600 Reais für arme Familien, Selbständige und informelle Arbeiterinnen und Arbeiter. Für alleinerziehende Mütter sollte dieser Betrag verdoppelt werden. Mit diesem Mindesteinkommen könnten - den Daten zufolge - mehr als 100 Millionen Menschen während der Zeit der sozialen Isolation überleben. Diese Nothilfe wurde zuerst vom Präsidenten und seinem Wirtschaftsminister Paulo Guedes boykottiert, die Auszahlung wurde verzögert.

In Anbetracht all der hier genannten Fakten und des Verhaltens des Präsidenten ist klar, dass er schwere Verantwortungsdelikte (Crimes de Responsabilidade) begeht, das Chaos im Lande absichtlich verschlimmert, um seine politischen Zielen zu erreichen, um die alleinige Herrschaft über das Land zu gewinnen. Er selbst ruft die Bevölkerung zur Abschaffung der Judikative und der Legislative in Brasilien auf. Der Wirtschaftsminister Paulo Guedes verteidigt die Wiedereröffnung des Handels und aller Industriekonzerne. Bolsonaro wird auch von seinem neuen Gesundheitsminister und dem Generaldirektor der Banco do Brasil unterstützt.

Jair Bolsonaro hat eine Frage, die die Zahl der registrierten Todesfälle betraf (am Dienstag, den 24. April 2020, gab es 474 neue Todesfälle und damit mehr als in China), mitleidlos folgendermaßen beantwortet: "Na und? Was soll ich machen? Ich heiße zwar Messias, aber ich kann keine Wunder bewirken!"2

Das Verhalten des Präsidenten deutet ziemlich klar darauf hin, dass er zusätzlich zu dieser unterschiedlichen Bewertung der globalen Pandemie weiterhin die Absicht hat, nur die Interessen der großen Unternehmen zu vertreten, die die Enteignung der Quilombolas und der indigenen Bevölkerung ankündigen, wodurch das Leben der Menschen, die sich in gefährdeten Lebenslagen und Gebieten befinden, noch stärker geschwächt wird. Solche Haltungen führen nicht nur zu einem katastrophalen Zustand der Gesundheit der Bevölkerung und zum Kollaps des öffentlichen Gesundheitssystems (SUS), sondern auch zu einer sozialen und wirtschaftlichen Katastrophe.

Aus diesen Gründen möchten wir die im Ausland lebenden Brasilianer und Brasilien-Freunde dazu ermutigen, mit uns einen weiteren Appell an alle internationalen Institutionen und Organisationen wie auch an einzelne Personen zu senden, der den Präsidenten Jair Bolsonaro und seine Regierung dazu aufruft, ja unter Druck setzt, das Verhalten zu ändern und die brasilianische Bevölkerung nach den Maßgaben der internationalen WHO-Richtlinien zu schützen. Dies bedeutet, die Bevölkerung und die Krankenhäuser mit Medikamenten, klinischen Geräten und anderen Vorrichtungen zu versorgen, damit sie aus dem Risikobereich der Pandemie herausgeführt werden können. Dem Präsidenten muss klar gemacht werden, dass das Motto "Bleib Zuhause" (Fique em Casa) zurzeit absolut notwendig ist.

Bolsonaro hat uns gezeigt, dass er nur vernünftig handelt, wenn er politisch unter Druck gesetzt wird. In diesem Sinne bitten wir um Ihre Unterschrift in der beiliegenden Liste wie auch um die Bekanntmachung/Weiterleitung dieses Briefes an Bekannte, Freunde, Institutionen und Politiker.

Das ist nötig, um Bolsonaro zu stoppen!

Unterzeichnerinnen und Unterzeichner:

Ana Cristina Rosales - Associação Abá - lutando pelos direitos humanos no Brasil (Frankfurt)

Andrea Wiegmann - Ativista (Altena)

Adriana Maximino dos Santos - Associação Abá - lutando pelos direitos humanos no Brasil (Frankfurt)

Ana Quezia Andrade de Sousa - Estudante (Frankfurt)

Ana Quintão - GDTB (Hamburgo).

Angela Rocha Jerchel - Ativista e Membro do Conselho de Trabalhadores dos Comerciantes (Hanau)

Ângela Alves Randig (Colônia)

Bernhard Stadler - Professor - (Frankfurt)

Carolina Farias de Amorim - Pedagoga (Frankfurt)

Carolina Lopes - Brasil em Debate (Colônia)

Cleire de Quadros Sambo – Advogada (Baviera)

Coletivo Miradas Feministas (Hamburgo)

Coletivo Hamburgo pela Democracia no Brasil (Hamburgo)

Edir Cardoso de Andrade - Ativista (Tostedt)

Edilma S. Euzébio - Ativista (Colônia)

Edleuza Alves - Ativista (Berlin)

Eldelniza Nascimento-Kohl - Assistente de escritório (Frankfurt)

Edmar Neto Figueira Leão - Estudante, Ativista no Partido de Esquerda-Die Link SDS (Frankfurt)

Eliane Paulino (Wuppertal)

Emiliano Padin Rosales - Associação Abá. Lutando pelos direitos humanos no Brasil (Frankfurt)

Franz-Jürgen Dörsam – Fagotista (Mannheim)

Gabriela Andrade Stadler – Estudante (Frankfurt am Main)

Gustavo Sandri - Ativista (Mannheim)

Ida Schrager - Brasil Em Debate (Colônia)

Josiane Rangel - Ativista (Colônia)

José De Quadros - Artista Plástico (Kassel)

Juliana da Soares da Silva - Cantora (Frankfurt am Main)

Lena Pampolha, Ativista (Bonn)

Ligia Chiappini – Professora. – Comitê Lula Livre (Berlin)

Marcia Noczynski – Psicanalista (Kuppenheim)

Maria Auxiliadora Andrade da Silva - Associação Abá. Lutando pelos direitos humanos no Brasil (Frankfurt)

Maria Aucicleide da Silva - Psicóloga (Frankfurt)

Maria Medeiros Helmer - Ativista (Hannover)

Marta Ruth Ribeiro Rocha – Comitê Lula Livre (Berlin)

Namir Martins - Sindicalista, GEW (Mannheim)

Nely da Silva Leandro (Bellheim)

Nivea Amaral - Ativista (Mannheim)

Patricia Santana Scheld - Ilustradora (Wiesbaden)

Patricia Westermann - Brasil em Debate (Colônia)

Peter Wol, Advogado (Frankfurt am Main)

Rajya Karumanchi-Dörsam - Cientista Política e Ativista (Mannheim)

Rejane Stuntebeck - Estudante (Frankfurt)

Sara Freitas Simões de Andrade - Cientista política, presidenta de Iniciativa de Mulheres na Alemanha (Frankfurt)

Tereza Frossard - Associação Abá. Lutando pelos direitos humanos no Brasil (Frankfurt)

Tobias Mörike – Doutorando em História Global (Hamburgo)

Yasmin Nascimento - Stewardess (Frankfurt am Main)