Argentinien: Versuchslabor der neuen Rechten

Anlässlich des Gedenktages an den Militärputsch am 24. März warnen Akademiker aus USA, Kanada, Australien und Europa vor den neuen Rechten in Argentinien

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Lassen sich den Mund nicht verbieten: Mitarbeiter und Unterstützer der Zeitschrift "La Garganta poderosa" in Argentinien
Lassen sich den Mund nicht verbieten: Mitarbeiter und Unterstützer der Zeitschrift "La Garganta poderosa" in Argentinien

Der Wahlsieg Donald Trumps und die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich, bei denen allen Umfragen zufolge die extreme Rechte vorn liegt, lassen wenig Zweifel über die Richtung, die unsere Welt eingeschlagen hat. Doch die Zukunft, die uns die neue Rechte verspricht, ist nicht nur in den USA, in Russland oder in Polen schon in vollem Gange. Ähnlich wie Pinochets Chile zu Beginn der neoliberalen Ära das Experimentierfeld der "Schock-Doktrin" gewesen war, sind Länder des globalen Südens wie Argentinien heute die Versuchslabore, in denen das Programm der Trumps und Le Pens bereits vorexerziert wird. Trotz der drastischen Kürzungen, mit denen in Argentinien das Staatsbudget für Erziehung, Wissenschaft und Technologie auf ein historisches Minimum zusammengestrichen wurde (Stipendien für den wissenschaftlichen Nachwuchs wurden um 60 Prozent gekürzt), blühen im Versuchslabor der Rechten neue Wissensformen zur Herstellung von "alternative facts". Am Jahrestag des Militärputsches vom 24. März 1976, dessen Status als nationaler Gedenktag die Regierung Macri abschaffen wollte, ist es an der Zeit für eine erste Bilanz dieser Experimente.

Angewandte Xenophobie

Als Argentiniens Präsident Mauricio Macri im Januar 2017 per Dekret die sofortige Ausweisung von Immigranten autorisierte, wurde dies als Imitation von Donald Trumps nur wenige Tage zuvor lanciertem „travel ban“ verstanden. Die Geste war identisch: Kriminalisierung der Migration, Ethnisierung der Kriminalität, indem man –wie Macris Innenministerin Patricia Bullrich – Armutsmigranten aus lateinamerikanischen Nachbarländern wie Peru und Bolivien mit transnationalen Drogenkartellen in eins setzt. Tatsächlich hatte die systematische Kriminalisierung der Immigration in Argentinien jedoch vor dem Trump-Effekt eingesetzt: bereits 2016 wurde, in scharfem Kontrast zum bislang gültigen Immigrationsreglement, ein Sondergefängnis für Migranten eingerichtet, in denen Ausländer bereits nach minimalen Ordnungsverstößen interniert werden können. Das Ziel der Maßnahmen ist eindeutig: es geht darum, das Problem der öffentlichen Sicherheit mit der Figur des Immigranten zu verknüpfen und damit soziale Gegensätze zu schüren, die eine verstärkte Polizeipräsenz auf den Straßen rechtfertigen. Wie aus einer anderen Welt klingt heute der Slogan "La patria es el otro" (Mein Nächster ist das Vaterland) – vielmehr scheint "La patria es el odio" (Der Hass ist das Vaterland) das Motto einer von Stigmatisierung und Rassismus geleiteten Politik zu sein.

Der Angriff auf Migrantenrechte ist Teil einer eskalierenden Kampagne gegen die Menschenrechte als solche. Eine wachsende Liste von Regierungsfunktionären wie zuletzt der Chef der Zollbehörde, Juan J. Gómez Centurión, bestreitet den Staatsterror der Militärdiktatur und die Zahl der Verschwundenen. Provokationen wie diese oder die Berufung eines Anwalts von Folterern als Mitglied der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte, begleitet von der finanziellen Aushöhlung der Menschenrechtsinstitutionen, bezwecken nicht allein die Rehabilitierung der Militärdiktatur. Sie funktionieren vor allem als stillschweigende Erlaubnis zur Verschärfung des gesellschaftlichen Diskurses und des Schürens der ethnischen, sozialen, sexuellen und legalen Brüche und Verwerfungen: kurz, als Blankoscheck für staatliche Überwachung und Repression. Aushöhlung der Menschenrechte und Ausweitung des Überwachungsstaates in Reaktion auf die vermeintlich grassierende “Unsicherheit”: Argentinien dient hier als Versuchslabor eines Modells, das verstärkt auch in Europa und Nordamerika Anwendung findet.

Kommunikations-Alchemie

Neben verleugnenden Ex-Militärs wie Gómez Centurión ist Macris Kabinett vor allem mit schillernden Persönlichkeiten aus der Finanzwelt besetzt. Der Stabschef des Präsidenten war bis vor kurzem auf Teilzeitbasis auch in den Aufsichtsräten von Fluggesellschaften der Macri-Holding tätig, die seit Amtsantritt des Präsidenten kräftig von der Privatisierung der staatlichen Inlandsflugrouten profitieren. Das Energieministerium ging an den Millionenaktionär und Ex-CEO von Shell Argentinien, der sogleich einen Kreuzzug gegen die "künstlich niedriggehaltenen" Strom- und Gastarife mit Preissteigerungen von bis zu 2000 Prozent initiierte. "Aktionär zu sein bedeutet nicht unbedingt einen Interessenkonflikt", teilte die neue Chefin der Antikorruptionsbehörde, Laura Alonso, dazu lakonisch mit. Offenbar gilt dies auch für die per Dekret verhängte Amnestie für Steuerflüchtlinge (einschließlich des Präsidenten und seiner Familie, der im Zuge der Ermittlungen zu den Panama Papers ein Netzwerk von Briefkastenfirmen in Steuerparadiesen nachgewiesen wurde) oder für den staatlichen Verzicht auf Schuldzahlungen der Macri-Firmengruppe im Zusammenhang mit der Privatisierung des Postverkehrs, durch die dem Fiskus Einbußen in Höhe von mehr als 70.000 Millionen Pesos entstanden sind. Angesichts der rapide wachsenden Armut im Land – über eineinhalb Millionen Menschen sind laut Erhebungen der Universidad Católica Argentina seit Macris Amtsantritt unter die Armutsgrenze gefallen – erfordern derartige Blankoschecks notwendig das systematische Schüren des Hasses auf alle möglichen Sündenböcke. Gegen alle statistische Evidenz hat die Regierung die "Jugendkriminalität" und die Senkung des Strafmündigkeitsalters als Wahlkampfthema ausgemacht. Tatsächlich wächst vor allem die Zahl der Todesfälle in Polizeigewahrsam sowie die der "Inhaftierungen zur Identitätsfeststellung" – von jeher eine euphemistische Formel für die polizeiliche Drangsalierung und Erpressung von Armen, Mestizen und Migranten wie die jungen Redakteure der Barrio-Zeitschrift "Garganta Poderosa", die im September 2016 von der Polizei gefoltert und vor ein simuliertes Erschießungskommando geführt wurden. Ein explosives Gemisch aus messianischen Untersuchungsrichtern, selbsternannten Chefanklägern in den Talkshows der großen TV-Kanäle, ehemaligen und aktiven Geheimdienstlern und professionellen Trolls, die über Facebook und Twitter Gerüchte verbreiten, hat den Brunnen der Demokratie vergiftet und die Unabhängigkeit der Justiz bis zur Karikatur entstellt. Jeder Regierungsskandal wird unmittelbar durch ein neue Ermittlungsverfahren gegen diese oder jene Persönlichkeit der Opposition zugekleistert: als Macris Verwicklung in die Panama Papers ans Licht kam, schickte ein Untersuchungsrichter mit Hang zum magischen Realismus sogleich ein Heer von Baggern in die patagonische Wüste, um nach dem „Gold der Kirchners“ – Macris Regierungsvorgängern – zu graben.

Toxikologie

Die Kriminalisierung der politischen Opposition und der sozialen Proteste geht einher mit der Konsolidierung des neo-extraktivistischen Modells. Zusätzlich zur bereits durch die Vorgängerregierungen vorangetriebenen Expansion des Tagebaus wurden seit Macris Amtsantritt eine Reihe von Maßnahmen umgesetzt, die den intensiven Abbau natürlicher Ressourcen und die Ausweitung agro-industrieller Produktionsformen weiter erleichtern, ungeachtet der ökologischen und gesundheitlichen Folgen und unter Missachtung der Landrechte indigener Gemeinschaften. Nach der schon 2016 per Dekret durchgesetzten Streichung der Ausführzölle für Bergbauprodukte soll nun ein “Nationales Bergbauabkommen” den Wegfall aller rechtlichen Hürden für eins der lukrativsten Exportprodukte Argentiniens besiegeln. Ähnlich wie in den USA unter Trump macht auch in Argentinien der ökologische Raubbau vor Rechtsvorschriften wie dem Gesetz zum Schutz der Gletscher nicht Halt. Landansprüche bäuerlicher und indigener Gemeinschaften werden ignoriert, soziale Spannungen verschärft. Vor diesem Hintergrund wird auch die Kette von Episoden gewaltsamer Niederschlagung von Protesten lokaler Gemeinschaften verständlich, die das Land von einem Ende zum anderen überzieht: vom Kampf um Trinkwasser und Weideland des Guaraní-Volkes in Salta und der Bewohner des Jáchal-Tales in San Juan bis zu den Protesten gegen Pestizidbelastung in den Provinzen Córdoba und Chaco und zum Widerstand der Mapuche von Cushamen in Patagonien gegen die Beschlagnahmung indigener Ländereien. Die verschärfte Ausbeutung natürlicher Rohstoffe setzt die Zukunft des Landes aufs Spiel und schränkt die Rechte der Schwachen immer weiter ein.

Kreative Rechtsprechung

Organisierte Formen von Widerstand geraten derweil ins Visier einer brutalen sozialen Disziplinierung, die von direkter polizeilicher Repression bis zur Inhaftierung und psychologischen Folter durch eine politisch gefügige Justizmaschinerie reicht. Erst kürzlich, anlässlich des Internationalen Frauentages am 8. März, wurden in Buenos Aires Dutzende von Frauen, die am Frauenstreik sowie an der international beachteten Massenkundgebung NiUnaMenos (Nicht Eine Weniger) gegen Feminizide und patriarchalische Gewalt teilgenommen hatten, brutal geschlagen und inhaftiert. Das willkürliche und gewaltsame Vorgehen der Polizei ließ keinen Zweifel, dass es sich um eine gezielte Form der Einschüchterung und Disziplinierung weiblicher Selbstorganisation handelte. Noch gravierender ist der Fall der indigenen Aktivistin und Parlamentsabgeordneten Milagro Sala, die trotz der Proteste u.a. der Vereinten Nationen, der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, des Mercosur-Parlaments sowie von Amnesty International seit über einem Jahr in der von Macri-Verbündeten regierten Provinz Jujuy in Haft sitzt, mit Hilfe einer Reihe juristischer Manöver, die sich nicht einmal die Mühe machen, ihre offene Parteilichkeit zu verschleiern. Als Opfer tagtäglicher Diffamierungskampagnen in den fast durchgehend regierungstreuen Medien, und den körperlichen und psychischen Misshandlungen durch das Haftpersonal schutzlos ausgesetzt, setzen Milagro Sala und anderen Aktivistinnen und Aktivisten der Kolla-, Guaraní- und Mapuche-Völker heute ihr Leben aufs Spiel – nicht allein für die Verteidigung der Rechte indigener Germeinschaften, sondern auch für das Überleben der Demokratie selbst. Wie die Aktivisten gegen die Dakota-Pipeline in den USA sind auch in Argentinien indigene Kooperativen wie Milagro Salas' Organisation Túpac Amaru oder Kollektive wie NiUnaMenos, die für die Rechte von Frauen und Trans-Personen kämpfen, unzumutbar geworden, eben weil sie erfolgreiche und effiziente Formen der Selbstorganisation von unten darstellen.

Lassen wir uns vom lockeren und weltläufigen PR-Image Macris und seiner lateinamerikanischen Kompagnons nicht täuschen: wie sehr auch die Begleitmusik sich ändern mag – das Lied bleibt das alte. Auch wenn Lateinamerikas neue Rechte statt Trumps Hüten und Putins Bizeps lieber Maßanzüge zur Schau trägt (am besten ohne Krawatte, damit es unverkrampfter aussieht) – die weltmännischen Masken können doch das Antlitz des Kolonialherrn, des Plantagenbesitzers, kaum verdecken. Argentiniens Regierung ist im Begriff, den schwersten Anschlag auf den Pluralismus, die soziale Gerechtigkeit, die Unabhängigkeit der Justiz, die freie Meinungsäußerung und die soziale Integration seit dem Ende der Militärdiktatur zu verüben. Wie überall dort, wo die neue Rechte die Macht übernommen hat – von Polen bis Paraguay, von Ungarn bis Honduras – hat auch in Argentinien eine konkrete und systematische Repression eingesetzt, begleitet von Diskursen der Diskriminierung, des Ausschlusses und der Gewalt, deren Angriffsziel das demokratische Zusammenleben überhaupt ist. Denn für den Raubbaukapitalismus, in dessen Dienst die neue Rechte steht, sind Bürgerrechte und Demokratie nichts als ein Hindernis bei der Profitmaximierung. Lassen wir es nicht zu, dass ihre Experimente Früchte tragen. Weder in Argentinien noch irgendwo sonst.

Brigitte Adriaensen (Universiteit Nijmegen), Ignacio Aguiló (University of Manchester), Jens Andermann (Universität Zürich), Carmen Arndt (Architecktin, Berlin), Andrés Avellaneda (University of Florida), Edoardo Balletta (Università di Bologna), Vikki Bell (Goldsmiths College), Jordana Blejmar (University of Liverpool), Ben Bollig (University of Oxford), Rike Bolte (Universität Osnabrück), Ana Estefanía Carballo (University of Melbourne), Alejandra Crosta (University of Oxford), Francisco Domínguez (Middlesex University), Geneviève Fabry (Université Catholique de Louvain), Anna Forné (Göteborgs Universitet), Alessandra Ghezzani (Università di Pisa), Gabriel Giorgi (New York University), Gisela Heffes (Rice University), John Kraniauskas (Birkbeck College), Milton Läufer (New York University), Cara Levey (University of Cork), Graciela Montaldo (Columbia University), Daniel Ozarow (Middlesex University), Andrea Pagni (Universität Erlangen-Nürnberg), Fernanda Peñaloza (University of Sydney), Emilia Perassi (Università di Milano), Fernando Reati (Georgia State University), Federica Rocco (Università di Udine), Fernando Rosenberg (Brandeis University), Pablo Rosso (Architekt, Berlin), Isis Sadek (Independent scholar, Ottawa, Canada), Kathrin Sartingen (Universität Wien), Dardo Scavino (Université de Pau), James Scorer (University of Manchester), Cecilia Sosa (University of East London), Sven Pötting (Universität Köln), Claudia Tomadoni (Friedrich-Schiller-Universität Jena), Patricia Willson (Université de Liège)

Oberservatorio Argentino ist ein Kollektiv von Akademikern aus verschiedenen Ländern Europas, aus den USA, Kanada und Australien, das sich nach eigenen Angaben für die politische, kulturelle und soziale Entwicklung und die Menschenrechte in Argentinien engagiert. Dieser Text wurde anlässlich des Nationalen Gedenktages am 24. März veröffentlicht, zusammen mit einem internationalen Protest-Aufruf gegen die Missachtung der Bürgerrechte unter der Regierung Macri. Weitere Informationen: https://observatorioargentino.wordpress.com/

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