Corona und Quarantäne in Lateinamerika: Wer kümmert sich um die Armen?

Die Quarantäne stellt Millionen Lateinamerikaner vor das Dilemma, hungrig zu Hause zu bleiben oder rauszugehen und sich dem Virus auszusetzen

bolivien_corona_sicherheitskraefte_kontrolle_quarantaene.jpg

Die Putsch-Regierung in Bolivien setzt Polizei und Militär ein, um die Quarantäne zu kontrollieren
Die Putsch-Regierung in Bolivien setzt Polizei und Militär ein, um die Quarantäne zu kontrollieren

Laut der Internationalen Arbeitsorganisation haben mehr als 60 Prozent der Erwerbsbevölkerung weltweit, also rund zwei Milliarden Menschen, eine informelle Arbeit und der größte Teil dieser wachsenden Ökonomie (mehr als 93 Prozent) findet sich in den Schwellen- und Entwicklungsländern.

Es sind prekäre Arbeitsplätze, instabile Unterbeschäftigung, ohne jeglichen Gesundheitsschutz, die in Südamerika, Mittelamerika und der Karibik mehr als 50 Prozent der arbeitenden Bevölkerung betreffen; in Honduras, Guatemala, Nicaragua und Bolivien sind es etwa 80 Prozent.

In allgemeinen Zahlen ist dies die Bevölkerung, die in ihrem ohnehin schon prekären Lebensstandard enorm betroffen sein wird, wenn die Regierungen keine entsprechenden Maßnahmen ergreifen, um kurz- und mittelfristig eine noch größere Verarmung zu vermeiden.

Genau aufgrund dieser Situation (der überwiegend informellen Beschäftigung), die sich sehr von der chinesischen, koreanischen oder europäischen Realität unterscheidet, sollten die von diesen Ländern ergriffenen Maßnahmen nicht einfach kopiert werden.

Und wer kümmert sich um die Armen?

Dieses "zu Hause bleiben", ist, wenn es nicht von anderen Maßnahmen begleitet wird, nur für die Personen möglich, die ihre Speisekammer für zwei oder drei Wochen mit Produkten füllen können, aber für mindestens 30 Prozent der Bevölkerung Lateinamerikas und der Karibik ist dies nicht machbar.

200 Millionen Bewohner unserer Region leben unterhalb der Armutsgrenze, darunter Straßenhändler, Fahrer, Hafenarbeiter, Hausfrauen. Für sie das Rausgehen auf die Straße eine Frage von Haben oder Nicht-Haben des täglichen Brotes.

Millionen Bürger können nicht auf Distanz oder virtuell arbeiten. Auch die Mehrzahl der Schulen und Universitäten verfügen nicht über Mechanismen, um der Notlage zu genügen. Das wird die soziale und wirtschaftliche Kluft noch mehr vergrößern. Diese Realität kommt zu den Verlusten hinzu, die wir als Gesellschaft insgesamt in diesen Monaten erlitten haben.

Viele dieser Familien müssen regelmäßige Monatszahlungen leisten, die keinen Aufschub dulden, zum Beispiel weil die Gläubiger der Mikrokredite ihnen ihre Rückstände nicht durchgehen lassen werden.

Der Hausbesitzer wird sie nicht von der Mietzahlung befreien und sie müssen für grundlegende Dienstleistungen wie Wasser, Gas und Strom bezahlen. Darüber hinaus müssen sie sich die tägliche Nahrung sichern.

Das sind nur einige Aspekte, um die sich der Staat kümmern, vorausschauend handeln und Lösungen finden muss. Wenn jetzt keine Maßnahmen ergriffen werden, wird die Region einen katastrophalen Rückgang des Lebensstandards erleiden – und mit keineswegs ermutigenden politischen Konsequenzen.

Misstrauen erzeugt Chaos

Diese weltweite Krise enthüllt die tatsächliche Situation der Gesundheitssysteme.

Das fehlende Vertrauen in diese prekären und unangemessenen Systeme hat die Leute dazu gebracht, verzweifelt zu handeln. So wie es in Bolivien geschieht, wo Bürger Gesundheitszentren blockieren um zu verhindern, dass Covid-19-Kranke an den selben Orten behandelt werden wie ihre Angehörigen, die dort wegen anderer Krankheiten stationär untergebracht sind.

Ihnen wird vorgeworfen, unsolidarisch und gefühllos zu sein, aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Schlimmer noch, diese Verhaltensweisen belegen das tiefe Misstrauen der Bürger gegenüber dem bolivianischen Gesundheitssystem.

Die Bürger wissen, dass sie im Stich gelassen werden, niemand wird sie beschützen, ihnen ist klar, dass die Krankenhäuser weder in der Lage noch eingerichtet sind, mit dem Corona-Virus fertig zu werden.

Das reisende Virus

Der Hauptüberträger des Virus sind wir Menschen und zugleich sind wir die Opfer. Daher sind die Maßnahmen, die bei jeder Art von Transaktion, Kauf, Verkauf, Abwicklung und beim Transport auf dem Luft-, Fluss- und Landweg ergriffen werden,  lebenswichtig um das Virus zu stoppen.

Während in Europa der Landverkehr meist kommunal, regional oder staatlich ist und strengen sanitären Maßnahmen unterworfen werden kann, ist der Transport in unseren Ländern vor allem privat und chaotisch und wird mit Bussen, Kleinbussen, Taxis durchgeführt, wo die Zahl der Nutzer oft die Zahl der Sitzplätze übersteigt. Zudem wird die Fahrt vor Ort und bar bezahlt. Dies macht die Kontrolle und Umsetzung der erforderlichen Hygienemaßnahmen schwierig.

Dasselbe Szenario wiederholt sich auf Märkten, in Geschäften und beim Straßenverkauf, was zeigt, dass es einen großen Gegensatz zwischen unserer Realität und der europäischen Erfahrung oder asiatischen Ländern gibt.

Deshalb sollten unsere Regierungen die Rezepte, die in Ländern wie China, Südkorea, Europa angewendet wurden (und die möglicherweise für diese Realitäten geeignet sind), nicht strikt nachahmen, denn sie sind nicht exakt die Maßnahmen, die in unseren Ländern erforderlich sind und funktionieren.

Was Bolivien angeht, so hat sich die Regierung für eine Art "halbe Quarantäne" entschieden1, die die Menschen noch stärker der Gefahr aussetzt, denn während der erlaubten Stunden, in denen man sich bewegen darf, gibt es noch mehr Gedränge und Durcheinander. Was es noch schlimmer macht: Die Regierung von Jeanine Añez hat eine unerhörte politische Entscheidung getroffen, indem sie medizinische Hilfe aus Kuba ablehnte.

In Situationen wie den unseren genügt es nicht, die Bewegungsfreiheit der Menschen einzuschränken, denn dies stellt Millionen vor das Dilemma, zu Hause zu bleiben und zu verhungern oder auf die Straße zu gehen und sich dem Virus auszusetzen.

Die große Mehrheit unserer Bürger ist wirtschaftlich nicht in der Lage, per Internet einzukaufen und sie kann auch nicht mit Karte bezahlen. Nur eine kleine Minderheit verfügt über die Mittel, um Wochen in einem Regime der Ausgangsbeschränkung zu überleben und kann über das Internet Einkäufe tätigen und so den direkten Kontakt zwischen Personen vermeiden.

Es müssen unbedingt zusätzliche Maßnahmen ergriffen, alle zur Verfügung stehenden Mittel und Kreativität eingesetzt werden, um die Schwächsten zu schützen.

Eventuell können einige Regierungen mit Gewalt unter Einsatz von Polizei Militär Ausgangsbeschränkungen für einige Wochen aufrechterhalten, aber die soziale Explosion wird wegen des Hungers und der Restriktionen schwerwiegend sein.

Undemokratische und militaristische Versuchungen

Lateinamerika erlebt seit zwei Jahren eine ganze Reihe sozialer Proteste, die sozio-ökonomische Forderungen an die Regierungen stellen und die aktuelle Krise könnte für einige Regierende, die ihre Glaubwürdigkeit verloren haben, ein guter Vorwand sein, die Kontrolle wiederzuerlangen und die demokratischen Freiheiten einzuschränken.

Die harten Maßnahmen, die bereits unter Einsatz von Polizei und Streitkräften durchgesetzt werden, sind alarmierend, denn manche Staatsführungen könnten versucht sein, diese Gelegenheit für ihre eigenen Zwecke zu nutzen und einen De facto-Ausnahmezustand herbeizuführen und sich an der Regierung zu halten.

Es ist klar, dass der Staat die Pflicht hat, seine Bürger nicht nur vor dem Virus zu schützen, sondern auch zu verhindern, dass sie noch mehr verarmen; dass er verpflichtet ist, ihr Leben zu erhalten, ihre Gesundheit insgesamt, und ihren Lebensunterhalt zumindest in dieser Phase zu sichern, in der sie nicht arbeiten gehen können.

Es genügt nicht, der Bevölkerung anzukündigen, dass eine schwere Wirtschaftskrise oder eine Katastrophe bevorsteht.

Es wird Zeit, dass die internationalen und regionalen Institutionen kreative und solidarische Alternativen finden, die der lateinamerikanischen Realität und dem Grad der Verletzbarkeit unserer Bevölkerungen entsprechen.

Hoffentlich bedecken die Atemschutzmasken, die wir heute verzweifelt suchen, um unsere Gesundheit zu schützen, nicht unsere Augen und unsere Herzen, geschweige denn unseren Verstand; und hoffentlich können wir die Zukunft mit Hoffnung und ohne Angst aufbauen.

María Luisa Ramos Urzagaste aus Bolivien war in der Regierung von Präsident Evo Morales Vize-Außenministerin sowie Botschafterin in Russland und Spanien

  • 1. Ab Sonntag, 22. März gilt auf Anweisung von Putsch-Präsidentin Añez für 14 Tage eine "totale Quarantäne". Eine Person pro Familie darf vormittags das Haus verlassen, um einzukaufen; die Menschen sollen dabei einen Meter Abstand halten