Chile: "Wir wollen ein Ende der Straflosigkeit"

NGO und UN kritisieren Menschenrechtsverletzungen. Protestierende fordern Ende der Straflosigkeit, Rücktritt der Regierung und einen Systemwechsel

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Eliacer Flores hat sein rechtes Auge verloren, er demonstriert vor dem Regierungspalast La Moneda
Eliacer Flores hat sein rechtes Auge verloren, er demonstriert vor dem Regierungspalast La Moneda

Der 30-jährige Eliacer Flores ist auf seinem rechten Auge blind. Er wurde bei einem Protest im Zentrum von Chiles Hauptstadt Santiago von einem Polizisten aus zehn Metern Entfernung ins Auge geschossen. "Es macht mich wütend, dass der Polizist mir ins Gesicht geschossen hat, obwohl er wusste, welchen Schaden er damit anrichten kann", sagt Flores. "Damit wollen sie uns Angst machen, damit wir nicht mehr protestieren. Aber ich habe mit dem Auge auch die Angst verloren. Ich werde weiterkämpfen, bis wir die Veränderungen erreichen, die wir brauchen, um in Würde leben zu können."

Flores nimmt an einer Demonstration vor dem Regierungspalast La Moneda mit der Coordinadora de Victimas de Trauma Ocular teil, einer Organisation der Opfer, die während der Proteste seit dem 18. Oktober Augenverletzungen erlitten haben. Die Augen sind zum Symbol der Protestbewegung geworden. Dem Nationalen Institut für Menschenrechte (INDH) zufolge gibt es insgesamt 357 Opfer mit Augenverletzungen, der Großteil von ihnen in der Hauptstadt Santiago. Viele sind auf einem Auge erblindet. Der 23-jährige Student Gustavo Gatica ist auf beiden Augen erblindet, nach dem er von Gummigeschossen der Polizei getroffen wurde. Die 36-jährige Fabiola Campillay wurde auf dem Weg zur Arbeit von einer Tränengasgranate im Gesicht getroffen und hat ebenfalls vollständig das Augenlicht verloren.

"Wir wollen ein Ende der Straflosigkeit. Wie wollen nicht nur eine Ziffer in einer Statistik sein. Hinter der Statistik sind Menschen, von den viele nicht mehr arbeiten oder nicht mehr studieren können", erklärt Marta Valdés, die die Opfer-Organisation gegründet hat. Ihr 17-jähriger Sohn wurde ebenfalls von einer Tränengasgranate ins Gesicht getroffen. "Wir wollen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Verantwortlich ist der Präsident, der hinter diesen Mauern sitzt", sagt sie und zeigt auf das Regierungsgebäude.

Mitarbeiter des Hopsital Salvador gaben eine Materialuntersuchung der Gummigeschosse bei der Universidad de Chile in Auftrag. Diese stellte fest, dass die eingesetzten Geschosse lediglich zu 20 Prozent aus Kautschuk bestehen und zu 80 Prozent aus Verbindungen aus Kieselsäure, Bariumsulfat und Blei. Polizeichef Mario Rozas sah sich am 19. November gezwungen, den Einsatz der Gummigeschosse einzuschränken. Sie dürfen jetzt offiziell nur noch in "Extremsituationen und zur Selbstverteidigung der Polizisten" eingesetzt werden. Die Zahl der Verletzten steigt aber trotzdem täglich, was darauf hinweist, dass die Polizei nicht die Vorschriften und Protokolle einhält.

Dem INDH zufolge wurden während der Proteste 3.461 Menschen verletzt, 1.986 davon durch Schusswaffen. 9.308 wurden festgenommen und 194 haben sexuelle Gewalt erfahren. Amnesty International hat in einem Bericht darauf hingewiesen, dass die chilenischen Sicherheitskräfte "mit exzessiver und unverhältnismäßiger Gewalt" auf die Proteste reagiert haben und dass diese Gewalt "institutionalisiert" sei. "Sie geschah also auf Befehl oder zumindest unter Mitwissen von Präsident Sebastián Piñera. Die Protestierenden sollten so bestraft oder absichtlich geschädigt werden", heißt es in dem Bericht. Die Untersuchungsteams von Human Rights Watch und die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte kamen zu ähnlichen Ergebnissen und rieten der Regierung zu einer Reform der Polizei. Auch das Team der Vereinten Nationen erklärte in einem Bericht, dass die Polizei und die Armee während der Proteste nicht die internationalen Standards eingehalten haben. Die Regierung Piñera hat sich zwar bereit erklärt, die Polizei zu reformieren, will aber trotz der zahlreichen Berichte nicht anerkennen, dass systematisch die Menschenrechte verletzt werden.

Stattdessen kriminalisiert und unterdrückt die Regierung die Protestbewegung. Vor wenigen Tagen wurde das "Ley Anti-Saqueos" (Gesetz gegen Plünderungen) und das "Ley Anti-Barricadas" (gesetz gegen Barrikaden) verabschiedet, sogar mit Stimmen des linken Bündnisses "Frente Amplio", das deswegen stark von der Protestbewegung kritisiert wird.

Piñera erklärte am Donnerstag, dass er den sozialen Aufstand nicht habe kommen sehen. "Eine Welle brutaler Gewalt ist ausgebrochen, während kleine Gruppen ohne Gott und Gesetz alles verbrannt haben, was ihnen in den Weg kam", so der Präsident. Am Mittwoch stimmte der Senat für die Verfassungsklage gegen den ehemaligen Innenminister Andrés Chadwick, Cousin des Präsidenten und Unterstützer von Diktatir Augusto Pinochet. Die Verfassungsklage gegen den Präsidenten hatte jedoch keinen Erfolg. Seine Zustimmung ist indessen auf unter fünf Prozent gesunken.

Die Chilenen protestieren seit fast zwei Monaten gegen die soziale Ungleichheit im Land und das neoliberale Wirtschaftssystem, das während der Militärdiktatur eingeführt wurde. Sie protestieren nicht nur auf der Straße, sondern organisieren sich außerdem in sogenannten "Asambleas" oder "Cabildos", Nachbarschaftsversammlungen, in denen sie gemeinsam und basisdemokratisch den verfassungsgebenden Prozess vorbereiten.

Mit dem Abkommen für eine neue Verfassung, das die Regierung am 15. November gemeinsam mit der Opposition beschlossen hat, sind viele nicht einverstanden. Zum einen, weil die Bürger nicht in dem Abkommen berücksichtigt wurden, und zum anderen, weil es zahlreiche Kritikpunkte gibt. Im April soll in einem Referendum darüber abgestimmt werden, ob die Chilenen eine neue Verfassung wollen, und wenn ja, ob diese von einer gemischten Konvention (50 Prozent Abgeordnete und 50 Prozent gewählte Bürger) oder von einer Verfassungskonvention (100 Prozent gewählte Bürger) ausgearbeitet werden soll. Die Regierung weigert sich aber bisher, Quoten für Frauen und für indigene Völker festzulegen. Das vorgesehene Wahlsystem erschwert außerdem die Wahl unabhängiger Kandidaten.