Chile / Politik

Erste Regierungserklärung des Präsidenten von Chile: ¿Quo vadis?

In Chile hält das Staatsoberhaupt traditionell am 1. Juni im Kongress eine Regierungserklärung vor Abgeordneten und geladen Gästen

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Chiles Präsident Sebastian Piñera am 1. Juni auf dem Weg zum Kongress
Chiles Präsident Sebastian Piñera am 1. Juni auf dem Weg zum Kongress

In einer fast zweieinhalbstündigen Rede hat Präsident Sebastian Piñera seine Regierungsabsichten klargemacht und die Amtszeit seiner Vorgängerin Michelle Bachelet heftig kritisiert. Im Wesentlichen bekräftigte er seine schon aus dem Wahlkampf bekannten Regierungsabsichten und kündigte wenig Konkretes an. Überraschungen gab es nicht, aber heftige Kritik aus den verschiedenen sozialen Bewegungen und den Oppositionsparteien.

Gemäß dem seinem rechten Regierungsbündnis eigenen Selbstverständnis hat Piñera in seiner Erklärung Schwerpunkte auf Familie, Verbrechensbekämpfung, nationalen Dialog und Wirtschaftspolitik gelegt, ohne jedoch konkrete Gesetzesvorschläge zu machen oder Konzepte für die Umsetzung seiner Ideen vorzulegen.

Im Wahlkampf hatte er eine Senkung der Unternehmenssteuern angekündigt, ist aber jetzt davon abgerückt. Er will lediglich einige Ausführungsbestimmungen ändern, um die Steuererklärungen zu vereinfachen. Aus dem Unternehmerlager kam wenig Protest. Man will es sich nicht mit dem Unternehmerpräsidenten wegen einiger Prozentpunkte verderben und lieber von den angekündigten Konzessionierungen öffentlicher Infrastruktur profitieren. Da Piñera auch keinerlei Interesse zeigt das marode, ausschließlich private Rentensystem zu ändern ist auch gesichert, daß die Rentenversicherer weiterhin Milliarden in Aktien und Fonds investieren. Außerdem hat Piñera angekündigt die Rentenbeiträge der Männer an die überhöhten Beiträge der Frauen anzupassen. Frauen zahlen mehr, weil sie ein erhöhtes "Risiko" darstellen, sie könnten schwanger werden. Die Maßnahme, als Form der Gleichberechtigung angekündigt, wird von den Gewerkschaften und der Protestbewegung gegen das Rentensystem "No + AFP" entschieden zurückgewiesen.

Den vielbeschrienen wirtschaftlichen Niedergang (für den die Regierung Bachelet verantwortlich gemacht wird), der keiner ernsthaften Analyse standhält und eher zyklische und weltwirtschaftliche Ursachen hat, will Piñera mit massiver Konzessionierung öffentlicher Einrichtungen und Infrastruktur sowie einer zu befürchtenden Lockerung der Umweltschutzbestimmungen begegnen.

Zum Thema "innere Sicherheit" bekräftigte der Präsident noch einmal seinen Willen, die uniformierte und zivile Polizei aufzurüsten. Natürlich sind Überfälle, Raub und Drogenhandel ein Problem, aber Chile ist weit davon entfernt als "unsicher" zu gelten. Mordraten und Schwerkriminalität sind nicht annähernd mit der Situation in Ländern wie Mexiko, Kolumbien und Brasilien zu vergleichen. Vielmehr müssen die etnischen Konflikte mit den Mapuche dafür herhalten, um ein neues Antiterrorgesetz auf den Weg zu bringen.

Chile erlebt in diesen Tagen eine große, von Schülerinnen und Schülern und Studierenden getragene Emanzipationsbewegung. Die Regierung wurde von den massiven Protesten gegen sexistische Angriffe und sexistische Erziehung sowie den Forderungen nach Gleichberechtigung und Recht auf körperliche Selbstbestimmung überrascht und versucht nun daraus politisches Kapital zu schlagen. Sie unterstützt verbal einige Forderungen, aber angesichts des internen Widerstands ultrarechter und klerikaler Eiferer ist nicht anzunehmen, dass die angekündigten Verfassungsänderungen irgendwelche konkreten Folgen haben könnten. Das sehen auch die Frauenorganisationen so und sind am 6. Juni erneut massenhaft auf die Straße gegangen. Auf die Kritik der sozialistischen Parlamentsabgeordneten Maya Fernandez an der Rede Piñeras wusste dieser nur mit einem sexistischen Spruch zu antworten: "...sieht so hübsch aus, ist aber so hart in ihrer Kritik..." ("...tan linda que se ve y tan dura que es ..." ).

Die Wohnungsnot, es fehlen wenigstens 500.000 Wohnungen und eine gleiche Zahl ist renovierungsbedürftig, will er marktgerecht über Kredite beheben, sozialer Wohnungsbau in breitem Maße ist eher nicht vorgesehen.

Nachdem Piñera die Gesetzesvorlage der Vorgängerregierung zur Hochschulreform gestoppt hat, legt er einen fast identischen Vorschlag vor.

Eine von der Regierung Bachelet abgeschlossene Studie über die Kinder- und Jugendheime wird wegen angeblicher Geldveruntreuung in die Ablage verbannt und eine neue Studie angekündigt, die endlich die Basis für eine weitreichende Reform geben soll. Die himmelschreienden Zustände ‒ jugendliche Kriminelle sind zusammen mit Opfern familiärer Gewalt untergebracht, eine große Zahl der Heiminsassen geht nicht zur Schule, Gewalt, Prostitution, Alkoholismus und Drogenkonsum im Heimalltag sowie hunderte Todesfälle in den letzten Jahren ‒ verlangen dringendes Handeln.

Ansonsten widmet sich Piñera eher banalen Themen wie dem Ausbau des Zoos in Santiago und der verantwortlichen Haltung von Haustieren.

Andere angekündigte Maßnahmen sind Straßenbau, Ausbau des Kommunikationsnetzes, Sportförderung, etc.

Lediglich die Ankündigung weiterer U-Bahnlinien für Santiago hat überrascht. Schon am nächsten Tag waren Meldungen über kommende Immobilienspekulationen in der Nähe der geplanten Linien in der Presse zu lesen. Die Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs geht unter den bestehenden Verhältnissen immer mit Vertreibung alteingesessener Bewohner und Zerstörung historischer Viertel einher. Ein 15-stöckiges Wohnsilo, hochgezogen wo vorher vier oder fünf Einfamilienhäuser standen, verspricht mehr Rendite.

Außenpolitisch geht Piñera offen auf US-Kurs, was die Angriffe auf Venezuela angeht. Man vermisst eine Verurteilung der über 100 Morde an Kandidaten in Mexiko, dagegen bezeichnete er die Wiederwahl von Nicolás Maduro als undemokratisch, seine Person als Diktator und zieht den chilenischen Botschafter aus Caracas ab. Auch in der Flüchtlingsfrage treten seine Ansichten offen zutage. Während die Einreise haitianischer Flüchtlinge auf administrativem Wege fast vollständig gestoppt wurden, lädt die Regierung die Venezolaner ein, nach Chile zu kommen.

Die ganze Rede war mit Aufrufen zur Zusammenarbeit und zu großen parlamentarischen und gesellschaftlichen Kompromissen durchsetzt. Die Frage, warum die rechte Opposition der Vorgängerregierung mit Pauschalurteilen wie schlechte Gesetze, Regierungsunfähigkeit und ideologischer Blindheit das Regieren unmöglich gemacht hat, blieb unbeantwortet. Auch ist ein gesellschaftlicher Kompromiss angesichts der extremen sozialen Ungerechtigkeit (0,1 Prozent der Superreichen vereinen 19,5 Prozent des Gesamteinkommens und 50 Prozent der Chilenen arbeiten im Niedriglohnsektor) eher als Demagogie zu betrachten.