Rio de Janeiro: "Die Armee verhält sich wie in einer Diktatur"

Die Aktivistin Gizele Martins aus der Favela Maré in Rio de Janeiro schildert die Situation seit der Militärintervention und dem Mord an Marielle Franco

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Gedenkmarsch für Marielle Franco und Protest gegen die Militarisierung in Rio de Janeiro am 21. März
Gedenkmarsch für Marielle Franco und Protest gegen die Militarisierung in Rio de Janeiro am 21. März

Gizele Martins aus der Favela Maré ist Journalistin, comunicadora comunitaria und in der Bewegung der Favelas in Rio de Janeiro aktiv. Aktuell engagiert sie sich in der Kampagne "Caveirão Não" (Nein zu den gepanzerten Militärfahrzeugen), die gegen die Polizeioperationen, gegen die Morde und die Militarisierung des Lebens kämpft. Die Kampagne fördert in den Favelas dass über und gegen die Militarisierung gesprochen wird und verlangt eine Aufklärung der Morde, die durch die Polizei verübt werden. Das Gespräch fand am Rande des 14. Weltsozialforums in Salvador da Bahía statt

Kannst du uns erklären, wie die Situation in den Favelas aussieht?

Die Leute in den Favelas in Rio de Janeiro erleben ein Massaker, durchgeführt vom brasilianischen Staat, der sich demokratisch nennt. Es ist ein terroristischer Staat, der seit 500 Jahren die schwarze und indigene Bevölkerung tötet. Es sind diese Menschen, die heute in den Favelas von Rio de Janeiro wohnen und zu überleben versuchen. Sie haben keine Wohnungen, kein Wasser, sie suchen Arbeit.

In der Favela haben wir unsere Kultur, eine Plattform unserer Art zu leben, wir haben unsere kommunitäre Kommunikation, wir erarbeiten ein kollektives Gedächtnis der Gemeinschaft. Der Staat kriminalisiert und bedroht die Bewohner. Jeden Tag werden Menschen in den Favelas von Rio de Janeiro von der Militärpolizei ermordet. Gestern waren es drei in der Favela Alemão, darunter ein einjähriges Kind. Das ist heute die Situation: Morde, Hetzjagden, Drohungen. Marielle 1 war eine Freundin von mir, sie hat hier gelebt und war Teil der Bewegung der Favela Maré, sie wurde ermordet, weil sie für unsere Rechte gekämpft hat, weil sie schwarz und Frau war und angeprangert hat, was in den Favelas von Rio de Janeiro passiert.

Ist der Mord an Marielle Franco eine neue Stufe der staatlichen Gewalt?

Der Mord war eine Drohung an uns alle. Er ist eine neue Stufe der Gewalt, die wir nicht erwartet haben. Wir haben eine Sichtbarkeit der Menschenrechtsverteidigerinnen gesucht, als Schutz, damit sie nicht ermordet werden. Marielle hatte diese Sichtbarkeit. Sie haben eine Person umgebracht, die bekannt war. Das ist eine neue Ebene, wie die Polizei Leute umbringt: Es interessiert sie nicht mehr, ob die Leute bekannt sind oder nicht. Wir erleben eine Diktatur, die in Rio de Janeiro mit der Militärintervention begonnen hat.

Wie ist die Situation von euch, die ihr in den Favelas gegen diese Intervention kämpft?

Derzeit versuchen wir zu verstehen, was passiert und wir suchen nach Formen, wie wir uns schützen können. Dafür brauchen wir auch Unterstützung, denn es geht jetzt darum, dass Menschenrechtsaktivisten nicht bei sich zu Hause bleiben können, sondern dass sie ihre Wohnung wechseln müssen. Das ist schlimm.

Wie können euch internationale Bewegungen unterstützen?

Indem ihr öffentlich macht und anprangert , was in Rio de Janeiro und ganz Brasilien passiert. Auch indem ihr nach Brasilien kommt und indem Menschenrechtsorganisationen das Thema aufnehmen. Es geht um Sichtbarkeit, finanzielle Unterstützung, Unterkunft, Transportkosten. Greift unsere Kampagne gegen die Militarisierung der Favelas auf.

Wie hat sich die Situation seit dem Einsatz der Armee verändert? Vorher war ja bereits die Militärpolizei vor Ort, die Menschen in den Favelas umbringt.

Wir haben unsere Kampagne vor vier Monaten gestartet, das heisst, wir haben bereits vor der Armeeintervention gegen die gepanzerten Militärfahrzeuge gekämpft. Jetzt kämpfen wir in Zeiten des Kriegs. Das Szenario hat sich völlig verändert. Es geht nicht mehr nur um die Intervention der Militärpolizei, sondern gegen die Militärintervention, gegen die brasilianische Armee auf unseren Straßen, gegen den Geheimdienst, von dem wir nicht wissen, wie er vorgeht.

Kannst du uns erklären, was die MIlitärpolizei und was die Armee ist?

Die Militärpolizei wurde vor 200 Jahren gegründet, um die Kolonialherren und Großgrundbesitzer zu schützen. Heute schützt sie die Mächtigen, die Reichen und geht gegen die Armen vor. Die Militärpolizei in Rio ist die Polizei, die weltweit am meisten Menschen umbringt. Die Armee schützt die Grenzen und wird auf Bundesebene kontrolliert. Jetzt ist diese Armee auch in den Favelas präsent. Sie schüchtert die Menschen ein, benutzt Waffen, die die Polizei nicht benutzt, hat andere Befugnisse. Das Gesetz, das den Einsatz der Armee in Rio erlaubt, wurde während der Militärdiktatur angewendet. Die Armee hat Befugnisse, die über diejenigen der Polizei hinausgehen. Sie verhält sich wie in einer Diktatur.

  • 1. Marielle Franco, lokale Abgeordnete der Sozialistischen Partei in Rio de Janeiro, wurde bei einem gezielten Angriff Mitte März in ihrem Dienstwagen erschossen. Der Fahrer kam dabei ebenfalls ums Leben