Die Prozesse gegen die Folterer der geheimen Internierungszentren in Argentinien sind Katalysatoren, die die gesellschaftlichen Debatten um Vergangenheit und Gegenwart des Landes vorantreiben. Kürzlich hat ein weiterer Prozess begonnen.
20. September 2016, Tribunal Federal 2, Comodoro Py 2002, Buenos Aires. Der Gebäudekomplex, der die Schwurgerichte der Stadt Buenos Aires beherbergt, nimmt mit seiner bürokratischen Nüchternheit einen ganzen Häuserblock ein. Gleich hinter ihm beginnt das Hafenviertel. Vom Stadtzentrum ist er durch mehrspurige, vom Schwerverkehr beherrschte Avenidas abgeschnitten. Als Fußgänger muss man diese mit viel Geduld und ein wenig Mut überwinden, um zum Ziel zu gelangen. Es gibt neben dem Gericht aber auch nicht viele weitere Gründe, um diesem Teil der Stadt einen Besuch abzustatten. Das Gebäude betritt man durch ein zentrales Hauptportal, das von hohen Eisengittern umgeben ist. Der Metalldetektor an der Schwelle zur Eingangshalle schlägt jedes Mal Alarm, wenn ihn jemand passiert. Das Sicherheitspersonal hält dennoch niemanden an. Um der Verhandlung beiwohnen zu können, ist es nötig, sich im sechsten Stock anzumelden. Die jungen Beamten hinter dem Schalter wollen den Pass sehen und fragen dann, welcher Seite man zugehöre. Wer die Frage nicht ganz versteht, dem geben sie zur Auswahl: "Anklage oder Verteidigung?" "Anklage selbstverständlich." Der junge Mann verschwindet in einem Nebenraum und kehrt Minuten später mit dem Pass und einem ausgefüllten und unterzeichneten Zettel wieder zurück, der die Zutrittserlaubnis in den Verhandlungssaal bedeutet. Danach geht es vom sechsten Stock mit dem Fahrstuhl zurück ins Erdgeschoss und von dort über einige Stufen hinunter in den Keller.
Der Verhandlungssaal ist fensterlos und in ein schummriges künstliches Licht getaucht. Der Publikumsbereich ist durch eine Glaswand vom Innenbereich abgetrennt. Drinnen gibt es mehrere Stuhlreihen für die Vertreter der Anklage, der Nebenkläger und der Verteidigung, die Bank der Angeklagten und ganz am Ende, auf einem Podium erhöht, die Richterbank. Nicht zu sehen ist die Galerie, die sich direkt über dem allgemeinen Publikumsbereich befindet und die nur durch einen separaten Zugang über das Erdgeschoss zu betreten ist. Dort sitzen die Angehörigen und Unterstützer der Angeklagten, streng getrennt und außerhalb des Blickfeldes des Rests der Zuschauer.
Der allgemeine Publikumsbereich ist an diesem Tag prall gefüllt. Sämtliche Stühle sind besetzt. Menschen stehen an die Wand gelehnt oder haben am Boden Platz genommen. Unter den vielen Köpfen stechen in der ersten Reihe zwei hervor, bedeckt mit den weißen Kopftücher der Madres de la Plaza de Mayo. Es ist eine leichte Spannung zu verspüren. Dann betreten die drei Richter den Saal. Alle im Innenbereich erheben sich – das Gerichtspersonal, die Vertreter der Staatsanwaltschaft, der als Nebenkläger auftretenden Menschenrechtsorganisationen und der Verteidigung. Die Bank der Angeklagten ist dagegen nach wie vor leer. Die Richter bitten nun die Presse in den Saal, woraufhin sich eine Handvoll Fotografen durch das Publikum drängt und von Sicherheitsbeamten durch eine Glastür in den Innenbereich eingelassen wird. Ein mehrminütiges Blitzlichtgewitter beginnt. Danach werden die Fotografen wieder aus dem Saal geführt. Die Richter verkünden ihre erste Entscheidung: Von nun an sei es untersagt, Fotos von der Verhandlung zu schießen. Im Publikum macht sich ein Raunen breit. Manche bringen ihren Unmut deutlich zum Ausdruck: "Uns dürfen sie fotografieren, nur die Angeklagten werden in Schutz genommen? Das kann doch wohl nicht deren Ernst sein!" Manche versuchen Verständnis aufzubringen: "Sie wollen verhindern, dass durch die Veröffentlichung der Fotos die Gegenüberstellung beeinflusst wird."
Der Ablauf im Verhandlungssaal bleibt von der Unruhe im Publikum unberührt. Die Richter teilen dem Gerichtspersonal mit, die Angeklagten mögen nun in den Saal gebracht werden. Eine Tür öffnet sich und neun ältere Herren in Begleitung einiger Justizbeamter betreten den Saal. Erneut Unruhe im Publikum. Manche erheben sich, um einen Blick zu erhaschen. "Kennst du den? Ich glaube, der rechts, das ist Marc. Und der neben ihm ist Feito … Was will dieser Hurensohn?" Einer der älteren Herren hat sich dem Publikum zugewandt, seinen Blick nach oben gerichtet, in Richtung der Galerie, in der die "andere Seite" Platz genommen hat. Er streckt beide Arme aus. Die Handschellen werden sichtbar. Dann streckt er mit einem Lächeln und einer Geste der Siegesgewissheit beide Daumen nach oben. Im Publikum hier "unten" wird das als Provokation gedeutet. Wie die "oben" darauf reagieren, können wir nicht sehen. Die neun Herren sind halb formell, halb leger gekleidet. Die meisten tragen Sakko und Hemd, jedoch ohne Krawatte. Das Haar ist bereits schütter. Einer von ihnen sticht jedoch hervor: Sein langes weißes Haar hat er im Stile eines Bikers hinten zu einem Zopf gebunden, der ihm bis zur Mitte des Rückens hinunterhängt. Die neun nehmen mit dem Rücken zum Publikum Platz, und die Verhandlung beginnt.
Die Namen der Angeklagten sind: Gerardo Jorge Arraez, Juan Carlos Mario Chacra, Eduardo Ángel Cruz, Alfredo Omar Feito, Raimundo Oscar Izzi, Carlos Alberto Lorenzatti, Héctor Horacio Marc, Juan Miguel Méndez und Ricardo Valdivia.
Sie alle waren vormals Angehörige der argentinischen Bundespolizei, der Justizwache oder des Militärs und Schergen der Militärdiktatur in Argentinien. Konkret wird ihnen zur Last gelegt, zwischen 1976 und 1979 an Entführungen, Folterungen und Morden in drei geheimen Internierungszentren mit den Namen Club Atlético, Banco bzw. Olimpo – kurz: ABO – beteiligt gewesen zu sein.
Am 24. März 1976 putschte in Argentinien das Militär gegen die Regierung von Präsidentin María Estela Isabel Martínez de Perón. Zehntausende Menschen wurden während der folgenden sieben Jahre vom Staat aus politischen Motiven verschleppt, interniert, gefoltert und ermordet. Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen zufolge wurden etwa 30.000 Personen getötet oder blieben bis heute verschwunden. Das Ziel der Militärs war die totale Auslöschung der linken Opposition aus Arbeiter- und Studentenbewegung und der sozialen Räume, in denen diese gedieh. Zur Durchführung ihres Massenmords errichteten die Militärs ein Netz von über das gesamte Land verteilten geheimen Internierungszentren (Centros Clandestinos de Detención – CCD), in denen sie diejenigen, die sie als ihre Gegner definierten, isolierten, nach systematischen Methoden folterten und danach zum Großteil töteten.
Der Komplex ABO war ein Glied in diesem Netzwerk, das nach heutigen Forschungen mehr als 760 geheimer Internierungsorte umfasste. Die Lager Club Atlético, Banco und Olimpo existierten nacheinander unter dem Kommando des Ersten Armeekorps. Für den Betrieb aller drei Lager war die Polizei zuständig. Das CCD im sogenannten Club Atlético bestand von Mitte 1976 bis Ende 1977 und befand sich im südlichen Stadtteil San Telmo der Hauptstadt Buenos Aires. Zwischen 1.500 und 1.800 Personen wurden dort geheim festgehalten und gefoltert, die meisten von ihnen blieben bis heute verschwunden. Wegen des Baus einer Autobahn musste das Gebäude aufgegeben werden. Der Großteil der zu diesem Zeitpunkt noch verbliebenen Gefangenen wurde daraufhin in das CCD El Banco überstellt. Dieses bestand von Ende 1977 bis Mitte 1978 im Bezirk Matanza südlich der Hauptstadt auf einem Gelände der Provinzpolizei von Buenos Aires. El Banco war von Beginn an als nur temporärer Unterbringungsort für die Entführten bis zur Fertigstellung eines neuen Internierungszentrums im sogenannten Olimpo vorgesehen. Im August 1978 wurden die ersten Gefangenen dorthin überstellt. Das CCD Olimpo wurde im Stadtteil Floresta in Buenos Aires auf einem Gelände mit ehemaligen Kfz-Werkstätten der Bundespolizei eingerichtet. Im Januar 1979 wurde es vermutlich wegen des angekündigten Besuchs der Interamerikanischen Menschenrechtskommission in Argentinien aufgelöst. Vor der endgültigen Schließung des Zentrums wurden die verbliebenen Gefangenen ermordet, einige wenige auch in andere Lager überstellt. Während seiner Existenz dürften etwa 500 Menschen im Olimpo illegal festgehalten, gefoltert und zum Großteil auch ermordet worden sein.
Das aktuelle Gerichtsverfahren ist nicht das erste zum Lagerkomplex ABO. Bereits im Jahr 2010 ging ein erster Prozess über die Bühne, im Zuge dessen insgesamt 181 Fälle von verschwundenen Personen verhandelt und dafür 16 Angeklagte verurteilt wurden. Zwei Jahre später stieg ein weiteres Verfahren, welches mit der Verurteilung zweier weiterer ehemaliger Folterer endete. Der nun begonnene Prozess ist somit bereits der Dritte zu diesem Lagerkomplex und firmiert unter dem Namen ABO III.
Nach den einführenden Worten des Vorsitzenden des Richtersenats beginnt die Staatsanwältin Gabriela Sosti mit der Verlesung der Anklage. Am Ende wird es zwei Stunden gedauert haben, bis sämtliche 352 in den kommenden Monaten zu verhandelnden Einzelfälle verlesen sind. In allen Fällen lautet die Anklage auf illegale Freiheitsberaubung und Folter. Nur in einigen wenigen, in denen der Tod der betreffenden Personen eindeutig festgestellt werden konnte, auch um Mord.
Die Vorgehensweise der Militärs zeichnete sich dadurch aus, dass Verfolgung und Repression im Geheimen stattfanden. Es sollten möglichst keine Spuren eines konkreten Verbrechens hinterlassen werden, auch nicht in Form der Körper der Ermordeten. Doch nicht immer waren die Täter damit erfolgreich. Eine der Methoden um sich der Körper der Verschwundenen zu entledigen war, sie in noch lebendem Zustand aus Flugzeugen über den Rio de la Plata abzuwerfen. Doch der Fluss hatte oft seinen eigenen Willen und spülte die Körper wieder zurück ans Ufer, wo sie dann zumeist von unbedarften Anrainern aufgefunden wurden. In den Jahren der Diktatur erschienen in den Zeitungen immer wieder Fotos und Berichte von angespülten Leichen nicht nur am Ufer des La Plata in Buenos Aires sondern auch im gegenüber liegenden Uruguay oder an der südlich gelegenen Meeresküste. Sie schafften es jedoch kaum über Kurznotizen hinaus, die nichts zur Aufklärung beitrugen, dafür aber ein vages Bedrohungsgefühl unter den Menschen säten. Eine andere Methode der Mörder, die Körper der Toten zu beseitigen war, sie in Fässer zu stecken und im Wasser zu versenken. Doch manche waren einfach nicht zum Verschwinden zu bringen. Die Behördenermittlungen führten in Fällen solcher Leichenfunde selbstverständlich nie zu einem Ergebnis, waren es doch die Behörden selbst, die für das Verbrechen verantwortlich oder zumindest darüber informiert waren. Die aufgefundenen Körper wurden als NN –Identität unbekannt– in den nächstgelegenen Friedhöfen bestattet. So vergingen Jahre und Jahrzehnte. Erst mittels moderner forensischer Methoden und Dank der herausragenden freiwilligen Arbeit des Equipo Argentino de Antropología Forense (EAAF), einer Vereinigung von forensischen Anthropologen im Dienste der Menschenrechte, konnte in den letzten zwei Jahrzehnten eine beträchtliche Zahl dieser unbekannten Opfer identifiziert werden.
Die Verknüpfung der Untersuchungsergebnisse der EAAF mit den zeitgenössischen Anzeigen von Angehörigen über das Verschwinden der betreffenden Personen sowie mit Aussagen von Überlebenden der Folterzentren, die diese Personen dort noch lebend gesehen haben, erbringen in manchen Fällen den Nachweis über ihr tatsächliches Schicksal. Viele Angehörige erfahren so oft Jahrzehnte später, was ihren Söhnen und Töchtern, Brüdern und Schwestern tatsächlich angetan worden ist.
Auch im Fall des CCD Olimpo leistete das Team der EAAF entscheidende Aufklärungsarbeit. Sie erlaubt es der Staatsanwaltschaft und den Nebenklägern heute, in 19 Fällen nicht nur wegen illegaler Freiheitsberaubung und Folter, sondern auch wegen Mordes anzuklagen. Die Geschichte, die sie rekonstruieren konnten, geht wie folgt: Am 6. Dezember 1978 wurden im CCD Olimpo 19 Gefangene mit ihrer Häftlingsnummer aufgerufen. Ihnen wurde befohlen, sich in einer Reihe aufzustellen und einen Teil ihrer Kleider abzulegen. Danach verabreichte man ihnen ein angebliches Beruhigungsmittel, man lud sie auf einen Lastwagen und brachte sie damit zu einem Flugzeug. Den Gefangenen war zuvor versichert worden, man würde sie auf eine "Erholungsfarm" in den Süden fliegen.
Ob die neunzehn Gefangenen mitbekamen, dass sie Minuten später aus mehreren hundert Metern Höhe auf der Wasseroberfläche des Rio de La Plata wie auf einem Betonboden aufschlugen, bleibt unbekannt. Einige Wochen nach dieser Begebenheit wurden zehn Leichen an der Küste aufgefunden und als NN begraben. Im Jahr 2007 konnten diese schließlich von den Forensikern als Angehörige genau jener Gruppe identifiziert werden, die am 6. Dezember 1978 „überstellt“ worden war. Der damals für die Untersuchungen gegen die Täter des Lagerkomplexes ABO zuständige Richter Daniel Rafecas stimmte der Erweiterung der Anklage um Mord in 19 Fällen zu und bezog damit nicht nur die Fälle jener Gefangenen mit ein, deren Tod nachgewiesen war, sondern auch jener, die mit diesen auf dieselbe "Überstellung" geschickt, deren Körper jedoch niemals aufgefunden wurden.
Nach Verlesung der Anklage wird der erste Verhandlungstag für beendet erklärt. Die Angeklagten im Saal erheben sich von ihren Stühlen und strecken ihre Beine durch. Die Zuschauer hinter der Glasscheibe machen dasselbe. Und dann beginnen einige von ihnen zu singen, und spontan stimmen alle anderen mit in den Chor ein: "Cómo a los nazis les va a pasar: a donde vayan los iremos a buscar" ("Wie den Nazis wird es ihnen ergehen: Wo immer sie sich auch verkriechen, wir werden sie uns holen"). Die Angeklagten tun so, als würden sie davon keine Notiz nehmen. Das Publikum verlässt langsam den Saal.
Unter ihnen befindet sich Isabel Fernández Blanco. Sie ist gekommen, um die ersten beiden Tage des Prozesses mitzuverfolgen. Danach, wenn die Einvernahme der Zeuginnen und Zeugen beginnt, darf sie nicht mehr dabei sein. Sie ist nämlich selber Zeugin: Isabel Fernández Blanco war Gefangene in den Folterlagern Banco und Olimpo. Ihre Aussage wird eine der letzten sein, das heißt, dass es noch ein Jahr dauern kann, bis sie an der Reihe ist. Bis dahin kann sie den Prozess, auf den sie sich lange mental vorbereitet hat, nur aus der Distanz mitverfolgen. Sie hat dafür ihre Psychotherapie wieder aufgenommen. Wenn Überlebende im Gerichtssaal ihren Folterern gegenübersitzen, öffnet sich die Vergangenheit in ihnen oft wie ein Strudel, der sie zu verschlingen droht. Sie werden in dem Moment wieder zu Opfern. Das will Fernández Blanco auf jeden Fall vermeiden. So wie in den Prozessen davor, in denen sie als Zeugin ausgesagt hat, will sie auch in diesem Fassung bewahren und so viele Informationen wie möglich liefern, die zur Verurteilung der Täter führen.
Fernández Blanco hat viele Erinnerungen, etwa an die ersten Tage nach ihrer Einlieferung in das CCD Banco und an das Gesicht ihres ersten Folterers Julio Héctor Simón, alias Turco Julián: "Eines Tages holte er mich aus meiner Zelle und brachte mich in ein kleines Zimmer. Dort brachte er mich mit seinen Schlägen halb um. Stundenlang schlug er mich. Aber irgendwann kommt der Moment, an dem du aufhörst, Schmerzen zu empfinden. Ich spürte nichts mehr. Er konnte mich weiter schlagen, aber mein Körper war von den vielen Schlägen wie betäubt. Ich konnte nicht mehr vom Boden aufstehen, und da begann ich zu heulen. Ich erinnere mich noch, was er mir sagte: 'Was für ein Glück du hast, dass du heulen kannst.' Dann half er mir auf die Beine, setzte mich auf einen Stuhl und bot mir eine Zigarette an."
Julio Héctor Simón alias Turco Julián war einer der berüchtigtsten Folterer im Komplex ABO. Dennoch konnte er nach dem Ende der Diktatur jahrzehntelang frei herumlaufen. Er absolvierte in den 90er Jahren sogar Auftritte in Fernsehshows, wo er sich öffentlich seiner Taten in den Folterzentren brüstete.
Die Folterer und Mörder der CCD waren in Argentinien lange Zeit vor jeglicher juristischen Verfolgung sicher, und das obwohl die erste Phase der juristischen Aufarbeitung mit der Einsetzung einer Nationalen Kommission über das Verschwindenlassen von Personen (COANDEP) im Jahr 1983 und die gerichtlichen Verurteilungen der Mitglieder der Militärjuntas im Jahr 1985 vielversprechend begann. Doch danach verebbte der staatliche Aufklärungs-und Aufarbeitungswille.
Unter dem demokratischen Präsidenten Raúl Alfonsín1 – und unter dem Druck des Militärs, das offen mit einem neuen Putsch drohte – wurden 1986 und 1987 zwei Gesetze verabschiedet, die die weitere Strafverfolgung praktisch zum Erliegen brachte: das erste setze ein zeitliches Ultimatum, nach welchem keine weiteren Anzeigen wegen Menschenrechtsverletzungen mehr eingebracht werden konnten; das andere machte Gehorsamspflicht gegenüber Vorgesetzten geltend und gewährte damit den tatsächlichen Folterern, die oft niedrigeren militärischen Rängen entstammten, praktisch Straffreiheit. Alfonsíns Nachfolger Carlos Menem erließ schließlich Amnestiegesetze, mit denen die bis dahin Verurteilten wieder auf freien Fuß gelangten.
Doch im Jahr 2003, zwei Jahre nach dem Volksaufstand2, wurden diese Gesetze unter der Regierung von Präsident Néstor Kirchner vom Kongress für ungültig, zwei Jahre später vom Obersten Gerichtshof auch für verfassungswidrig erklärt. Dies öffnete den Weg für neue Prozesse gegen die Täter. Und es war Julio Héctor Simón alias Turco Julián, der als erster verurteilt wurde: im Jahr 2006 zu 25 Jahren Haft, im Jahr 2010 wegen anderer Delikte schließlich zu lebenslang.
Der Soziologie Daniel Feierstein machte sich für ein 2015 erschienenes Buch die Mühe, sämtliche seit 2006 geführten Prozesse und ergangenen Urteile gegen die Täter der argentinischen Militärdiktatur zu analysieren. Bis Jahresende 2013 wurden demnach 110 Urteile gefällt, die sich auf mehr als 3.000 individuelle Fälle beziehen. Von etwa 600 Angeklagten wurden mehr als 550 für schuldig befunden und verurteilt – eine Bilanz die weltweit ihresgleichen sucht, wenn es um die juristische Verfolgung staatlicher Kapitalverbrechen geht.
Die Prozesse waren unter den Regierungen von Néstor und Cristina Fernández de Kirchner als staatspolitische Priorität vorangetrieben worden. Mit dem Regierungswechsel und dem Amtsantritt des konservativen Staatspräsidenten Mauricio Macri Ende 2015 hegten viele die Befürchtung, dass die Verfahren zum Stillstand kommen könnten. Doch zeigt sich, dass diese mittlerweile eine soziale Dynamik erreicht haben, die auch die gegenläufigen politischen Interessen der neuen Regierung nicht mehr zu stoppen vermögen. Zwar wurden unter Macri bereits Budgets und Personal im Zusammenhang mit den Prozessen gekürzt, wodurch sich die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft verlangsamen und auch die dringend notwendige psychologische Betreuung der Zeugen und Zeuginnen immer dürftiger wird. Doch obwohl die Umstände, unter denen sie stattfinden, prekärer werden, die Prozesse selbst gehen weiter.
Pilar Calveiro nannte das CCD einen Ort des Wahnsinns. Der Wahnsinn rührt daher, dass man nie genau wusste, woran man war, da die Verhaltensweisen der Repressoren auf zynische Weise widersprüchlich waren. "Es konnte zum Beispiel sein, dass dich die Wachleute die Zelle verlassen ließen, dass du dich auf dem Flur sogar mit Mitgefangenen unterhalten konntest", erzählt Isabel Fernández Blanco. "Und dann kamen andere Wachleute und sie verprügelten dich mit ihren Schlagstöcken. Es war wie mit einem Stein, den man erhitzt und wieder abkühlt bis er bricht. Das war ihr Ziel. Es war wie die Unterwelt in der Welt, von der niemand wusste, dass sie existiert. Sie wird zu deiner Welt." Im Olimpo herrschte eine dauerhafte alltägliche Gewalt, die schwer mit Worten zu beschreiben ist. Isabel Fernández Blanco erzählt und kann damit die Gesamtverfasstheit dieser "Unterwelt" doch nur andeuten: "Ich erinnere mich an einen Mitgefangenen, Raúl. Er hatte auf der Militärakademie studiert. Sie erniedrigten und folterten ihn derart, dass wir alle in unseren Zellen weinen mussten. Wir hörten, wie sie ihn herausholten und ihn verprügelten. Und dann ließen sie ihn den Flur entlangmarschieren und die Hymne der Militärakademie singen … Oder Pepe und Juan. Die beiden folterten sie besonders oft. Juan haben sie etwa mit kochendem Wasser verbrannt. Eines Tages zwangen sie die beiden zu Oralsex. Pepe war an den Beinen amputiert, weshalb sie ihn ebenfalls permanent folterten. Sie nahmen ihm den Rollstuhl weg und ließen ihn am Boden kriechen. Aber die Folter betraf nicht nur sie. Die Folter betraf uns alle."
Doch so wie die meisten Überlebenden spricht auch Fernández Blanco nicht gerne über solche Details. Nicht etwa, weil sie selbst es nicht ertragen würde. Zumeist sind es vielmehr die anderen, die es nicht ertragen und sich den Erzählungen der Überlebenden gegenüber verschließen. Über lange Jahre suchten sie daher nach geeigneten Strategien, um über ihr eigenes Trauma zu sprechen – eine Notwendigkeit, um es verarbeiten zu können – ohne die anderen zu traumatisieren oder Abwehrreaktionen in ihnen hervorzurufen, die am Ende auf ein gesellschaftliches Vergessen drängen. Die Überlebenden wollen kein Vergessen, sondern Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit. Und deshalb wird auch Isabel Fernández Blanco in ihrer Zeugenbefragung noch einmal tief in ihre Erinnerung eintauchen und so viele grauenhafte Details wie möglich zu Protokoll geben.
Fernández Blanco wurde im Januar 1979 von ihren Folterern freigelassen. Warum gerade sie, das weiß sie – wie so viele der Überlebenden, die auch in den Jahren danach mit Verdächtigungen und Anfeindungen seitens der Gesellschaft zu leben hatten – auch nicht. Doch wirklich frei war sie auch danach nicht. Weiterhin erhielten sie und ihr Lebensgefährte Enrique, mit dem sie gemeinsam inhaftiert war, "Besuche" von ihren ehemaligen Folterern. Sie sollten ihnen klar machen, dass ihre "Freiheit" Bedingungen hatte und jederzeit auch wieder enden könnte. Unter diesen Umständen wieder zu jenem Menschen werden zu können, der man früher einmal wahr, ist – so überhaupt – nur unter enormem Kraftaufwand allmählich wieder möglich.
Zurück zum Prozess ABO III. Als erste von insgesamt 320 vorgesehenen Zeuginnen betritt Silvia Adela Miedán den Zeugenstand. Sie ist die Schwester von Hugo Orlando Miedán, der im Februar 1977 von den Militärs entführt wurde und seither verschwunden ist. Sie beginnt ihre Aussage mit einer persönlichen Erklärung: "Ich musste 39 Jahre warten, um endlich sprechen zu können. Ich hatte immer den Traum, dass mich irgendjemand seitens der Justiz anruft und mich auffordert, in einem Prozess wie diesem auszusagen." Heute ist es so weit. Sie erzählt: "Es war Samstag, der 19 Februar am frühen Morgen. Ich schlief noch, als ich plötzlich aufwachte und einen Gewehrlauf in meinem Rücken spürte. Jemand sagte mir, ich solle mich nicht bewegen, denn ich könnte sterben." Dann begannen die vier Männer in Heeresuniform, sie zu ihrem Bruder auszufragen. "Ich hoffte in diesem Augenblick noch, dass er ihnen entkommen war. Doch als ich sah, dass einer von ihnen seinen Schlüsselanhänger in der Hand hielt, wusste ich, dass sie ihn geschnappt hatten." Die Männer begannen sie und ihre Mutter Elia zu schlagen und zu foltern. Die elfjährige Schwester musste dabei zusehen. Nach zwei bis drei Stunden ließen die Männer schließlich von ihnen ab. Bevor sie gingen, nahmen sie noch alles mit, was nicht niet- und nagelfest war.
Nachdem der erste Schock einigermaßen verdaut war, versuchten Silvia und Elia auf der nächstgelegenen Polizeistation Anzeige zu erstatten. Doch sie stießen auf taube Ohren. Sämtliche Anzeigen, die sie einbrachten, verliefen im Nirgendwo. Der Staat als Täter entfaltete seine kafkaesken Labyrinthe, in denen sich alle verirren mussten, die nach der Wahrheit suchten.
Erst einige Jahre später erfuhr die Familie Miedán, was mit ihrem Bruder und Sohn Hugo tatsächlich geschehen war. Elia hatte sich den Müttern der Plaza de Mayo angeschlossen, einer Gruppe von Frauen, die alle dasselbe Schicksal teilten: ihre Söhne und Töchter waren von einem Tag auf den anderen verschwunden. Irgendwann begannen sie, jeden Donnerstag mit weißen Kopftüchern als Erkennungszeichen und Fotografien ihrer verschwundenen Töchter und Söhne um den Hals gemeinsam ihre Runden vor dem Regierungspalast auf der Plaza de Mayo zu drehen. Während einer dieser Runden näherte sich der Mutter ein junger Mann, der sich als Miguel d’Agostino vorstellte. Er war selbst von den Militärs entführt und über Monate an einem Ort namens Club Atlético festgehalten und gefoltert worden. Er hatte das Gesicht auf dem Foto, das Elia umgehängt hatte, sofort erkannt. Er war Hugo im Club Atlético begegnet. Und so erfuhr Elia von einem ehemaligen Mitgefangenen, dass ihr Sohn Hugo Opfer einer jener "Todesflüge" wurde, im Zuge derer die Gefangenen lebendig über dem Rio de la Plata abgeworfen wurden. Elia sitzt heute an der Seite ihrer Anwälte. Sie wird als eine der Nebenklägerinnen den gesamten Prozess mitverfolgen und alles ihr Mögliche zur Verurteilung der Angeklagten beitragen.
Für den weiteren Fortgang des Prozesses zum Lagerkomplex ABO haben die Richter bestimmt, dass die Angeklagten während der Zeugenbefragungen nicht im Saal anwesend sein müssen.Dies sorgt für Unmut unter den Prozessbeobachtern, den Angehörigen, Vertretern von Menschenrechtsorganisationen und Sympathisanten. Die Täter sollen sich nicht einfach davonstehlen können. Sie sollen direkt mitanhören müssen, was die Opfer – Überlebende und Familienangehörige der Verschwundenen – zu erzählen haben.
Rodolfo Yanzón ist Anwalt einer der drei Nebenkläger. Er sieht die Angelegenheit eher pragmatisch, auch wenn er die hohe symbolische Bedeutung der Anwesenheit der Angeklagten für die Angehörigen und Überlebenden natürlich versteht. "Manche Zeugen bestehen auf der Anwesenheit der Angeklagten während ihrer Aussage. Andere wiederum fühlen sich von ihrer Präsenz eingeschüchtert und können ihnen während ihrer Aussage nicht gegenübersitzen." Der Anwalt sieht auch einen Vorteil darin, dass die Angeklagten keine Anwesenheitspflicht haben. Denn das bringt sie und ihre Verteidigung um ein probates Mittel, das Verfahren immer wieder zu verzögern und in die Länge zu ziehen – eine gängige Strategie, um die in der Regel bereits älteren Angeklagten vor einer Verurteilung und Bestrafung zu bewahren. Yanzón hat schon einige solcher Prozesse als Vertreter von Nebenklägern hinter sich. Das Verfahren gegen die Folterer des Komplexes ABO ist aktuell nicht das einzige, an dem er beteiligt ist. Bereits seit Ende 2012 zieht sich ein Megaprozess gegen insgesamt 68 Angeklagte dahin, die in dem größten und bekanntesten argentinischen Folterzentrum, der Escuela de Mecánica de la Armada (ESMA), folterten und mordeten. Und beinahe zeitgleich zum Prozess um den Komplex ABO beginnt ein weiterer Prozess zu einem anderen Folterzentrum namens Automotores Orletti. Yanzón vertritt bei allen dreien Menschenrechtsorganisationen als Nebenkläger.
Die Tatsache, dass die Angeklagten während des Prozesses nicht anwesend sein müssen, hat jedoch einen weiteren brisanten Haken: Einigen von ihnen – ebenso wie einer beachtlichen Zahl bereits verurteilter Täter – hat die Justiz Hausarrest gewährt. Seit dem Amtsantritt von Macri häufen sich solche Entscheidungen der Gerichte. Anstatt wie jeder gewöhnliche Verbrecher ihre Untersuchungshaft oder rechtmäßigen Haftstrafen in einem öffentlichen Gefängnis abzusitzen, können es sich daher immer mehr ehemalige Folterer in ihrem eigenen zu Hause, umgeben von Familie und Dienstpersonal, gemütlich machen. Die zunehmende Gewährung von Hausarrest sorgt für breite gesellschaftliche Ablehnung. Eine Form des sozialen Widerstands dagegen ist der sogenannte Escrache. Als soziale Ausdrucksform während der Epoche der Straffreiheit in den Neunzigern entstanden, ist er eine Mischung aus Volksfest und politischer Demonstration an Orten, an denen Täter nach wie vor unbehelligt leben können. Die Orte werden im Zuge dieses Protests markiert und die dort lebenden Täter mit Namen, Fotos und ihrer Verbrechensgeschichte bekannt gemacht. Das Ziel ist die gesellschaftliche Sanktion dort, wo die staatliche Sanktion versagt.
Für den 14. Dezember 2016 hatte H.I.J.O.S., eine Organisation der Nachkommen von während der Militärdiktatur verschwundenen Personen, zu einem Escrache gegen Alfredo Omar Feito aufgerufen. Feito war als Armeeangehöriger an der Entführung, Folterung und dem Verschwindenlassen von unzähligen Personen beteiligt und wurde dafür bereits zu 28 Jahren Haft verurteilt. Im August 2016 gewährten ihm die Richter ohne ersichtliche Begründung Hausarrest, und das obwohl er auch im aktuellen Prozess ABO III unter Anklage steht. Treffpunkt war die ehemalige "Dienststelle" von Feito sein, das CCD Olimpo. Von dort sollte es in einem Protestmarsch direkt zu seinem Haus gehen, das einige Blocks davon entfernt liegt.
Das ehemalige CCD Olimpo, ein Gebäudekomplex, der ursprünglich als Straßenbahn- und Omnibusremise diente und während der Diktatur von der Polizei als Garage und Werkstätte genutzt wurde, ist heute ein Ort der Erinnerung. Jener Bereich, der in den Jahren 1978 und 1979 als geheimes Folterzentrum fungierte, ist teilweise erhalten. Zwar versuchten die Täter sämtliche physischen Spuren zu vernichten, die von den Verbrechen Zeugnis ablegen hätten können, doch mittels der Aussagen von Überlebenden konnte der Ort weitgehend rekonstruiert werden. Auf dem weitläufigen Gelände, das fast einen ganzen Häuserblock mitten in einem Wohngebiet einnimmt, sticht ein großflächiges, auf mehreren Stahlträgern gebautes Blechdach hervor. Darunter befanden sich ursprünglich die Zellen der Gefangenen, von denen heute nur mehr Fundamentreste im Betonboden zu sehen sind. In einem links angrenzenden Gebäude lagen die Foltersäle – in der Sprache der Täter zynisch "Operationssäle" genannt – sowie einige Zellen, in denen Gefangene isoliert wurden, die entweder für die Befreiung oder für den Tod vorgesehen waren.
Um den Ort heute verstehen zu können, bedarf es Erläuterungen. Besichtigt werden kann er daher nur in begleiteten Gruppenführungen, bei denen häufig auch ein Überlebender oder eine Überlebende von ihren Erinnerungen an den Ort erzählen. Doch das Ex-CCD Olimpo ist heute mehr als nur ein physischer Überrest eines historischen Verbrechens. Es ist auch ein Ort der Gemeinschaftsbildung im Zeichen der Auseinandersetzung mit der politischen Vergangenheit und Gegenwart. Nachbarn und Anrainer des Olimpo, die während der Diktatur den von diesem Ort ausgehenden Schrecken vage miterlebt hatten, waren es, die Anfang der 2000er Jahre gemeinsam mit den Überlebenden maßgeblich für seine Transformation zu einem Erinnerungsort verantwortlich waren. Die Aufarbeitung eines geteilten – individuellen wie sozialen – Traumas war dabei ebenso wichtig wie die Thematisierung seiner Folgen und Bedeutung für die Gegenwart. In dem angeschlossenen Seminarzentrum finden daher heute neben Gedenkveranstaltungen auch Seminare und Workshops statt, die sich mit der ökonomischen und politischen Geschichte und Gegenwart Argentiniens befassen. Der Olimpo fungiert heute als Ort der Vernetzung, des Aufbaus und der Wiederbelebung von durch Diktatur und Neoliberalismus zerstörten gesellschaftlichen Strukturen, wobei das historische Trauma stets fester Bezugspunkt für die Entfaltung gesellschaftlicher und politischer Debatten und Praktiken in der und um die Gegenwart ist.
Am 14. Dezember spätnachmittags ist das Gelände des Olimpo bereits gut besucht. Unzählige Fahnen von politischen Gruppierungen und Gewerkschaften wehen im Wind. Lange Transparente werden ausgerollt. Zahlreiche Personen halten Plakate mit den Gesichtern und Namen von „Verschwundenen“ in die Höhe. Dazu lässt eine Murga – die für die Region des Rio de La Plata typische Form der karnevalesken marschierenden Musik- und Tanzgruppen – ihre Pauken, Trommeln, Becken und Trompeten ertönen. Nach einiger Zeit setzt sich der Zug in Bewegung, angeführt von einem Lastwagen, bestückt mit großen Lautsprechern, aus denen, gerahmt von lauter Rockmusik, eine Stimme immer wieder darlegt, worum es bei diesem Marsch geht: dagegen zu protestieren, dass der verurteilte Folterer und Mörder Alfredo Omar Feito unbehelligt mitten in der Gesellschaft weiterleben kann. Mangels einer entsprechenden gerichtlichen Bestrafung soll ihm daher die soziale Ächtung zuteilwerden. Alfredo Omar Feito wohnt nur etwa zehn Häuserblocks vom Olimpo entfernt. Der Marsch zieht durch das Viertel am südwestlichen Rand von Buenos Aires mit ruhigen Straßen und bescheidenen ein- bis zweistöckigen Häusern. Es lässt sich wohl am treffendsten als Wohnviertel der unteren Mittelschicht bezeichnen. Manch Schaulustiger bleibt auf dem Gehsteig stehen, um das Treiben zu verfolgen und erhält von den Protestteilnehmern ein Flugblatt ausgehändigt. Hier und da werden aus einem Fenster oder einem Hauseingang die zu einem V geformten Zeige- und Mittelfinger entgegengestreckt. Das eine oder andere vorbeifahrende Auto hupt im Rhythmus der Trommeln. Nach etwa einer Stunde, die Dämmerung hat bereits eingesetzt, erreicht der Marsch einen offenen Platz an einer größeren Straßenkreuzung und kommt zu einem Halt. Ordner in grellen Warnwesten und mit Funkgeräten versuchen Struktur in das Chaos zu bringen. Die Menge singt im Rhythmus der Murga das unvermeidliche "Como a los nazis les va a pasar...".
Dann beginnt die Aktion: eine Gruppe junger Leute malt quer über die Fahrbahn mit greller gelber Farbe und in breiten Lettern die Worte: "Hier wohnt ein Völkermörder“. Der dazugehörige Pfeil zeigt auf ein unscheinbares, graues, zweistöckiges Haus. Es sieht aus wie lange verlassen. Sämtliche Rollläden sind heruntergelassen und nicht ein Lichtschimmer ist zu sehen. Hier wohnt Alfredo Omar Feito. Doch heute hat er es vorgezogen, sich an einen anderen Ort zu begeben. Auch die umliegenden Häuser scheinen verlassen und auch hier wurden – wohl aus Sicherheitsgründen – sämtliche Fensterläden geschlossen. Doch ohne Grund: Die Stimmung während des gesamten Marsches ist friedlich.
Zum Abschluss der Veranstaltung gibt es noch mehrere Reden. Sie erinnern noch einmal an die Person Alfredo Omar Feito und seine Rolle während der Diktatur. Sie nehmen Bezug auf die Wichtigkeit der Gerichtsprozesse, um die historische Wahrheit ans Licht zu bringen und das gesellschaftliche Trauma zu verarbeiten. Sie kritisieren die aktuelle Regierung für ihren Unwillen, die historische Aufarbeitung konsequent weiterzuführen und den Tätern ihre gerechte Bestrafung zukommen zu lassen. Und sie prangern die sich in letzter Zeit mehrenden staatlichen Repressionsmaßnahmen, Vorfälle von Polizeigewalt und Einschüchterungsversuche gegenüber politischen Gegnern an. Denn die Gegenwart ist im gesellschaftlichen Diskurs um die Aufarbeitung der Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur immer eine direkte Folge der Vergangenheit; und die Vergangenheit als Spur und als Potenzial immer auch in der Gegenwart präsent.
Heute ist Alfredo Omar Feito wohl wieder zurück in seinem Haus. Die in Gelb prangenden Lettern mit dem Hinweis auf das Domizil des "Völkermörders" sind vermutlich bereits übermalt worden. Doch die Spuren davon werden sichtbar bleiben. Alfredo Omar Feito wird in den nächsten Monaten weiterhin den Prozess, in dem er der Beteiligung an illegaler Freiheitsberaubung, Folter und Mord in 352 Fällen angeklagt ist, aus der Distanz beobachten. Viel hat er nicht mehr zu verlieren. Sollte er verurteilt werden, kommt zu den bereits verhängten 26 Jahren Freiheitsstrafe wohl noch ein Mehrfaches dazu. Sollte sich an der aktuellen Politik hinsichtlich der Verhängung von Hausarrest nichts ändern, wird er den Rest seines Lebens in seiner Wohnung verbringen.
Auch Isabel Fernández Blanco wird in den kommenden Monaten den Prozess gegen Feito und seine Kumpane von der Ferne aus beobachten müssen. Sie wird ihrem Auftritt als Zeugin entgegenfiebern und hoffen, dass ihre Erinnerung am Tag der Tage, von dem sie nicht weiß, wann er sein wird, klar und ihr Verstand scharf sein werden. Sie wird es, wie ich sie kenne, bedauern, ihren ehemaligen Folterern dabei nicht ins Auge sehen zu können.
Rodolfo Yanzón wird weiterhin zwei Tage pro Woche die Aussagen von Zeuginnen und Zeugen verfolgen und daraus den Argumenten der Anklage Nachdruck verschaffen. Neue Prozesse werden folgen, wenn im Prozess ABO III ein Urteil gefällt worden sein wird. Etwa gegen die ökonomischen Profiteure und ideologischen Anheizer der Militärdiktatur: Leute wie den Unternehmer Carlos Pedro Blaquier, der seine eigene Belegschaft verfolgen und die Militärs auf dem Gelände seiner Firma ein Folterzentrum errichten ließ. Die Regierung sträubt sich, dieses Kapitel der gerichtlichen Aufarbeitung anzugehen. Doch die Gesellschaft verlangt danach. Und so lange dem nicht entsprochen wird, wird es in Zukunft noch den einen oder anderen Escrache mehr geben.
- 1. Raúl Alfonsín war von 1983 bis 1989 Präsident von Argentinien
- 2. Ausführlich dazu: http://www.wildcat-www.de/zirkular/63/z63beila.pdf