In Venezuela herrscht nach dem knappen Wahlsieg von Nicolás Maduro eine angespannte Stimmung. Der Montag war von Gewaltausbrüchen von Anhängern der Opposition geprägt, nachdem der Nationale Wahlrat (CNE) Nicolás Maduro offiziell zum Sieger erklärte. Aktivisten und Beobachter vor Ort sehen sich an eine Stimmung wie beim Putsch gegen Hugo Chávez vor elf Jahren erinnert.
Ausgangspunkt der Proteste der Opposition und der Gewalt ist das knappe Wahlergebnis, mit dem der Nachfolger von Hugo Chávez die Wahlen gewonnen hat. Nach offiziellen Zahlen erhielt Maduro gut 260.000 Stimmen mehr als sein Herausforderer Henrique Capriles. In relativen Werten bedeutet dies einen Vorsprung von 1,77 Prozentpunkten (50,75 zu 48,97 Prozent).
Dieses Ergebnis kam für alle Seiten unerwartet. Noch bis kurz vor den Wahlen hatten alle Umfrageinstitute einen deutlichen Sieg des linken Kandidaten mit etwa 10 bis 20 Prozentpunkten Vorsprung prognostiziert. Allem Anschein nach konnte der Kandidat des oppositionellen Bündnisses "Tisch der Demokratischen Einheit" (MUD) das Ergebnis in dem sehr kurzen und intensiven Wahlkampf deutlich beeinflussen. Dieser hatte offiziell nur zehn Tage gedauert, weil die Wahlen nach dem Tod von Hugo Chávez am 5. März verfassungsgemäß sehr schnell einberufen werden mussten.
Capriles griff in seiner Kampagne seinen Gegner immer wieder scharf an und setzte gleichzeitig auf einen inhaltlich moderaten Diskurs und auf den Versuch, Symbole des Chavismus zu kapern. So stellte er sich als Politiker dar, der zwar nicht alles anders, aber vieles besser machen wollte. Anstatt, wie in vergangenen Wahlkämpfen gegen die kubanischen Ärzte im Land zu hetzen, bot er ihnen kurzerhand die Staatsbürgerschaft an. Anstatt die staatlichen Sozialprogramme (Misiones) zu verteufeln, versprach er ihnen Verfassungsrang zu geben und sie effizienter zu gestalten. Gleichzeitig verwendete er in seinen Reden viele Stilelemente des Chavismus und präsentierte sich als Kämpfer an der Seite des Volkes, das angeblich von einer korrupten und ineffizienten Regierung betrogen wird.
Maduro hingegen gelang es anscheinend nicht, die Versprechen von Capriles als unglaubwürdig zu entlarven und die zuvor emotional aufgeladene und pro-chavistische Stimmung, die sich durch den Tod von Hugo Chávez ergeben hatte, für sich zu nutzen. Gleichzeitig hatte er mit Stromausfällen und Lebensmittelengpässen zu kämpfen und auch die kürzlich beschlossene Abwertung der Landeswährung Bolívar war alles andere als populär. Der Verweis auf Sabotageaktionen in den Energieunternehmen und die nach wie vor bestehende Macht der wirtschaftlichen Eliten, die bewusst Engpässe herbeiführen, dürfte in Teilen stimmen. Tatsächlich nehmen solche Probleme in Wahlkampfzeiten immer wieder zu. Doch nach 14 Jahren des Chavismus lassen vermutlich immer weniger Wähler gelten, dass die Regierung die Probleme nicht gelöst hat und sie die Schuld den Destabilisierungsplänen der Opposition gibt.
Auch am Wahltag kam es unterdessen zu Sabotageaktionen, diesmal allerdings digitaler Art. Am Nachmittag sah sich die Regierung gezwungen, Teile des Landes vom Internet abzuklemmen, weil es zu massiven Hackerangriffen auf die Infrastruktur des CNE, Regierungswebsites, Websites der sozialistischen Regierungspartei PSUV und Twitter-Konten von Vertretern des Regierungslagers kam, darunter auch Nicolás Maduro. Die Website des CNE ist auch am Mittwochmorgen (zumindest aus Deutschland) noch nicht erreichbar gewesen und viele venezolanische Websites zeigen deutliche technische Probleme, die sich aber auch teilweise durch Überlastung ergeben dürften.
Erst in den späten Abendstunden (Ortszeit) veröffentlichte der CNE dann das Ergebnis der Wahlen. Der Grund: Man wartete so lange ab, bis das Ergebnis unumkehrbar war, d.h. dass die Zahl der verbleibenden Stimmen geringer war als die Differenz zwischen den Kandidaten. Dies war erst nach Übermittlung von 99,12 Prozent der Stimmen der Fall. Es war für die Linke eine herbe Enttäuschung und für die Rechte ein Erfolg. Im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2012 hat der Chavismus über 600.000 Stimmen verloren und die Opposition über 700.000 Stimmen gewonnen. Die Wahlbeteiligung blieb nur knapp unterhalb der Rekordzahl von 81 Prozent beim vorhergehenden Wahlgang.
Dennoch konnte Maduro eine Viertelmillion mehr Stimmen für sich verbuchen, als Capriles. Damit war das Ergebnis weniger knapp als beim Verfassungsreferendum 2007. Damals hatte die Opposition ihren bislang einzigen Wahlsieg auf nationaler Ebene seit 1998 feiern können. 116.000 Menschen mehr entschieden sich damals gegen die Verfassungsreform. Hugo Chávez, der das Referendum initiiert hatte, erkannte die Niederlage umgehend an. Ähnliches passierte bei den Regionalwahlen im vergangenen Dezember. Im Bundesstaat Miranda siegte Henrique Capriles mit einem Vorsprung von gut 45.000 Stimmen bzw. vier Prozentpunkten. Auch hier erkannte der unterlegene Chavist, der aktuelle Außenminister Elías Jaua, die Niederlage sofort an.
Nicht so Henrique Capriles und das Oppositionsbündnis. Von Beginn an stellte er die Anerkennung des Wahlergebnisses unter die Bedingung, dass alle Stimmen erneut ausgezählt werden. Auch wenn Nicolás Maduro direkt nach der Bekanntgabe seines Sieges einer Neuauszählung zustimmte, hat diese Forderung jedoch zwei Haken:
Erstens hat Capriles selbst bislang keinerlei juristische Schritte eingeleitet, um gegen einen angeblichen Wahlbetrug vorzugehen. Er hat lediglich über die Medien verkündet, die Wahlen nicht anzuerkennen und eine Neuauszählung gefordert. In ihrer Rede bei der Proklamation von Nicolás Maduro forderte die Präsidentin des Wahlrates, Tibisay Lucena, ihn deshalb auf, den üblichen Weg zu gehen: "In Venezuela existiert ein Rechtsstaat, der respektiert werden muss. Differenzen in Bezug auf die vom Wahlrat veröffentlichten Wahlergebnisse haben einen juristischen Weg und deshalb sollte der Kandidat sich an die zuständigen Instanzen wenden", sagte Lucena. Erst für Mittwoch kündigte Capriles an, sich formell an den CNE zu wenden.
Zweitens ist aber auch das venezolanische Wahlsystem zu bedenken. Dieses ist eine Kombination aus digitaler und manueller Abstimmung. Die Wähler geben zunächst in einem Wahlcomputer ihre Stimme ab und erhalten dann einen Ausdruck, auf dem sie kontrollieren können, ob die Stimme korrekt erfasst wurde. Dann werfen sie den Ausdruck in eine Wahlurne. Am Ende des Wahltages werden dann mindestens 54 Prozent der Wahlcomputer jedes Wahllokals in Anwesenheit von Vertretern aller politischen Lager überprüft. D.h. die Stimmzettel werden mit den digitalen Ergebnissen verglichen. Auf die Zahl der zu überprüfenden Computer haben sich die Kandidaten und ihre Teams vor der Wahl geeinigt. Früher lag diese Zahl niedriger und wurde auf Verlangen der Opposition auf 54 Prozent erhöht. Sollte es bei dieser Überprüfung zu Unregelmäßigkeiten kommen, dann können auch die restlichen Computer des Wahllokals überprüft werden. Dieses Verfahren wurde auch am Sonntag angewandt, was bedeutet, dass mindestens 54 Prozent der Wahlcomputer in Anwesenheit von Oppositionsvertretern überprüft wurden. Dabei wurden offensichtlich keine Unregelmäßigkeiten gefunden.
Vor diesem Hintergrund ist die Reaktion der Präsidentin des CNE vielleicht eher zu verstehen. Denn zunächst fragen sich vermutlich viele Beobachter, warum der Wahlrat nicht einfach einer vollständigen Überprüfung zustimmt. Tatsächlich wurde aber bereits ein Großteil der Stimmen mit Beteiligung der Opposition überprüft und dabei keine Unstimmigkeiten festgestellt. Gleichzeitig haben verschiedene Wahlbeobachterdelegationen die Transparenz und Sicherheit des Wahlsystems bestätigt. Hierzu gehören beim aktuellen Wahlgang eine Delegation der Union Südamerikanischer Nationen (Unasur) und der Interamerikanischen Union der Wahlbehörden (Uniore). Auch in der Vergangenheit haben internationale Organisationen das Wahlsystem immer wieder gelobt – beispielsweise nannte das Carter-Center des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, welches der Sympathie für die Chávez-Regierung unverdächtig ist, das venezolanische Wahlsystem das "beste Wahlsystem der Welt".
Vor diesem Hintergrund ist durchaus verständlich, dass die CNE-Präsidentin das Verhalten der Opposition als eine Beleidigung für den Wahlrat ansieht. Andererseits hätte eine komplette Neuauszählung sicher geholfen, die Situation zu beruhigen.
Trotz der Erklärung der Opposition, die Wahlergebnisse nicht anzuerkennen, blieb der Sonntagabend abgesehen von Siegesfeiern der Chavisten weitgehend ruhig. Auch am Montag schien die Situation entspannt, bis zum Mittag gab es kaum neue Nachrichten in den Medien und weder Regierungsvertreter noch Repräsentanten der Opposition traten in den Medien auf. Dies änderte sich am Nachmittag schlagartig. Für 14 Uhr (Ortszeit) mobilisierten die staatlichen Medien die Anhänger des Wahlsiegers zum Plaza Caracas vor der Zentrale des Wahlrats im Zentrum der Hauptstadt. Hier sollte am Nachmittag der CNE den offiziellen Sieger erklären. Angesichts dieses Schrittes organisierte die Opposition eine Pressekonferenz, um sich an die Medien und das Land zu wenden. Dabei erklärte Henrique Capriles, was angesichts der extremen Polarisierung des Landes nicht anders denn als Drohung verstanden werden konnte: Sollte die Proklamation Maduros tatsächlich stattfinden, rief er seine Anhänger zu Protesten auf und wiederholte eindeutig, dass er die veröffentlichten Wahlergebnisse nicht anerkenne.
Binnen weniger Stunden fühlten sich viele an den Putsch im April 2002 erinnert. Damals hatten auch Massenproteste den Beginn des gewaltsamen Umsturzes eingeleitet. Eine Demonstration mit vermutlich hunderttausenden Oppositionellen wurde von den Organisatoren ins Zentrum von Caracas umgeleitet, wo Scharfschützen auf die Demonstranten warteten und ein Massaker anrichteten. Die Bilder von den Toten wurden dann in den Medien so dargestellt als seien sie Opfer der Regierung, die auf die Bevölkerung geschossen habe. Daraufhin rebellierte ein Teil des Militärs und nahm den amtierenden Präsidenten Hugo Chávez vorübergehend fest. Zwei Tage später wurde der Putsch jedoch durch Massenmobilisierungen der armen Bevölkerung und loyale Teile des Militärs niedergeschlagen.
Auch wenn die Situation elf Jahre später eine andere ist, haben verschiedene Regierungsvertreter der Opposition vorgeworfen, wieder Umsturzpläne zu verfolgen. Dazu passt auch, dass die Regierungen Spaniens und der USA – ähnlich wie 2002 – die Opposition bei ihrer Forderung unterstützt haben. Tatsächlich war die Stimmung in Venezuela am Montagnachmittag sehr angespannt. Angesichts der berechtigten Enttäuschung der Anhänger von Capriles wegen der knapp verlorenen Wahl glich der Aufruf des Wahlverlierers einem Funken in einem Pulverfass.
Dieses explodierte dann auch wie erwartet: Straßenblockaden wurden im wohlhabenden Osten von Caracas errichtet und bei so genannten "Cacerolazos" machten viele Menschen ihrem Unmut mit dem Schlagen von Töpfen Luft. Was friedlich begann, wendete sich am Abend teilweise in gewalttätige Ausschreitungen in verschiedenen Städten des Landes. Gebäude der sozialistischen Partei (PSUV) wurden genauso angegriffen und angezündet, wie Regierungsgebäude und Büros des Wahlrates. Auch der staatliche Fernsehsender VTV und der lateinamerikanischen Nachrichtensender Telesur waren das Ziel von Angriffen von Capriles-Anhängern.
In verschiedenen Teilen des Landes wurden staatliche Krankenhäuser angegriffen und teilweise in Brand gesetzt, nachdem der oppositionelle Journalist Nelson Bucaranda über den Kurznachrichtendienst Twitter behauptet hatte, dass sich in einem solchen Wahlurnen befänden, die von den dort arbeitenden kubanischen Ärzten bewacht würden. Die "Integralen Diagnostikzentren" (CDI) sind Teil des staatlichen Programms zur medizinischen Versorgung der armen Bevölkerung (Barrio Adentro).
Die Bilanz des Tages nach der Wahl stellte Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz am Dienstagmittag vor: Sieben Menschen starben, 61 wurden verletzt und 135 festgenommen. Unter den Toten befinden sich mindestens vier Regierungsanhänger. Auch wenn Henrique Capriles später dazu aufrief, die Proteste friedlich zu gestalten, ist die Erklärung von Informationsminister Ernesto Villegas nachvollziehbar. Er beschuldigte die Opposition, für die Toten und Verletzten verantwortlich zu sein. Ortega Díaz rief Capriles dazu auf, seine Beschwerden beim Wahlrat einzubringen, anstatt weiter zu Protesten aufzurufen. Bisher habe er gegenüber dem CNE keinerlei formelle Beschwerde eingereicht.
Der Dienstag hat sich als relativ ruhig erwiesen und es ist völlig unklar, was in den nächsten Tagen passieren wird. Die Stimmung, die Beobachter vor Ort vermitteln, ist besorgniserregend. Sollte die Opposition an ihrer Strategie festhalten, die Ergebnisse nicht anzuerkennen und weiter ihre Basis mobilisieren, könnte es zu blutigen Auseinandersetzungen kommen. Eine für den heutigen Mittwoch geplante Demonstration der Opposition sagte Capriles jedoch ab.
Auch der frisch gewählte Präsident hat sich alles andere als versöhnlich gezeigt. Nachdem er zum Wahlsieger erklärt wurde, hielt Maduro eine kämpferische Rede und lehnte jedwede Verhandlung mit der Opposition ab. Die politischen Projekte der Opposition und des Chavismus seien zu verschieden und der einzige Verhandlungspartner sei die Bevölkerung, sagte Maduro. Gleichzeitig rief er immer wieder zum Frieden auf, forderte von seinen Anhängern jedoch, wachsam zu sein. Am Freitag soll die Vereidigung in der Nationalversammlung stattfinden, die von Massendemonstrationen der Chavisten begleitet werden soll.
Sollten es beide Seiten auf ein Kräftemessen ankommen lassen, könnte die Situation eskalieren. Denn auch wenn Maduro eine Viertelmillion mehr Stimmen erhalten hat: Deutlich über sieben Millionen Venezolaner haben am Sonntag für die Opposition gestimmt. Trotz aller Vergleiche mit dem Putsch von 2002 muss jedoch festgehalten werden, dass das institutionelle Gefüge und insbesondere das Militär nach elf Jahren Präsidentschaft von Hugo Chávez wesentlich gefestigter sein dürften und letztere die verfassungsmäßige Ordnung verteidigen werden. Dies zeigte sich auch bei der Proklamation am Montag, an der auch die Repräsentanten der fünf Gewalten des Staates anwesend waren. Dazu gehört die Generalstaatsanwältin, die Ombudsfrau für Menschenrechte, der Parlamentspräsident, die Präsidentin des Wahlrats und die Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs. Ebenso nahm auch die Oberste Heeresleitung an der Zeremonie teil. Durch ihre Anwesenheit demonstrierten sie offen ihr Einverständnis mit dem Vorgehen des Wahlrats.
Unabhängig davon, ob die Situation in den nächsten Tagen eskalieren wird, oder nicht: Maduro und der Chavismus werden es in Zukunft wesentlich schwerer haben, zu regieren. Die Opposition ist auf der Wahlbühne stark wie nie zuvor und wird mit großer Wahrscheinlichkeit in drei Jahren ein Abwahlreferendum einleiten. Zuvor wird 2015 das Parlament neu gewählt und im Juli stehen Kommunalwahlen an. Angesichts vieler Probleme, die in den vergangenen Jahren nicht gelöst wurden und das alltägliche Leben betreffen – hohe Kriminalität, Versorgungsengpässe, Stromausfälle, Inflation, Ineffizienz und Korruption – könnte die Opposition durchaus Macht zurückgewinnen.
Nicht zuletzt wird auch die Entwicklung der Basisbewegung eine wichtige Rolle dabei spielen. In Krisenzeiten war es immer die Basis des Chavismus, welche die Kontinuität der "bolivarischen Revolution" garantiert hat. Doch der Staatsapparat hat auch viele Aktivisten integriert und die Bewegung ein Stück weit "demobilisiert". Würde diese sehr diverse Bewegung wieder erstarken und die Regierung inhaltlich auf sie zugehen, könnte diese verlorenes Terrain wieder gutmachen.