Paraguay / Politik

Hintergründe zum parlamentarischen Staatsstreich in Paraguay

Bericht über den Sturz des letzten demokratisch gewählten Präsidenten, Fernando Lugo, und die politischen Perspektiven

paraguay-golpe-300x225.jpg

Lugo, halte durch! - Plakat auf einer Demonstration nach dem Putsch
Lugo, halte durch! - Plakat auf einer Demonstration nach dem Putsch

Die Geschehnisse der letzten Tage in Paraguay werfen Fragen auf und zeigen auf gravierende Weise die politische Kluft zwischen der Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten und Europa. Der Großteil der lateinamerikanischen Presse spricht von einem parlamentarischen Staatsstreich gegen den letzten demokratisch gewählten Präsidenten des Landes, Fernando Lugo. Bis zur Stunde haben Argentinien, Brasilien, Chile, Uruguay, Venezuela ihre Botschafter zurückgerufen. Der deutsche Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) zeigt sich in einer Front mit Spanien, Kanada und dem Vatikanstaat indes davon überzeugt, dass "der Amtswechsel nach den Regeln der Verfassung abgelaufen ist". Schon das Wort "Amtswechsel" zeigt, dass Herr Niebel offenbar politische Entwicklungshilfe benötigt.

Was genau ist geschehen? De facto ist ein Amtsenthebungsverfahren gegen den amtierenden Präsidenten in der paraguayischen Verfassung verankert. Dieses Verfahren wurde am 21. Juni 2012 im Parlament vorgestellt und beschlossen. Noch am selben Tag wurde in einer außerordentlichen Sitzung des Senats Anklage gegen Präsident Fernando Lugo erhoben. Zugleich wurden ihm 19 Stunden Zeit für seine Verteidigung eingeräumt, die nicht länger als zwei Stunden dauern durfte.

Die anfänglich neun Punkte in der Anklageschrift wurden auf fünf reduziert. Das Ergebnis des angestrengten Amtsenthebungsverfahrens stand von Anbeginn fest. Weder auf die widerlegenden Beweise der Verteidigung noch auf vorgebrachte Argumente für einen Verbleib von Fernando Lugo im Amt während der "Aussprache" wurde eingegangen. Die Senatssitzung wurde live im Fernsehen übertragen. Die Anklagepunkte waren Verdächtigungen und Behauptungen von Tatsachen, zu denen keinerlei Beweise vorgelegt werden konnten. So ging es um die finanzielle Unterstützung von sozialistisch gesinnten Jugendlichen bei einer Demonstration, auf der angeblich verfassungsfeindliche Lieder gesungen wurden, und um die Nutzung des geographischen Dienstes der Armee, um Grundstücke von Großgrundbesitzern ausmessen zu lassen, da im Rahmen der Agrarreform die Rechtmäßigkeit von Besitztiteln überprüft werden sollte. Fernando Lugo wurden des weiteren Verbindungen und Unterstützung der als Guerilla bezeichneten Gruppierung EPP unterstellt. Der vierte Anklagepunkt bezog sich auf die Unterzeichnung des Ushuaia-Protokolls des regionalen Wirtschaftsverbandes Mercosur durch Lugo, ohne dass dieses Papier dem Parlament vorlag. Der letzte Anklagepunkt beschuldigte Lugo der unzureichenden Vorsorge bei der Landräumung in Curuguaty, so dass es zu einem blutigen Zusammenstoß zwischen der Polizei und den Landbesetzern mit mindestens 17 Toten kam. Den zuständigen Innenminister Carlos Filizzola hatte der Präsident unmittelbar nach den Vorgängen entlassen und durch den ehemaligen Generalstaatsanwalt Rubén Candia Amarilla ersetzt.

Insgesamt wurde Lugo "schlechte Amtsführung" vorgeworfen und damit das Verfahren gerechtfertigt. Das wäre laut Verfassung aber nur der Fall, wenn der Präsident durch seine Amtsführung seinem Volk großen Schaden zugefügt hätte. Und genau darin liegt der Grund: Nach Lesart der Kritiker des Putsches hat Lugo der Bevölkerungsmehrheit gedient und mit den mächtigen Großgrundbesitzern und der Drogen-Mafia gebrochen, die Paraguay 61 Jahre lang beherrscht haben. Er hat allen Paraguayern kostenfreie medizinische Betreuung ermöglich, den Kindern ein Frühstück in den Schulen sowie schrittweise Verbesserungen der Ausbildungsbedingungen durchgesetzt. Unter Präsident Lugo wurde der Kampf gegen Analphabetismus erfolgreich geführt und ein Rentensystem für die Bedürftigsten wurde geschaffen. Doch seine schlimmste "Verfehlung" aus Sicht der Oberschicht war wohl sein Kampf gegen die Korruption. Er begann, den Justizapparat zu säubern, versuchte, die Landreform voranzutreiben und massenhafte Unterschlagungen im Wasserkraftwerk Itaipú, in der Zentralbank, bei der staatlichen Stromversorgung, im staatlichen Zementwerk und andernorts aufzudecken. Außerdem wurden aus der Wahljustizbehörde während seiner Amtszeit 10.000 "Planilleros" (Parteigänger) entlassen, die dort lediglich auf der Gehaltsabrechnung auftauchten, aber keinerlei Tätigkeit nachgingen. Diese Scheinanstellungen setzten sich zusammen aus 4.000 Angehörigen der Partei ANR, 3.000 der PLRA, 2.500 von UNACE, 500 von País Solidario, Tekojoja, Patria Querida und anderen. Diese Gehaltsempfänger waren landesweit in 263 Ämtern verteilt. Mit diesen und anderen Schritten machte sich Lugo letztlich auch unter seinen ehemaligen Verbündeten aus der Radikalen Authentischen Liberalen Partei (PRLA) immer mehr Feinde.

Die PRLA hatte sich vor der Präsidentschafts- und Parlamentswahl offenbar nur mit Lugos Frente Guasu verbündet, um an die Macht zu kommen. Sein Vizepräsident Federica Franco, jetzt vom Machtklüngel als Präsident eingesetzt, hatte sich mit Lugo schon kurz nach dem Wahlsieg 2008 überworfen. Beständig nutzte er Auslandsreisen Lugos, um als dann amtierender Präsident zuvor unterzeichnete Gesetze rückgängig zu machen. Zuletzt geschah das am 23. Mai 2012, als er eine von Lugo initiierte Mehrwertsteuererhöhung für Hersteller von Motorrädern mit einem neuen Gesetz wieder annullierte. Dazu muss man Wissen, dass es bisher kaum ein nennenswertes Steueraufkommen für den Staat gibt, da sowohl die Lohnsteuer als auch die persönliche Einkommenssteuer seit Jahren von Parlament und Senat blockiert werden.

Der Präsident wird in Paraguay direkt vom Volk gewählt und kann somit auch nur vom Volk abgewählt werden. Weder das Parlament noch der Senat (Senatoren gibt es hier sogar auf Lebenszeit) werden direkt vom Volk gewählt, sondern über sogenannte geschlossene Listen benannt. Die entsprechenden Parlamentarier beziehungsweise Senatoren werden nach der Wahl von den jeweiligen Parteien bestimmt. Auch eine geplante Einführung von offenen Wahllisten wurde kürzlich vom Parlament blockiert, um die Pfründe nicht zu verlieren.

Die hiesige Bevölkerung steht mit großer Mehrheit hinter dem abgesetzten Präsidenten Fernando Lugo. Tausende Menschen haben sich nach seiner Absetzung vor dem Senatsgebäude zur Unterstützung des Putschopfers versammelt. Für die nächsten Tage sind mehrere Aktionen angekündigt. Lugo selbst hat sich heute über die einzig öffentliche Fernsehstation an die Menschen gewandt und zu "friedlichem Widerstand" aufgerufen. Er sagte, dass die Demokratie in Paraguay durch diese Art der Absetzung schwer beschädigt wurde. Dies bestätigte auch eine Online-Umfrage in der größten Tageszeitung ABC Color am 23. Juni 2012, die über diese Aussage votieren ließ: Über 60 Prozent der Teilnehmer stimmten dieser Aussage zu. Wenn man bedenkt, dass die ländliche Bevölkerung, die Lugo mit großer Mehrheit unterstützt, kaum Zugang zum Internet hat, dann bekommt diese Zahl noch eine viel stärkere Aussage. Und auch die Umfragen in verschiedenen Zeitungen, ob De-facto-Präsident Franco die politische Krise beenden kann, zeigen, dass die absolute Mehrheit weiterhin hinter Lugo steht.

Die Internetausgabe des deutschsprachigen mennonitischen Radiosenders ZP 30 brachte einen Tag nach dem parlamentarischen Staatsstreich folgende Meldung: "Eine neue politische Zusammenschließung hat angekündigt, dass sie der neuen Regierung in Paraguay widerstehen werden. Frente Guasu, die Partei Fernando Lugos, hat sich mit Sektoren der PLRA zusammengeschlossen, die Fernando Lugo unterstütze. Diese Teile der liberalen Partei gruppieren sich um den Senator Luis Alberto Wagner, den Gouverneur von San Pedro, José Pakova Ledesma, dem ehemaligen Erziehungsminister Victor Rios und Domingo Laino. Dieser Zusammenschluss nennt sich Frente de Defensa de la Democracia (Front zur Verteidigung der Demokratie). Diese Gruppe hat zu zivilem Ungehorsam aufgerufen, um gegen die Regierung Federico Francos Widerstand zu leisten, die sie als Diktatur ansehen. Gestern Abend hat sich die Gruppe getroffen, um einige erste Maßnahmen festzulegen. Ricardo Canese, Generalsekretär des Frente Guasu, sagte, sie werden friedlich demonstrieren und um die Wiederherstellung der öffentlichen Freiheiten bitten."