Mexiko / Wirtschaft / Umwelt

Menschen aus Mais

Doña María und die Weltwirtschaft. Auszug aus dem Buch "Mexiko - Ein Länderporträt"

Doña María kommt fast jeden Tag aus Rancho Viejo auf den Mercado de Jauregi in Xalapa, der Hauptstadt des Bundesstaates Veracruz, um dort ihre handgemachten Tortillas zu verkaufen. In dem nahegelegenen Dorf hat ihre Familie etwa einen Hektar Land, auf dem sie weißen, roten und schwarzen Mais anbaut. Ihr Mann Don Jacinto setzt den Mais zu Beginn der Regenzeit auf seinem steilen und steinigen Acker oberhalb von Rancho Viejo und erntet ihn im November. Zwischen den Mais setzt er schwarze Buschbohnen. Im Jahr erntet die Familie etwa anderthalb Tonnen Mais und fast genauso viele Bohnen. Davon leben kann die Familie natürlich nicht, aber sie hat mehr als genug, um den Bedarf der Familie an Tortillas, atoles und tamales zu decken, und kann den Rest verkaufen. Daneben hält die Familie zwei Pferde, ein paar Hühner, deren Eier sie verkaufen, und Ziegen, aus deren Milch sie Käse herstellt. In ihrem Garten bauen sie unter anderem weiße Callas an. Wenn Doña María die Lilien zusammenrafft, um sie zum Pick-up zu bringen, der sie nach Xalapa auf den Markt fährt, erinnert sie an Gemälde von Diego Rivera.

Don Jacinto ist klein und kräftig, und wenn er spricht, blitzt ein Blechzahn in seinem Mund auf. Hauptberuflich ist er Taxifahrer. Das Auto ist allerdings nur gemietet, und er träumt davon, irgendwann sein eigenes Taxi zu haben und andere für sich fahren zu lassen. Das ist allerdings sehr teuer – weniger wegen des Fahrzeugs als wegen der Lizenz, der jährlichen Abgaben und der üppigen Bestechungsgelder, nicht zu vergessen die Beiträge für die korrupte Gewerkschaft; zusammen kosten die Nummernschilder leicht doppelt so viel wie das Auto selbst. Doña María und Don Jacinto haben drei Töchter, die noch im Dorf leben und selbst schon kleine Kinder haben. Seine beiden Söhne leben dagegen längst nicht mehr in Rancho Viejo: Der jüngere zog nach Mexiko-Stadt und arbeitet dort beim mexikanischen Ableger des deutschen Glühbirnenherstellers Osram, der ältere, José, ging vor knapp fünfzehn Jahren nach San Antonio in Texas und holte wenig später seine Frau und seine beiden Kinder nach. Bis zur Hypothekenkrise arbeitete er – ohne Papiere natürlich – auf dem Bau und schlug sich in den letzten Jahren mit Gelegenheitsjobs durch. Anfangs schickte José regelmäßig Geldanweisungen nach Hause, doch in letzter Zeit sind die Überweisungen spärlicher geworden.

In Mexiko werden zwei Drittel der Maisernte von Kleinbauern wie Don Jacinto und Doña María eingebracht. Rund sechs der sieben Millionen Hektar Maisanbaufläche werden von Kleinbauern bestellt, deren Erträge im Durchschnitt bei zwei Tonnen pro Hektar liegen. In den ärmeren Bundesstaaten des Südens – vor allem in Chiapas, Oaxaca oder Guerrero, in denen der Anteil der indigenen Bevölkerung am höchsten und die Sierra am stärksten zerklüftet ist – wird der Mais fast ausschließlich in solchen Kleinstbetrieben angebaut. Die übrige Anbaufläche wird von industriellen Landwirtschaftsbetrieben unter den Pflug genommen, die in großem Stil bewässern und Pflanzenschutzmittel einsetzen. Diese befinden sich überwiegend in dünn besiedelten und trockenen Bundesstaaten wie Chihuahua, Sinaloa und Sonora im Norden des Landes und werden vom Staat subventioniert. Hier sind die Hektarerträge dreimal so hoch.

Wäre es nach der mexikanischen Regierung gegangen, gäbe es Kleinbauern wie Don Jacinto nur noch in Geschichtsbüchern. Die Regierung von Carlos Salinas kündigte Ende der achtziger Jahre an, sie wolle die Landbevölkerung innerhalb von fünf Jahren um die Hälfte reduzieren. Sie stellte nicht zu erfüllende Anforderungen an die Produktivität der Kleinbauern und drehte ihnen den Subventionshahn zu. Die mexikanische Gesellschaft, die heute noch fast zur Hälfte auf dem Land lebt, sollte weiter urbanisiert und die Versorgung mit Mais und anderen Grundnahrungsmitteln von einer international wettbewerbsfähigen Agrarindustrie übernommen werden. Mexiko stand vor dem Beitritt zur Freihandelszone NAFTA mit den Vereinigten Staaten und Kanada und sollte gründlich "modernisiert" werden. Es war ein gezielter Schlag gegen die Landbevölkerung und indigene Gemeinschaften, doch das stalinistisch anmutende Projekt ging gründlich schief: Die Zuwächse der Großbetriebe blieben weit hinter den Erwartungen zurück und die Kleinbauern ließen sich trotz der staatlichen Maßnahmen nicht vertreiben.

Ihnen ist es zu verdanken, dass Mexiko heute rund 24 Millionen Tonnen Mais im Jahr produziert. Damit ist der Bedarf allerdings keineswegs gedeckt, das Land muss rund 8 Millionen Tonnen pro Jahr importieren, überwiegend minderwertigen gelben Mais aus den Vereinigten Staaten. Vor allem in der Industrie steigt die Nachfrage rasant an und zwar nicht nur, weil immer mehr Mais zu Ethanol und Biosprit verarbeitet wird. Ein Viertel aller industriell gefertigten Lebensmittel in den Supermarktregalen enthalten direkt oder indirekt ein Maisderivat: Limonaden, Brot, Wurst, Bier und Knabbergebäck werden mit Maiskaramell gefärbt, Milch- und Kakaopulver mit Maltodextrin gestreckt, Getränke, Säfte und Marmeladen mit Fruchtzucker aus Mais gesüßt, Rinder, Schweine, Hühner, Fische und Garnelen mit Maismehl gefüttert. In Mexiko war der Mais lange ausschließlich dem menschlichen Konsum vorbehalten, doch mit der "Öffnung" des Marktes wurde diese Einschränkung aufgehoben. Die neue Nachfrage sollte durch billigen Mais aus industriellem Anbau gedeckt werden. Mit dem Abbau der Handelsbeschränkungen seit 1994 wurde der Markt mit subventioniertem Billigmais aus den Vereinigten Staaten überschwemmt, der das sensible Preisgefüge in Mexiko sprengte. Das Realeinkommen der Kleinbauern, deren Erlöse ohnehin nie in einer sinnvollen Relation zu ihrer Arbeit standen, sank seither um mehr als die Hälfte. Die Folge war eine verstärkte Abwanderung in die Städte und ironischerweise in die Vereinigten Staaten. Trotzdem hielten viele Kleinbauern am traditionellen Maisanbau fest. Der wurde nun nicht mehr vom Staat, sondern von den Geldanweisungen der Kinder aus den Städten oder den Vereinigten Staaten subventioniert.

Trotz aller Widrigkeiten pflanzen Bauern wie Don Jacinto weiter ihren Mais an. Für sie ist der Mais mehr als nur eine Handelsware: Er ist eine Lebensform. Inzwischen hat die Familie auch eine neue Marktnische entdeckt. Doña María setzt sich auf den Markt, und zwei ihrer Töchter gehen jeden Samstag in einem wohlhabenden Stadtteil von Tür zu Tür und verkaufen Tortillas und tamales. Die Familie verkauft den Mais nicht an Großhändler, sondern direkt an ihre Endkunden aus der zahlungskräftigeren städtischen Mittelschicht. Die wissen den immensen Qualitätsunterschied zwischen handgemachten und industriell gefertigten Tortillas immer mehr zu schätzen und sind vor allem zunehmend bereit, für das Kilo Tortilla nicht 10 Pesos zu zahlen, sondern 25 oder 30. Allerdings haben Don Jacinto und Doña María auch das Glück, in der Nähe einer Stadt zu wohnen, in der es diese Käuferschaft gibt. Einige Politiker, die den Begriff Nachhaltigkeit schon einmal gehört haben, erkennen inzwischen, dass sich die Wertschöpfung des Maisanbaus, wie ihn Don Jacinto und Doña María betreiben, nicht in Hektarerträgen und Pesos ausdrücken lässt. Die Kleinbauern leisten einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung traditioneller Lebensformen und indigener Kulturen, sie bewahren die Artenvielfalt des Mais und betätigen sich obendrein mit ihrem extensiven Anbau als Landschaftspfleger. Sie praktizierten die nachhaltige Landwirtschaft schon einige Jahrtausende bevor dieser Begriff in Mode kam.

Genmais und Neokolonialismus

Obwohl sich Politiker gern mit hübschen Begriffen wie Nachhaltigkeit schmücken, hat diese nicht viele echte Freunde, schon gar nicht in der korrupten politischen Klasse Mexikos. Deshalb droht dem Mais gerade von dort heute ernsthaft Gefahr. Im Jahr 2001 fanden zwei Wissenschaftler des Aktionsbündnisses "En Defensa del Maíz" (deutsch: Zum Schutz des Mais') in der Sierra von Oaxaca den ersten genetisch veränderten Mais. Sie staunten über diesen Fund so weit südlich und vermuteten, dass er aus Saatgut stammte, das mit Mais aus den Vereinigten Staaten kontaminiert worden war. Drei Jahre zuvor war ein Moratorium verhängt worden, das den Anbau von Genmais in Mexiko verbot, bis klar sein würde, wie sich die Kontamination verhindern ließe. Wissenschaftler kamen zu einem einfachen Schluss: Sie lässt sich nicht verhindern. Sobald Genmais angebaut wird, werden seine Eigenschaften durch die Windbestäubung auf den einheimischen Mais übertragen.

Das hinderte das mexikanische Parlament allerdings nicht daran, 2005 ein Gesetz zur sukzessiven Einführung des Genmais zu verabschieden und im März 2009 das Moratorium aufzuheben. Kurz darauf begann die erste Aussaat von Genmais in "experimentellem Anbau" auf meterhoch eingezäunten und scharf bewachten Feldern im Bundesstaat Tamaulipas. Damit wollten die Konzerne beweisen, dass der Genmais die umliegenden Felder nicht kontaminierte. Doch niemand wertete die Experimente aus, denn in Wirklichkeit war der Anbaustart längst beschlossen. Im Jahr 2011 legten die Saatguthersteller in Tamaulipas erste Pilotfelder an, auf denen vor allem der in Deutschland verbotene und vermutlich gesundheitsschädliche MON 603 angebaut wurde. Der weitere Anbau auf über 100.000 Hektar im Norden des Landes ist bereits beschlossene Sache.

Das Aktionsbündnis En Defensa del Maíz, in dem sich Organisationen von Indigenas und Bauern, Umweltorganisationen, Wissenschaftler und Intellektuelle zusammengeschlossen haben, spricht von einem "Monsanto-Gesetz", benannt nach dem größten amerikanischen Hersteller von gentechnisch verändertem Saatgut, und bezeichnet den Anbau von Genmais als "Attentat gegen 10.000 Jahre Landwirtschaft". In einem Manifest wies es im Frühjahr 2009 darauf hin, dass damit die einmalige Artenvielfalt im Herkunftsland des Mais' gefährdet werde und so auch das genetische Reservoir eines der wichtigsten Nahrungsmittel der Welt.

Das Aktionsbündnis sieht nicht nur die Pflanze gefährdet, sondern die gesamte Lebensform und die indigenen Gemeinschaften des Landes. Besonders problematisch findet es, dass verschiedene Bundesstaaten die Aussaat einheimischer Arten schärfer kontrollieren. Vorgeblich dienen diese Gesetze dem Schutz dieser Arten, aber in Wirklichkeit verhindern sie, dass die Bauern Saatgut untereinander austauschen, wie sie es seit Jahrtausenden getan haben. Die Angehörigen des Bündnisses befürchten, dass die Bauern von Konzernen wie Monsanto und deren Saatgut abhängig werden.

Denn Monsanto, aber auch deutsche Chemiekonzerne wie Bayer und BASF haben sich verschiedene Maissorten patentieren lassen. Bauern, die einen Teil der Ernte solcher Sorten als Saatgut verwenden, machen sich somit strafbar und werden von den Konzernen vor Gericht gezerrt, wie in Brasilien geschehen. Aber Monsanto sorgt auch auf anderem Wege dafür, dass die Bauern ihren Mais nicht wieder aussäen: Die Körner werden innerhalb weniger Generationen unfruchtbar. (Daher auch die Furcht, dass auch kontaminierter Mais nicht mehr als Saatgut verwendet werden kann.) Damit aber noch nicht genug. Gentechnisch veränderte Sorten wie MON 603 sind nicht nur gegen Schädlingsbefall immun, sondern auch gegen ein aggressives Schädlingsbekämpfungsmittel, das natürlich ebenfalls von Monsanto hergestellt wird. Die Nachfahren der Indios, die den Mais aus dem Teocintle gezüchtet haben, sind also gezwungen, sich dem Patent eines Chemiekonzerns zu beugen und das Saatgut zu kaufen, und müssen obendrein die teuren Gifte dazunehmen – und das, obwohl ihre eigenen Sorten weit weniger anfällig für Krankheiten sind.

Die Proteste wirken inzwischen ein wenig verzweifelt. En Defensa del Maíz glaubt, dass die Konzerne die Politiker bereits geschmiert haben. Das Bündnis spricht von einem "systematischen Projekt zur Kontamination des Mais" und ruft in seinem Manifest zum Widerstand gegen die neuen Gesetze zur Saatgutkontrolle auf. Es warnt sogar die Bauern davor, Saatgut von staatlichen Stellen anzunehmen, da diese versuchen könnten, den Bauern Genmais unterzujubeln. Die Aktivistin Ana De Ita schreibt: "Wenn wir als Gesellschaft diese Katastrophe nicht verhindern, dann sind wir demnächst gezwungen, Gen-Tortillas zu essen."


Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch Mexiko. Ein Länderporträt von Jürgen Neubauer (Ch. Links Verlag, 2012, 220 Seiten).

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