Aus dem Alltag des Krieges

Die Folgen der militärischen Belagerung von FARC-Chef Alfonso Cano für die Bauerngemeinden im Süden der kolumbianischen Provinz Tolima

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Militäreinsatz in Tolima
Militäreinsatz in Tolima

Die Region Süd-Tolima hat sich zum zentralen Schauplatz des sozialen und bewaffneten Konfliktes entwickelt, in welchem Kolumbien sich derzeit befindet. Wir erleben eine Intensivierung der Auseinandersetzungen zwischen der Armee, insbesondere der 6. Brigade und der Frente 21 der FARC-EP, die in der Zone um den Cañon de las Hermosas operieren. Ebenso hören wir immer wieder von außergerichtlichen Exekutionen in dieser Zone, willkürlichen Bombardierungen, wie auch von Bauernbewegungen, die die Entmilitarisierung, das Ende der Verfolgungen und Ermordungen von Führern dieser Bewegung fordern.

Süd-Tolima ist eine Zone, in der die bäuerliche Aufstandsbewegung in den Gemeinden tief verwurzelt ist. De facto finden sich deren Ursprünge großenteils in dieser Region, die seit den den 1930er Jahren praktisch einen ununterbrochenen Konflikt erlebt, zuerst mit rein agrarischen, später dann, seit der "Phase der Gewalt" (La Violencia, 1948-1953), mit bewaffnetem Charakter. Die Gewalt seitens des Staates und der Großgrundbesitzer zwang die Landbevölkerung und die Indígenas dazu, zu ihrem eigenem Schutz bewaffnete Gruppen zu gründen. Eben aus dieser Region stammen legendäre Führer, welche den Ursprung der FARC bildeten: Der Bauernführer Isauro Yosa, als späterer Guerilla-Kommandant Mayor Líster, zu Kommunisten gewandelte Liberale wie Jacobo Prías Alape, Ciro Trujillo und Jaime Guaracas, wie auch Manuel Marulanda, der zwar aus Caldas stammte, aber vor Morddrohungen mit seiner Familie Ende der 1940er Jahre nach Süd-Tolima flüchtete.

Bereits 1949 formierte sich in der Gemeinde La Marina eine der ersten kommunistisch inspirierten Guerilla-Gruppen zum Schutz der Landbevölkerung. Über Jahrzehnte kamen die wesentlichen Führer der FARC aus dieser Region und operierten in den dortigen Wäldern und Schluchten. Bedingt durch diese Geschichte und die tiefe Verwurzelung der Guerillabewegung in dieser Region, waren der Kampf gegen die Aufstandsbewegung und die Programme zur Konsolidierung des kolumbianischen Heers hier besonders blutig. Die kürzlichen Miltäroperationen, die militärische Abriegelung und Bombardierungen führten in letzter Zeit zu einem großen Exodus von Bauern, die sich all ihrer Besitztümer beraubt sehen, genau so, wie es bereits ein halbes Jahrhundert zuvor, während der Phase La Violencia der Fall gewesen war. Denn um im Krieg Boden zu gewinnen, muss das Heer die Bauern zuvor von ihrem Land vertreiben.

Die kolumbianische Presse besucht diese Region nicht, sei es aus Angst, oder aus Bequemlichkeit. Die Nachrichtenabdeckung beschränkt sich auf die Wiedergaben von Angaben des Heeres oder Mitteilungen des Verteidigungsministeriums. So wird die offizielle Wahrheit ohne jedwede Hinterfragung reproduziert. Es wird eine offizielle Wahrheit erzählt, in welcher die zivilen Opfer nicht einmal als "Kolateralschäden" aufgeführt werden, eine aseptische offizielle Wahrheit, die uns von "chirurgischen Militäroperationen" und "selektiven Bombardements" erzählt und die zerrissenen Körper, die Vertriebenen, die außergerichtlichen Hinrichtungen und das enorme menschliche Leid in diesem schmutzigen Krieg verschweigt.

Anfang März besuchte die Asturische Untersuchungskommision für die Menschenrechte in Kolumbien1 die Zone Chaparral in Süd-Tolima, um die Folgen der Belagerung Alfonso Canos, des obersten Führers der FARC, durch das kolumbianische Heer festzuhalten, die am 4. November letztendlich zu seiner Ermordung führte. Am 8. März, kurz nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen Heer und Aufständischen2 und während der Intensivierung der Verfolgung von Führern der Landbevölkerung,3 kam die Untersuchungskommission nach La Marina. Sie konnten eindeutig festhalten, dass das Kriegsdrama, welches sich mit all seiner Brutalität in den ländlichen Regionen Kolumbiens entwickelt hat, für viele Kolumbianer weiterhin ein verkanntes Drama bleibt. Daher sind die uns in einem Interview gewährten Aussagen von Javier Orozco, kolumbianischer Flüchtling, Koordinator des "Programms des Fürstentums Asturien für die temporäre Aufnahme von Opfern von Verbrechen gegen die Menschenrechte in Kolumbien"4 und einer der Koordinatoren der jährlichen Visite der Asturischen Kommission in Kolumbien, von äußerster Wichtigkeit.

Orozco kennt die kolumbianische Wirklichkeit von Grund auf. Er arbeitete für das kolumbianische Institut für die Agrarreform (Incora), was ihm ermöglichte die kolumbianische Geographie des Konfliktes um die Böden kennen zu lernen und sich mit den Gemeinden, in denen sich der Konflikt ausbreitet, vertraut zu machen. Er versteht wie nur wenige die Dynamik des kolumbianischen Konfliktes. Außerdem war er im Nationalen Vorstand des größten kolumbianischen Gewerkschaftsdachverbandes Central Unitaria de Trabajadores (CUT), bis er sich 2001 gezwungen sah, das Land zu verlassen. Im Jahr zuvor waren 205 CUT-Gewerkschafter ermordet worden. Im folgenden finden sich nun die zutiefst menschlichen Aussagen Orazcos und wir hoffen somit zu helfen, diese unerkannten Tragödie bekannt zu machen.


Die Asturische Kommission besuchte im März die Zonen im Süden von Tolima, in einem Moment als sich der Belagerungsring um Alfonso Cano, den geschlagenen Kommandanten der FARC zuzog. Konnten Sie in diesem bestimmten Gebiet feststellen, inwiefern diese Operationen die Zivilbevölkerung betrafen?

Javier Orozco: In diesem Moment waren Militäroperationen von großer Bedeutung im Gange um Cano einzuschließen. Die Kommission war, aufgenommen in die Fensaguro5, von der Gewerkschaftsvereinigung der Landarbeiter Tolimas (Astracatol) eingeladen worden, welche von der asturischen Regierung forderten die Situation der militärischen Blockade und der durch die Truppen verursachten Verbrechen gegen die internationalen Menschenrechte zu verifizieren. Wir konnten bis Ibaque kommen, wo ein Bezirksforum für Menschenrechte installiert wurde, welches die Situation im gesamten Bezirk beobachten sollte. Danach bewegten wir uns den Bergzug hoch auf einem kaum passierbaren Weg, einem Pfad in sehr schlechtem Zustand, weiter in den Süden von Tolima, Jurisdiktion Chaparral.

Wir gelangten zur Gemeinde mit dem Namen La Marina. Die lokalen Begleiter der Kommission erzählten, dass diese Straße normalerweise immer voll von Truppen und Militärreserven war, jedoch mit der Ankunft der Kommission wurden alle Soldaten und Kontrollposten abgezogen, was die Flexibilität des Militärs bewiese, sobald sich eine Verifizierungsmission ankündigte. Die Reserven werden umgehend aufgelöst und versteckt. Einige Personen behaupteten, dass die Armee 6.000 Mann in der Zone verteilt hat, aber man sieht nicht einen. Diese Ausrichtung des Militärs wird von hohen Führungsebenen geleitet und nicht durch lokale Einheiten entschieden. So versucht man trotz des Konfliktes den Eindruck der Normalität zu erwecken.

Auf der gesamten Wegstrecke wiesen uns die Bauern auf Stellen hin, wo jener ermordet wurde, ein anderer verschwand, oder wo es wiederum ein Gefecht gab. Der gesamte Weg ist eine Geschichte des Krieges gegen die Landbevölkerung. Sie selbst nennen es so.

Der Eindruck, der sich uns bei der Ankunft in La Marina bot, war schockierend: Die Szenerie war schrecklich, denn Monate zuvor hatte die Armee, entgegen aller internationalen Menschenrechtsvereinbarungen, den Gemeindesaal besetzt, welcher seinerzeit als Unterrichtsraum der Grundschule und Versammlungsraum diente und Missbrauchte somit die Bevölkerung als Schutzschild.

Eine Woche vor unserer Ankunft bombardierte die Armee einige Fincas von Bauern und Teile des Waldes dieser Region, wobei einige Farianos6 zu Tode kamen. Die Soldaten weigerten sich, die sterblichen Überreste einzusammeln und hinterließen einen grauenhaften Schauplatz.

Die Bauern selbst waren gezwungen, mit Beuteln und Töpfen die Reste der Toten in einem Gebiet von mehreren Quadratkilometern einzusammeln, in dem die Sprengkraft der Bomben Bäume mit mehreren Metern Umfang aus dem Boden gerissen hatte. Ein großer Teil des Gebietes wurde durch die Bombardements entwaldet, Felder und Fincas beschädigt und zusätzlich blieb vieles Kriegsmaterial über das Gebiet verstreut: Mienen, Mörsergranaten, Gewehrmunition und Blindgänger der abgeworfenen Bomben. Die Landbevölkerung traut sich wegen der Explosionsgefahr nicht nicht das Gebiet zu betreten oder gar von Minen zu räumen. Einzig die Körper der toten Guerilleros wurden von ihnen aus Menschlichkeit eingesammelt. Als sie die Armee darum baten, das Gebiet zu entminen und von toten Körpern zu befreien, antwortete ihnen der zuständige Offizier: "Sollen doch die Tiere diese verdammten Hurensöhne fressen." Da die Landbevölkerung aber sehr gläubig ist, übernahmen sie die Aufgabe, den gefallenen Guerilleros ein christliches Grab zu geben. Der verursachte Schaden geht in die Millionen und niemand kommt der armen Landbevölkerung dafür auf.

Die Bauern haben Fotos von den Dingen gemacht, die ich ihnen hier beschreibe: verstümmelte Körper, sie selbst beim Aufsammeln der sterblichen Überreste, die Zerstörungen und nicht explodierte Munition. Ebenso haben sie Videos von der Plünderung des Waldes gemacht. Obwohl die Mitglieder unserer Kommission ziemlich abgehärtet in Bezug auf Kriegsthemen sind, gab es Leute, die die Videos und Fotos nicht zu Ende sehen konnten. Ich erzähl Dir das, damit Du eine Vorstellung vom Umfang dieser Angriffe machen kannst.

Zwei Tage bevor wir ankamen, kamen Einheiten der FARC den Fluss heraufgekrochen, kletterten auf die Mauern des Gemeindesaales, welche zu einem Abgrund standen und verteilten dort und auf dem Dach Explosionsladungen. Diese brachten sie zur Detonation,7 um danach, nach den Erzählungen der Bauern, sofort einen Angriff mit Granaten und Gewehren zu starten, der einen großen Teil des Gemeindesaales, insbesondere das Dach, zerstörte und mehrere tote Soldaten hinterließ. Während der Attacke kamen zwei oder drei Soldaten um und einige wurden verwundet, die dann später an ihren Verletzungen starben. Ebenso gab es zivile Verwundete, wurden Geschäfte zerstört und einige Häuser beschädigt. Nach diesem Störangriff, der mehrere Stunden dauerte, zog sich die Guerilla wieder zurück und die Bauern werteten diese Attacke der FARC als Racheakt für die vorangegangene Bombardierung.

Als wir nach La Marina kamen, waren viele Menschen bereits gegangen. Nur einige waren geblieben, um uns die Geschichte zu erzählen. Sie berichteten detailliert von der militärischen Blockierung der sie ihre Gemeinden unterwarfen und von ständigen Überfällen der Soldaten auf den Wegen, wofür es aufgrund der Abgeschiedenheit kaum Zeugen gibt. Sie überfallen Einzelpersonen und Familien aus der Region, die Lebensmittel für zu Hause oder den Markt mit sich tragen.

Sie haben bereits die Ermordung einiger Führer der Juntas der Kommunalen Aktion durch das Militär und Bedrohungen und Ermordungen von Führern der Fensaguro durch die Soldaten angezeigt. Ebenso haben sie den Diebstahl von Eigentum, elektrischen Pumpen, Geld, Motorsägen und anderen Maschinen angezeigt - alles Plünderungsakte, wie sie einem Besatzerheer eigen sind.

Diese Dinge wurden von Soldaten verübt, die selbst Bauern aus anderen Regionen des Landes sind und in den Krieg nach Süd-Tolima gebracht wurden, damit sie in einer ihnen fremden Gegend weder Rücksicht noch Mitleid zeigten. Nach Aussagen der Bauern, sei das Gebiet voll von Costeños,8 die verbittert hierher kämen und die Hunde mit Fußtritten quälen, Schläge verteilen und sich die Dinge rauben, die sie für brauchbar erachten. Sie klagen darüber, dass auf die Kinder Druck ausgeübt wird, zu verraten wer sich in der Gegend aufhalte oder sie zu zwingen, ihnen als Informanten zu dienen. Insbesondere in Hinblick auf die Minderjährigen bedeutet dies eine grobe Verletzung der internationalen Menschenrechtsvereinbarungen. Sie berichten weiterhin, dass sie mehrfach versucht hätten, die Befehlshaber darum zu bitten, die Armee aus der Schule abzuziehen, jedoch nicht einmal eine Antwort erhalten hätten. Der Angriff hat die Landbevölkerung der Region sehr wütend gemacht. Leider war es nicht möglich Polizei- oder Militärangehörige zu diesen Dingen zu befragen, da diese sich vor der Kommission in La Marina versteckten.

Die Asturische Kommission zur Prüfung des Ausmaßes des Gefechtes, wollte die Auswirkungen für diesen Ort besichtigen und wir trafen auf etwas sehr furchtbares: Die Explosionsladungen, welche die Guerilleros am Dach befestigt hatten, haben auch einige der Soldaten zerrissen. Die Kommission konnte Fetzen von blutgetränkten Tarn-Uniformen von den Bäumen hängen sehen, Teile von Stiefeln, Schweißtücher, welche die Soldaten normalerweise um die Stirn binden und schwarze Teiche von Blut neben Einschusslöchern von Schrot und Gewehrkugeln in den Wänden aus Stein. Besonders beeindruckt hat mich ein Schuss, der offenbar mehrere aus Holzlatten gebaute Häuser der Bauern wie Käse durchschlagen hatte. Wahrscheinlich kann man Glück sprechen, dass es nicht noch mehr Tote gab, da der Angriff bei Nacht stattfand. Die Bauern berichten, dass sie die zerfetzten Kleidungsreste und Leichenteile einsammeln mussten, weil die Armee sich nicht mehr damit abmüht, alle kleinen versprengten Teilchen aufzuräumen.

Zur Versammlung in La Marina kamen aber auch Bauern aus anderen abgelegenen Zonen, um ihre Geschichte zu erzählen. Als die Kommission dabei war sich zurückzuziehen, baten uns einige von ihnen eindringlich, ebenfalls mit den Fahrzeugen der Kommission zurückzukehren, da sie Angst hatten, uns könnte etwas zustossen.

Die Bauern sehen in der Belagerung Alfonso Canos nicht unbedingt den Hauptgrund für die hohe Präsenz von gewaltbereiten Truppen, obwohl dies teilweise stimmen mag, sondern eine Methode, die Landbevölkerung zu drangsalieren und zur Verzweiflung zu bringen, damit diese das Gebiet freiwillig verlassen. Ziel sei es Firmen, wie zum Beispiel der Unión Fenosa weite Gebiete zur Verfügung zu stellen, damit diese Staudämme errichten könnten. Das heißt, dass das Gebiet "gesäubert" werden soll, um die Flüsse, die sich aus den Gebirgszügen herunterwinden, aufzustauen.

Um diese These zu stützen, sagten die Bauern, dass die Guerilla sich nach dem Überfall in La Marina aus dem Gebiet zurückgezogen haben, die Truppen aber blieben. Daran haben sie erkannt, dass es um sie, die Bauern gehe.

Von einem unserer Begleiter, der für alternative Medien arbeitete, sagten die Bauern, er sei der einzige der gekommen sei, denn die kolumbianische Presse nimmt die Informationen der Armee und verkauft sie als reine Wahrheiten. Die Bauern fragen sich, wie es möglich ist, dass Leute aus Asturien von so weit her kommen, und andererseits findet sich nicht ein kolumbianischer Journalist dort. Diese Desinformation ist eine der Konstanten in kolumbianischen Krieg. Die Kriegsparteien vertuschen, das, was wirklich passierte und die Journalisten reproduzieren dann dieses Bild. Über die Konfrontation erzählte die Presse zum Beispiel von völlig anderen Dingen, als denen, die wir sehen und hören konnten. Die Presse berichtete nicht von der Besetzung der Schule und von dem Raub des Eigentums der Bauern. Die Presse behauptete, es sei die Guerilla gewesen die aus den Bergen herunter kam um Soldaten und Bauern zu töten, aber wie die Soldaten die Landbevölkerung bedrängen und misshandeln, davon ist kein Wort zu lesen. Wir waren dort und können die Echtheit der Tatsachen bestätigen.

Letztendlich ist das Operationsfeld gegen Cano und gegen die Bauern das gleiche riesige Gebiet und wir konnten nur einen kleinen Sektor besichtigen. Die Operationen der Armee zur Verfolgung Canos haben die Entwicklungspläne der Bauern, ein würdiges Leben in dieser Region zu ermöglichen, zerstört und verschoben, weil das soziale Dach einbricht, die Aktionsräte enthauptet und den Leuten Angst gemacht wird. Manchmal benötigt man die Unterstützung des Staates, aber das einzige was man uns schickt sind Bomben. Diese Konfrontation generiert viele weitere Probleme: Seitens der Armee durch die Gewalt, die militärische Belagerung und den Missbrauch der Bevölkerung als Schutzschild und andererseits auch durch die Guerilla, die die Soldaten angreift, wenn diese sich unter der Zivilbevölkerung bewegen. Nach diesen Auseinandersetzungen blieb die Bevölkerung verängstigt und verunsichert zurück. Leute mit Kaffeepflanzungen trauten sich nicht, den Kaffee ernten zu gehen, denn wenn sie auf den Plantagen von Soldaten angetroffen wurden, wurden sie verhört, man nahm ihnen das Essen weg und sie zerstörten ihre Werkzeuge.

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So zwischen drei und vier Uhr am Nachmittag fingen die Bauern an, uns zu drängen das Gebiet zu verlassen, da die Dämmerung einsetzte und die Truppen uns im Dunkeln auf dem Rückweg auflauern könnten. Sie sagten, dass die Armee uns überfallen könnte um danach die Schuld der Guerilla in die Schuhe zu schieben. Wir mussten uns beeilen unsere Sachen einzusammeln und es gab einen dramatischen Abschied, denn die Bauern baten uns, sie nicht zu verlassen und sie mit der Kommission nach unten zu nehmen, da sie Angst hatten allein hinunter zu steigen. Der Rückweg über den äußerst schlechten Pfad dauerte vier Stunden und wir sahen nicht einen Soldaten, wo es jedoch tausende gab, die jeden kontrollierten, der hochstieg oder herunterkam.

Als wir nach Chaparral herunterkamen, war es bereits Nacht. Der Ort war sprichwörtlich besetzt vom kolumbianischen Heer, überall im Stadtkern gab es Soldaten und Polizeitruppen und die Bauern wiesen uns darauf hin, dass diese Soldaten gemeinsam mit den Paramilitärs patroullierten.

Wir bekamen von Juli bis August Anzeigen über starke Bombardements eben genau in Chaparral. Wie war die Situation einen Monat zuvor?

Javier Orozco: Wir haben in dieser Zone so gut wie täglich Bombardierungen, zwar nicht im Stadtzentrum, aber in den ländlichen Gebieten des Bezirks. Es gibt häufig Schusswechsel, die Bombardierungen aber betreffen die ländlichen Zonen. Die Armee bestimmt, was ein lohnenswertes Ziel ist und dann wird es bombardiert, unabhängig davon, ob Zivilisten anwesend sind. In den Tagen der Konfrontation in La Marina gab es keine wahllosen Bombardierungen, erst danach. Sicher ist jedoch, dass die Bewohner La Marinas die Verfolgung von Gewerkschaftern und Mitgliedern der Kommunistischen Partei bestätigt haben. Die Kommunistische Partei hat eine sehr starke Basis in dieser Region und wird sehr stark und gewalttätig unter Druck gesetzt, obwohl sie eine legale Partei ist, wie jede andere auch. Es gibt sehr viele politische Gefangene in diesem Gebiet und die Verfolgungen sind an der Tagesordnung.

In der Bezirkshauptstadt Ibariqué beklagten sich die Leute mit denen wir uns trafen sehr über die Attacken der Armee auf die Landbevölkerung in Tolima, insbesondere in den Schutzzonen von Planadas und anderen des Dorfes Pijao. Sie wiesen uns auf permanente Feindseligkeiten und Misshandlungen in die Schutzzonen im Süden Tolimas hin und erwähnten ebenso die Schutzzonen von Chaparral, wo die Indígenas gegen Umwandlung ihres Stammlandes in einen Schauplatz für Militäroperationen protestieren.

Süd-Tolima ist eine geschichtsträchtige Zone mit einer langen Tradition von Agrarkämpfen und starken Verwurzelung der Guerillabewegung…

Javier Orozco: Auf jeden Fall. Eines der schändlichsten Ziele der Militäroperationen in dieser Zone ist a) den Widerstand der indigenen Bevölkerung zu brechen, die bis heute verhindern konnte, dass sich die Großgrundbesitzer ihrer Ländereien bemächtigen und b) die einflussreiche regionale Bauernorganisation zu zerstören, deren Hauptforderung Agrarreformen sind. Es gab in einigen Zonen Tolimas bereits Agrarreformen auf Ländereien die vom Staat mit Bewässerungssystemen bestellt wurden, doch diese Reformen blieben unvollständig, so dass sich die Großgrundbesitzer durch die Gewalt und den Krieg diese Ländereien wieder aneignen konnten. Die ursprüngliche Idee dieser begrenzten Agrarreformen war es, den Bauern eine Einkommensquelle zu geben und zu verhindern, dass diese ihr Auskommen in den Bergen suchten. Aber wenn man ihnen das Land wegnimmt, was können sie schon tun? Es ist offensichtlich, dass es einen Prozess der agrarischen Gegenreform gibt, der eng mit den Operationen zur Aufstandsbekämpfung verbunden ist.

Scheint es ihnen daher nicht auch, dass das Problem beginnt sich im Kreis zu drehen, wenn man davon ausgeht, dass diese Territorien befestigt werden sollen um die Aufstandsbewegung niederzuwerfen, die Folgen der Konsolidierung, wie agrarische Gegenreform, Misshandlung und Missbrauch der Bevölkerung, aber die Menschen in die Reihen der Aufständischen treiben?

Javier Orozco: Nun gut, ich kann nicht sagen, wohin die Menschen gehen. Es wird Leute geben, die in die Berge gehen, um Land urbar zu machen, wo es keinen Krieg gibt, andere die zu Verwandten in anderen Gebieten ziehen, wieder andere, die als Bettler in die Stadt ziehen, um sich als Straßenhändler ihr Brot zu verdienen, aber die Jungen werden sich sicher anders entscheiden. Viele sind sehr wütend über die Ausplünderung der mühsam erwirtschafteten Habe, der Höfe und Häuser und ihrer Einnahmequellen, aufgrund eines Streites, mit dem sie nach Behauptung des Staates gar nichts zu tun hätten.

Die Landbevölkerung kann über die vom Staat an allen Straßen und Wegen aufgestellten Plakate nur müde lachen: "Sichere Reise, ruhige Reise, ihre Armee wacht auf den Straßen." Die Leute scherzen: "Sicher, was für eine Ruhe, allein waren wir besser dran".

War es riskant, in dieses Gebiet zu reisen?

Javier Orozco: Die Kommission hatte anscheinend keine Probleme, weil die Armee sich bei unserer Ankunft zurückzog, aber es gab Leute, auch vom Außenamt der spanischen Regierung, die uns davon abrieten, in den Süden von Tolima zu gehen. Sie sagten uns, es wäre nicht besonders klug und es sei besser auf die Zusammenstellung eines Konvois mit anderen Institutionen zu warten. Wir hatten jedoch keine Zeit auf einen Konvoi zu warten, weil man uns wegen der dramatischen Ereignisse dorthin rief. So entschieden wir trotzdem allein zu gehen.

Cauca, welches unter ähnlichen Umständen wie einige Regionen in Tolima litt, wurde ebenfalls von der Kommission besucht, richtig?

Javier Orozco: Als wir vergangenes Jahr nach Cauca gingen, befand dieses sich bereits in einem Zustand der Belagerung, mit dem man über einen längeren Zeitraum versuchte die Aufständischen zu ermüden und auszuhungern. Während des Aufenthaltes konnten wir an der gesamten Panamericana zwischen Cali und Popayán strategisch platzierte Kriegspanzer bestaunen und es waren viele leicht erkennbare Antiguerilla-Einheiten unterwegs. Dies war zwar nicht ungewöhnlich, aber es waren doch recht viele Truppen die sich der, wie sie es nennen "Präsenz und Überwachung" widmeten. Auf den Straßen konnte man die Spuren abgebrannter Fahrzeuge und von Kriegshandlungen erkennen und unsere regionalen Begleiter wiesen wie in Tolima auf Stellen, wo sie einen Soundso ermordeten, oder wo ein anderer verschwand.

Ebenso berichteten sie von vielen Bombardements in den Indígena-Zonen, wo die Armee die FARC vermutete. Sie versuchen mit US- Spitzentechnologie Ziele aus der Luft, aus sehr großer Höhe, zu identifizieren und bombardieren sie dann. Es wurde Caloto besichtigt, wo die Bauern von entsetzlichen Dingen berichteten. So wurden ermordete Zivilisten als im Kampf gefallene Guerrilleros ausgegeben, so genannte falsos positivos (sinngemäß: gefälschte Tatsachen, d. Ü.). Es gibt Nachrichten über Hinweise auf neuerliche falsos positivos, was bedeutet, dass die Anzahl der Fälle zurückgegangen sein wird, aber diese Praxis weiterhin angewandt wird. Auch wird gemeldet, dass die Soldaten um sich schießend in Häuser eindringen, wo sie Guerilleros oder Milizionäre in zivil vermuteten, was viele tote Bauern und Indígenas zur Folge hatte.

Die Angelegenheit nahm an Dramatik zu, als wir um vier Uhr nachmittags den Stadtkern Calotes Richtung Popayán für weitere Versammlungen verließen. Man rief uns über Funk an, dass wir zurückkommen sollten, da die Luftwaffe die ländliche Umgebung Calotes bombardierte und die Leute, die wir interviewt hatten, sich noch in dieser Zone aufhielten, oder daran gehindert wurden, diese Zone zu passieren. Wir konnten uns mit einem der Zeugen in Verbindung setzen, der uns berichtete: "Ich kann nicht weiter hinaufsteigen, um nach Hause zu kommen. Weiter oben gibt es einen heftigen Schusswechsel und Flugzeuge. Daher habe ich mich unter einer Brücke versteckt und ich kann weder aufsteigen noch wieder hinunter gehen." Wir nahmen an, dass es anderen ähnlich ging. Dann, am darauf folgenden Tag erfuhren wir, dass die Bauern bei anderen Bauern Unterschlupf fanden, bis die Feindseligkeiten vorbei waren.

Wegen all dieser Feindseligkeiten und des Drucks der militärischen Belagerung, war der Tod Canos Ihrer Meinung nach vorhersehbar?

Javier Orozco: Ich hatte immer die Hoffnung, dass er wie eine Katze sieben Leben hätte wie der alte Marulanda und dass es ihm möglich wäre, aus dieser Belagerung zu entkommen. Schließlich ist die Verfolgung eine Konstante, etwas was die Guerillaführer immer wieder erleben: Sie werden belagert und entkommen, wie ein Katz-und-Maus-Spiel, das bereits über ein halbes Jahrhundert dauert. Cano selbst war bereits aus vielen Belagerungen entwischt und ich hatte die Hoffnung, dass man das Leben eines gebildeten und politisch visionären Guerillero bewahren könnte, der dazu noch verhandlerisches Geschick hatte. Das konnten selbst Funktionäre der EU bestätigen, die die befreite Zone besuchten.9

Er hatte immer über Möglichkeiten nachgedacht, wie der Krieg zu beenden wäre und die Guerillakämpfer respektierten ihn, weil gut mit ihnen umzugehen wusste. Außerdem war er ein Mann der sein Wort und seine Vereinbarungen einhielt und hatte sowohl bei den Bauern und Bereichen der der kolumbianischen Intelligenz viele Sympathien, weil er eher politisch argumentierte. Er war kein Mann des Krieges oder der Waffen. Er war kein Soldat sondern ein politischer Denker, der sehr viel Hoffnung in den Frieden setzte. Seine Ermordung war der Mord an der Hoffnung auf Frieden in dieser Phase. Die Regierung verschmähte und ermordete einen Vermittler.

Nach den dramatischen Zeugenaussagen, die wir zu dem Krieg gehört haben, glauben Sie, dass sich mit dem Tod Canos das Leben für die Gemeinden in Tolima ändern wird?

Javier Orozco: Ja, unmittelbar, denn jetzt werden sie völlig unter der Kontrolle der Paramilitärs und der Armee stehen und von ihnen Missbraucht werden. Die Bauern selbst sagten, dass es nun äußerst schwierig für sie wird. Mit dem Tag, an dem die Guerilla besiegt würde, würde sich die Lage für sie sehr verschlechtern. Die Guerilla funktioniert als Gegengewicht gegenüber den Großgrundbesitzern, die wiederum die Paramilitärs benutzen, um den Bauern ihr Land wegzunehmen. Mit der Guerilla hatten sie keine freie Hand, aber das hat sich nun geändert. Ich kann nur hoffen, dass ich mich irre.

Natürlich ist es auch richtig, dass die Guerilla an Führungswechsel gewohnt ist und es gibt bestimmte Bedingung, die gleich bleiben oder sich bereits vorher verschärft haben. Möglicherweise wird die Guerilla sich von dort für einige Zeit zurückziehen, um später erneut zurückzukehren. Für wie lange sie fortbleiben werden, kann man schwer einschätzen, denn sie haben ja keinen festen Sitz, sondern sind ständig in Bewegung. In den Gebieten, wo die Guerilla sich zurückgezogen und der Staat seine Konsolidierungspläne durchgesetzt hat, haben die Bauern ihr Land verloren und müssen sich nun als Bedürftige oder Tagelöhner auf den Latifundien durchschlagen. Sie verlieren ihr Land, die politische Macht geht in die Hände der Mafia über, welche die neuen korrupten Landbesitzer mit eigener Armee sind. Das ist ein sehr besorgniserregendes Szenario, welches den Konflikt weiter anheizt.

Die Guerilla versorgt die Menschen auch nicht mit Lebensmitteln und kann ebenso wenig die Probleme lösen. Weder sind sie karitative noch staatsbildende Werkzeuge, aber so wie einige Bauern mir berichteten, konnten sie wenigstens den gewalttätigen Landraub einschränken.

  • 1. Comisión Asturiana de Verificación de los Derechos Humanos en Colombia
  • 2. Nachzulesen in der aseptischen Version der Ereignisse in der Zeitschrift "Semana".
  • 3. Siehe die folgenden Darstellungen, die Zeugnis über die Ereignisse unmittelbar nach der Besichtigung durch die Kommission aus der Perspektive der betroffenen Gemeinden und deren organisatorischen Vereinigungen ablegen.
  • 4. Programa de Acogida Temporal para Víctimas de Violaciones a los Derechos Humanos en Colombia del Principado de Asturias
  • 5. Die Federación Nacional Sindical Unitaria Agropecuaria ist eine 1976 gegründete kolumbianische Bauernvereinigung und eine der Basisorganisation, die in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere durch Paramilitärs und Armee gegeißelt wurden. Außerdem sitzen einige Führer und Mitglieder der Organisation hinter Gittern.
  • 6. Guerilleros der FARC
  • 7. Diese Aktion wurde nach Beschreibungen von den Elite-Einheiten der FARC, den sogenannten pisa suaves (Sinngemäß: die leise Auftretenden, d. Ü.) durchgeführt. Nach den letzten Informationen der Corporación Nuevo Arco Iris kann man die pisa suaves wie folgt beschreiben: "Diese Einheiten setzen sich aus 25 bis 35 personen zusammen, operieren aber nie in Gruppen größer als fünf Personen. Zur Zeit charakterisieren sich deren Aktionen durch Operationen in denen sie die Stellungslinien verschiedener militärischer Strukturen angreifen. Sie sind bei ihren Aktionen mit gebranntem Öl beschmiert und barfuß unterwegs. Man nennt sie pisa suaves weil man ihre Schritte nicht hört." Kommandant Edgar Celey beschreibt sie folgendermaßen: "... der Guerilakrieg kehrt zu der Methode zurück, in zwei bis drei kleinen Gruppen zu operieren, einen Weg zu finden schnell zuzuschlagen und wieder zu verschwinden. Wenn sie uniformiert sind, treten sie mit sogenannten pisa suaves-Gruppen auf. Sie sind barfuss und tragen nur die Granaten bei sich mit denen sie zuschlagen werden." Beide Zitate finden sich in diesem Dokument. Ebenso gibt es auch auf Youtube einige Videos über die pisa suaves: "PISA SUAVES.avi" und "Fuerzas Especiales de las Farc".
  • 8. Menschen, die ursprünglich von den Küsten Kolumbiens stammen.
  • 9. Die befreite Zone in San Vicente de Caguán während des gescheiterten Friedensprozesses zwischen der FARC mit der Regierung Andrés Pastranas (1998-2002)