In der Morgendämmerung des 1. Mai 2006 startete in El Alto, dem Flughafen von La Paz, ein bolivianisches Militärflugzeug, das das gesamte bolivianische Kabinett beförderte, mit Kurs auf das Erdgasfeld Carapari, 1200 Kilometer südlich der Hauptstadt gelegen. Als Evo Morales an das Tor der Förderungsanlage von San Alberto gelangte, kam der Direktor herbeigelaufen und fragte den Präsidenten, welches der Gasfelder er besichtigen wolle. Evo Morales lächelte ihn an und erwiderte: „Ich bin nicht zu Besuch hier, sondern um – im Namen des bolivianischen Volkes – die Kontrolle über Ihre Anlagen zu übernehmen.“
Am selben Tag besetzten überall im Land Elitetruppen der Armee die Öl- und Gasfelder, die Pumpstationen, Raffinerien, Werkstätten, elektronischen Kontrollzentren, Pipelines, Eisenbahndepots, Verwaltungssitze und Kommunikationszentren der ausländischen Konzerne.
Selten in der jüngeren Weltgeschichte ist eine so gigantische Eigentumsübertragung in so kurzer Zeit friedlich vollzogen worden. Bolivien besitzt eines der bedeutendsten Gasvorkommen Lateinamerikas. Die Weltbank schätzt, dass Bolivien in den kommenden zwanzig Jahren aus dem Erdgassektor einen Nettoerlös von mehr als 100 Milliarden Dollar (nach heutigem Geldwert) erzielen wird. Die reibungslose und fast wundersame Umwandlung der bolivianischen Niederlassungen allmächtiger, weltweit agierender Großkonzerne – Texaco, Shell, British Gas usw. – in bolivianische Dienstleistungsunternehmen ist zu einem hervorragenden Teil Álvaro García Linera zu verdanken.
Der 49-jährige García Linera ist einer der bedeutendsten und klügsten Soziologen Lateinamerikas. Als junger Mann kämpfte er in der Guerillaarmee Tupac Katari. 1992 wurde er von der Geheimpolizei verhaftet und verschwand für fünf Jahre – ohne Gerichtsverfahren – im Hochsicherheitsgefängnis von La Paz. Im Exil lernte er Marco Aurelio García, den brasilianischen Soziologen und späteren außenpolitischen Berater von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, kennen. Die beiden wurden enge Freunde und Genossen.
Jede Regierung, die irgendwo auf der Welt bislang Shell, Texaco, Total und die anderen Ölgiganten anzugreifen wagte, wurde gestürzt. Mohammad Mossadegh in Iran 1953; Jaime Roldós, Präsident von Ecuador, starb 1981 mit seiner Familie in einem explodierenden Flugzeug und so weiter. Evo Morales überlebte diesen historischen Moment. Warum? Weil am Tag nach der Übernahme der Öl- und Gasfelder der brasilianische Präsident, auf Anraten von Marco Aurelio García, ein Communiqué in Brasilia verlas. Lula sagte: „Die bolivianische Initiative ist ein Akt der Gerechtigkeit. Unsere Petrobras ist zwar ein Großinvestor in Bolivien, sie wird viel Geld verlieren, aber Evo Morales hat nichts anderes getan als sein Wahlversprechen einzulösen.“
Die Konzernmogule – in Austin, London, Rotterdam – waren gezähmt. Nach Lulas Solidaritätserklärung konnten sie Morales nicht mehr so einfach als „Kommunisten“ beschimpfen und ihre Sabotagetruppen in Gang setzen.
Die unglaublich komplexe, absolut faszinierende Bewegung des MAS (Movimiento al Socialismo), die am 1. Januar 2006 den Kokabauern und Gewerkschafter Evo Morales aus dem Volk der Aymara in den Palacio Quemado, den Präsidentenpalast in La Paz, schickte, beruht auf einer komplizierten Allianz der Bauern- und Minenarbeitergewerkschaften einerseits und andererseits der über 12 000 Traditionsgemeinschaften der Quechua, Aymara, Moxo, Guaraní und vieler anderer.
Pueblos originarios ist die offizielle Bezeichnung der indianischen Kulturnationen, die etwa 65 Prozent der 10 Millionen Bolivianer ausmachen – und die seit über fünfhundert Jahren als Knechte der Weißen und Mestizen in Rechtlosigkeit und Elend lebten.
Am Abend des 25. November 2007, als in der Hauptstadt Sucre die Delegierten endlich die neue Verfassung verabschiedeten, rief Evo in den Saal: „¡Se acabó el saqueo de Bolivia! ¡Se acabó el Estado colonial!“ („Die Plünderung Boliviens ist zu Ende! Der Kolonialstaat ist zerstört!“)
Auf den Ruinen des Kolonialstaates erbaut das MAS derzeit – in mühsamer Kleinarbeit – den so gerecht wie möglich sozialen, pluriethnischen Nationalstaat. Die neue Verfassung ist wohl die detaillierteste der Welt: Die vormals Rechtlosen werden geschützt durch 411 Artikel! Allein der Menschenrechtskatalog umfasst 32 Artikel. Die indianischen Kosmogonien sind der katholischen Religion gleichgesetzt – was den Nuntius und den hohen Klerus in Schrecken und Aufruhr versetzte. Einige Artikel sind sogar in Quechua verfasst. So zum Beispiel im Artikel 8: „El Estado asume como principio ético-moral: ama qhilla, ama llulla, ama suwa (no seas flojo, no seas mentiroso ni seas ladrón), suma qamaña (vivir bien), ñandereko (vida armoniosa), teko kavi (vida buena), ivi maraei (tierra sin mal) y qhapaj ñan (camino o vida noble).“ („Der Staat bekennt sich zu dem ethisch-moralischen Grundsatz: Sei nicht faul, sei kein Lügner, sei kein Dieb, und führe ein gutes harmonisches und nobles Leben.)
Der einflussreichste Architekt und Theoretiker dieses radikal neuen, pluriethnischen, souveränen Rechtsstaates heißt Álvaro García Linera. Als Soziologe kennt er wie kein anderer die Widersprüche zwischen indianischen Traditionsgemeinschaften und modernen Gewerkschaftsbewegungen. Als Kämpfer der Guerilla, der sein Leben für Freiheit und Gerechtigkeit riskiert hat, genießt er höchste Glaubwürdigkeit. Als Autor verfügt er über ein verdientes, großes internationales Prestige.
Die in diesem Band vereinigten Essays stammen aus den letzten zehn Jahren und werden ergänzt durch ein höchst instruktives Interview zu Beginn. Die Texte handeln vornehmlich von der Staatsbildung im revolutionären Prozess, von der Soziologie zivilgesellschaftlicher Bewegungen, von Plurikulturalität und der steten Bedrohung des neu entstandenen souveränen Rechtsstaates durch die internationalen imperialistischen Zerstörungsversuche.
Hier liegt ein leidenschaftliches, interessantes Buch vor, geschrieben von einem außergewöhnlichen Intellektuellen, der sich als Widerstandskämpfer zum Staatsmann gewandelt hat. Das Buch ist deshalb so wichtig, weil es die europäische Ignoranz des bolivianischen Revolutionsprozesses durchbricht. Eine Revolution, die für ganz Lateinamerika – und auch für europäische Linke – eine unbändige Hoffnung darstellt.
Dem Rotpunktverlag ist zu danken, dass er dieses außergewöhnlich wichtige Buch dem deutschsprachigen Publikum zugänglich macht.
Von Jean Ziegler erschien zuletzt: Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren, C. Bertelsmann, München 2010.