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Venezuela und Libyen: Interview mit Gregory Wilpert

Gespräch mit Gregory Wilpert über die Position Venezuelas bezüglich der Krise in Libyen

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Gaddafi und Chávez während des letzten Besuches des venezolanischen Präsidenten in Libyen
Gaddafi und Chávez während des letzten Besuches des venezolanischen Präsidenten in Libyen

Inwieweit hat Chávez im Fall Libyen tatsächlich Partei ergriffen?

Chávez scheint beim Thema Libyen hin- und hergerissen zu sein. Einerseits hat er verkündet, Gaddafi sei sein Freund und er vertraue ihm. Andererseits gibt er an, nicht zu wissen, was heute in Libyen geschieht, und sagt, dass man der internationalen Berichterstattung diesbezüglich nicht trauen könne, und dass man auch einen Freund nicht in allen seinen Handlungen unterstützen könne. Während sich Chávez also zaghaft Libyen annähert, hat er praktisch schon Partei für Gaddafi ergriffen, und zwar so weitgehend, dass er Zweifel an den Presseberichten über Gaddafis Gräueltaten in Libyen geäußert hat.

Chávez hat mehrfach bekundet, dass die Innenpolitik eines Landes nicht von anderen führenden Weltpolitikern kommentiert werden soll, da sie Angelegenheit des jeweiligen Landes ist und dessen Souveränität respektiert werden muss. Ähnliches sagte er kürzlich in Bezug auf die Volksaufstände in Ägypten. Warum hat er dann in diesem Fall, wenn auch in eingeschränktem Maße, Stellung bezogen?

Ich denke, Chávez hat Position ergriffen, weil seine Außenpolitik in hohem Maße auf persönlichen Beziehungen basiert. Wenn er erstmal ein enges persönliches Verhältnis zu einem ausländischen Staatsoberhaupt aufgebaut hat, vertraut er diesem Politiker vorbehaltlos und negative Schlagzeilen über ihn lassen ihn völlig unbeeindruckt, da er aus eigener Erfahrung nur zu gut weiß, wie parteiisch die internationale Berichterstattung sein kann.

Einige Chávez-Kritiker behaupten gerne, er sei vernarrt in Leute wie Gaddafi, da sie wie er Alleinherrscher sind. Dieses Argument ist jedoch unsinnig, wenn man einmal bedenkt, dass Chávez auch mit Lula da Silva in Brasilien eng befreundet ist, der einen tadellosen demokratischen Ruf besitzt. Vielmehr schließt Chávez Freundschaften quer durch das "Demokraten-Autokraten-Spektrum", ungeachtet des jeweiligen Regierungsstils.

Glauben Sie, dass die eigenen Erfahrung eines US-gestützten Putsches und die gewaltigen Verzerrungen über Venezuela in den internationalen privaten Medien bei Chávez' Reaktion auf die Vorgänge in Libyen eine Rolle gespielt haben, oder ist sie eher Teil seiner allgemeinen Außenpolitik?

Sowohl als auch. Chávez besitzt im Allgemeinen das Interesse, Süd-Süd-Beziehungen zu stärken. Dafür muss er Verbindungen zu fragwürdigen Charakteren wie Gaddafi aufbauen. Als begeisterter Geschichtskenner schätzt er Gaddafi außerdem für seine Revolution von 1969, die er als einen antiimperialistischen Befreiungskampf sieht, (weshalb er ihn mit einem Replikat von Simon Bolivars Schwert geehrt hat). Indes scheint sich Chávez jedoch nicht bewusst zu sein, dass Gaddafi und Libyen sich seitdem beträchtlich verändert haben, sondern betrachtet Gaddafi weiterhin durch seine historische Brille.

Viele aus der internationalen Linke haben Chávez schwer dafür angegriffen, dass er Gaddafi nicht verurteilt. Besteht das Risiko, dass seine Haltung die Bolivarianische Revolution innerhalb der internationalen Linke und auch unter den ALBA Staaten delegitimiert?

Meines Erachtens ist die Gefahr, dass Chávez insbesondere bei der internationalen Linken seine Legitimität verliert, beträchtlich. Es gibt zwar Linke, die Chávez' positive Bewertung von Gaddafi teilen, die Mehrheit tut dies jedoch nicht und kann nicht verstehen, warum Chávez ihn nicht verurteilt. Seine Unterstützer aus dem Ausland werden denken, dass Chávez entweder hoffnungslos blauäugig gegenüber Gaddafi ist, oder dass er eine entsetzliche Beratung in Sachen Außenpolitik erhält. Die meisten Regierungen der ALBA-Länder scheinen jedoch Chávez' Sichtweise auf Libyen zu teilen. Nicaraguas Präsident Daniel Ortega war in seiner Unterstützung von Gaddafi sogar um einiges freimütiger als Chávez und der Präsident von Ecuador, Rafael Correa, hat eine ähnliche Position wie Chávez eingenommen.

Auch hier in Venezuela haben Opposition und private Medien Chávez' Position zu Libyen, wie auch die Volksaufstände in Nordafrika und dem Mittleren Osten insgesamt, genutzt, um einen heftigen Frontalangriff auf Chávez zu starten. Sie legen nahe, er "könnte der nächste sein" und behaupten damit, dass er in gleichem Maße Diktator sei wie Gaddafi. Wie viel Wahrheit steckt hinter diesen Behauptungen und welche Konsequenzen könnte eine derartige Kampagne der Opposition in Venezuela haben?

Derartige Behauptungen sind reines Wunschdenken der venezolanischen Opposition. Die Situation in Venezuela ist das Gegenteil der Situationen in den arabischen Ländern. Zuallererst sind in diesen Ländern über die letzten zehn Jahre und darüber hinaus Ungleichheit und Repression im Allgemeinen gestiegen, während unter Chávez die Ungleichheit zurückgegangen ist und die politische Beteiligung zugenommen hat. Keines dieser arabischen Länder hat eine funktionierende Demokratie, derweil Venezuela eine florierende Demokratie besitzt. Als einzige Gemeinsamkeit könnte man aufführen, dass Chávez, Mubarak und Gaddafi alle Männer des Militärs sind. Doch Chávez hat wiederholt bewiesen, dass er ungeachtet seiner militärischen Instinkte wirklich bestrebt ist, in Venezuela eine partizipatorische und sozialistische Demokratie aufzubauen.

In seinem eigenen Land setzt Chávez eine klare Betonung auf die Macht des Volkes. Warum konzentriert er sich angesichts dessen auf internationaler Ebene eher auf Staatschefs, selbst wenn sie beim Volk nicht notwendigerweise beliebt sind, so wie der Präsident des Iran und Gaddafi?

Ich habe den Eindruck, seine Betonung auf Staatschefs rührt aus zweierlei Quellen her. Erstens glaubt er an die Bedeutung von starken Führungspersonen, um Gesellschaften nach vorne zu bewegen. Zweitens stellt er, wie schon erwähnt, einen Großteil seiner Politik auf die Basis persönlicher Beziehungen. Seine Vetrautheit zu bestimmten Staatschefs lässt ihn ihre Mängel übersehen, obwohl (oder besonders wenn) die Mainstream-Presse negativ über sie berichtet.

Chávez hat die Einrichtung einer Friedenskommission vorgeschlagen, die in Libyen vermitteln soll. Er scheint auf internationaler Ebene oft Initiator solcher Vorschläge zu sein. Stimmt das, und aus welchem Grund?

Ja, Chávez scheint ein großes Interesse daran zu haben, eine Vermittlerrolle zu spielen, und hat bereits bei verschiedenen Anlässen versucht, diese Rolle einzunehmen, so im kolumbianischen Bürgerkrieg und während des Staatsstreichs in Honduras. Ein Großteil seiner Motivation rührt meines Erachtens daher, dass er ein Bild von sich projizieren möchte, dass seinem Ruf als aggresivem Weltpolitiker entgegensteht. Während dies seine mögliche psychologische Motivation ist, glaube ich allerdings, Chávez möchte auch unter Beweis stellen, dass seine Außenpolitik im Gegensatz zur kriegsorientierten US-Außenpolitik friedensorientiert ist.


Gregory Wilpert ist Soziologe, freiberuflicher Journalist, Mitbegründer der Internetplatform venezuelanalysis.com und Autor des Buches "Changing Venezuela by Taking Power".