"Die Wirtschaft verzehrt den Bolivarischen Prozess"

Der Soziologe Javier Biardeau sieht den Veränderungsprozess in Venezuela in der schlimmsten Krise seiner Geschichte

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Der venezolanische Soziologe Javier Biardeau
Der venezolanische Soziologe Javier Biardeau

Wir müssen der Krise ins Auge sehen, argumentiert Javier Biardeau. Eine Niederlage mit dem Versuch der Kurskorrektur wiege weniger schwer als eine Niederlage ohne Änderungsversuche. Das ist der schlechteste Moment, um einer Wahl entgegenzutreten.

Viel Zeit ist verloren gegangen, sagt der Soziologe und Professor an der Zentraluniversität von Venezuela (UCV), Javier Biardeau. Gesprochen hat man davon, den Benzinpreis zu erhöhen, die Korruption zu bekämpfen, gesehen haben wir davon nichts. Die Opposition spielt auf Zeit und inmitten ihrer Zermürbung glaubt die Regierung, sie befinde sich in einem vorteilhaften politischen Augenblick. "Ihr wollt wohl, dass euch der Tiger frisst!"

Von einem maximalistischen Sozialprogramm ist nur eine minimalistische Agenda übrig geblieben, in der das einzige Ziel ist, die Höhe der Sozialausgaben aufrecht zu erhalten, mit dem Wohnungsbauprogramm "Gran Misión Vivienda Venezuela" als Aushängeschild. Es gibt ein Unwohlsein, eine Unzufriedenheit in der Basis des Chavismus. Eine sehr gefährliche Repräsentationskrise, die uns zu Verhältnissen zurückführen kann, die wir beim Pakt von Punto Fijo1 erleben mussten.

Chávez’ Mitverantwortung

Gibt es nicht eine Reihe fast existenzieller Fragen innerhalb des Chavismus? Wo sind wir? Was passiert hier? Wohin geht der Weg?

Ich glaube, der Bolivarische Prozess erlebt derzeit die schlimmste Krise seiner Geschichte. Eine Führungskrise, Schwierigkeiten in der öffentlichen Politik, sehr ungelegene Entwicklungen in der internationalen Konjunktur sowie der Verlust seines politischen und ideologischen Hauptbezugspunkts, der ohne Zweifel Chávez war. Diese Kombination von Faktoren, vereint mit einem Verschleiß, der sich schon seit 2007 langsam und kontinuierlich gezeigt hat, hat zu einer Krisensituation geführt, die jetzt die gesamte Bevölkerung erkennt.

Wir befinden uns in einer Krise, das ist der Ausgangspunkt. Und die Führung des Staats liegt in der Hand des Chavismus post Chávez. Und in 24 Monaten, zwischen Oktober 2013 und heute, hat dieser sich weder als effizient noch effektiv in den öffentlichen Politiken erwiesen. Das hat das schlimmste Symptom hervorgerufen: die mangelnde Rückendeckung für die Regierung. Unzufriedenheit und Unwohlsein machen sich breit, und das ist der denkbar schlechteste Augenblick für den Chavismus, sich dem Wahlprozess zu stellen.

Es wurde immer von der "Superführerschaft" (hiperliderazgo) von Chávez gesprochen. Und Chávez hat selbst wenig dafür getan, diese Vorstellung zu widerlegen. Ergab sich nach seinem Tod nicht die Möglichkeit, das Spiel zu öffnen und das Problem von einer anderen Perspektive aus anzugehen? Um es anders auszudrücken: Die Möglichkeit, in Chávez' Fußstapfen zu treten, gab es nicht. Worauf führen Sie das zurück?

Im Prinzip glaube ich, dass der Gedanke, dieses Führungsmodell aufrecht zu erhalten, dominierte. Die neuen Personen sollten Chávez' alten Stil verkörpern, eine unmögliche Sache, denn sein Führungsstil war eng verbunden mit seinem Charisma. Seine Art, mit den Leuten, mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten, war sein hauptsächliches politisches Kapital.

Und das andere ist, dass man es schon in der ersten Amtszeit Chávez' verpasste, eine Kultur der kollektiven Führung aufzubauen. Da trägt Chávez ebenso seine Mitverantwortung. Bis seine Krankheit weit fortgeschritten war, war man immer noch der Ansicht, er würde weiter im Amt bleiben und die hohen Regierungsmitglieder waren nicht darauf vorbereitet, was passieren könnte.

Wir wissen immer noch nicht mit wissenschaftlicher Gewissheit, was Chávez' Todesursache war, aber aus einigen Hinweisen kann man schließen, dass es sich um eine katastrophale Krankheit handelte. Wenn die Regierungsriege eingeweiht war, welchen Ausgang das nehmen würde, gab es nicht eine Zeitspanne, in der man das Thema der Führung hätte ansprechen können?

Ja, aber hier muss man die politische Richtung verstehen, die die bolivarische Bewegung seit ihrem Beginn genommen hat. Chávez vereinnahmte praktische jedwede Konkurrenz um die Führung oder jedwede Möglichkeit, sich die Führung des Prozesses zu teilen. Da gibt es einige Beispiele von Personen mit beachtlichen politischen Werdegängen, die auf der Strecke blieben. Einer, der nicht einmal Chávez seine Führung strittig machen wollte, aber der ihm gegenüber das Thema frühzeitig erwähnte und an den man sich heute viel erinnert, war (Alberto) Müller Rojas2. Bei mehreren Gelegenheiten wies Müller Chávez darauf hin, dass die politische Führung viel konsultativer sein sollte, als sie es war.

Und diese Kultur, die über 15 Jahre hinweg zementiert wurde, führte dazu, dass keine kollektive Führung entstand, keine geteilte oder kollegiale Führerschaft oder wie man das nennen möchte. Genau während der Diskussion über die Verfassungsänderung für die unbegrenzte Wiederwahl des Präsidenten (im Jahr 2009) sagte mir ein ranghoher Anführer des Chavismus, dass es aus Sicht der Präsidentschaft für niemanden eine Zukunft gebe, nur für Chávez. Sie selbst hatten die These, dass es nach Chávez nichts mehr geben könnte, schon verinnerlicht. Ich glaube daher, dass dort niemals ein Szenario für eine kollektive Führerschaft vorbereitet wurde.

Gab es keine anderen Möglichkeiten?

Auf hoher Regierungsebene gab es einige sehr verfestigte Denkweisen darüber, wie die Bevölkerung in der kollektiven Führung Venezuelas repräsentiert werden sollte. Es existiert immer noch das sehr konventionelle Bild, nach dem der starke Mann jedwede weiteren Figuren dominiert. Man könnte denken, dass wer kein starker, Autorität ausstrahlender Mann ist, als nicht geeignet für die Präsidentschaft oder Ausübung politischer Führung gilt.

Eine Regierung mit minimalistischen Ansprüchen

Sie sprechen vom Mangel an Effizienz und Effektivität, aber es gibt die OLP3. Auf der Ebene der Sozialpolitik und auf ökonomischer Ebene regelt sich alles ohne größere Einwirkungen der Regierung. In diesem Moment ist die "unsichtbare Hand des Marktes" sehr präsent.

Ich erzähle Ihnen etwas. 2013 war "Regierung der Straße" das Motto. Wenn du fragst, ob man heute noch von der Regierung der Straße spricht, wird die Antwort negativ ausfallen. 2014 begann man, nach den ersten sechs Monaten der "Guarimbas"4 und dieses ganzen Themas, davon zu sprechen, die "Präsidialräte der Volksmacht"5 zu reaktivieren. Nach und nach schob man das beiseite und zum Hauptproblem wurden die Unsicherheit und der steigende Druck, die Wirtschaftspolitik zu verändern. Es gab mehrere Ankündigungen, die nie umgesetzt wurden.

Zum Beispiel sprach Präsident Maduro im September 2014, wenn ich mich nicht täusche, davon, den Benzinpreis zu erhöhen. Jetzt haben wir Oktober 2015 und es wurde keine Entscheidung getroffen. Als Rafael Ramírez6 im Kabinett war, wurde davon gesprochen, sowohl Änderungen im Wechselkurssystem als auch in der Steuerpolitik durchzuführen, aber auch daraus wurde nichts. Es gab Ankündigungen über Ankündigungen, aber die Taten der Regierung gingen nicht darüber hinaus, die Höhe der Sozialausgaben aufrecht zu erhalten, obwohl die Ölpreise fielen.

Wir wissen nicht, ob diese Sozialausgaben effektiv sind, ob sie effizient sind, oder wie sie verteilt werden. Aber man konzentrierte sich auf die Erfüllung der Ziele der Gran Misión Vivienda Venezuela. Dort liegt die Stärke der Regierung.

Die anderen Themen der sozialen Agenda wurden auf Eis gelegt?

Es wird vorgeschlagen, im (Regierungsprogramm) Plan de la Patria die Millenniumsziele zu integrieren. Es geht nicht mehr darum, die relative und strukturelle Armut zu besiegen, sondern das Elend und den Hunger zu beseitigen. Man fängt an, sich der Rhetorik der Vereinten Nationen zu bedienen, die sehr graduelle Ziele vorgibt, um die absolute, weltweite Armut zu reduzieren. Ich würde sagen, das sind minimalistische Ziele, während Chávez in seinem Wahlprogramm (dem Plan de la Patria) eine maximalistische Agenda vorgab. Maduro hat versucht, die Erwartungen zu senken, und aus diesem Grund wurde er von den kritischsten und radikalsten Sektoren des Chavismus bzw. der Linken kritisiert.

Ich glaube, dass die Regierung im Grunde versucht, sich durch die Situationen zu manövrieren, wobei Taktik, um nicht zu sagen, Pragmatismus, dominierend sind, während die strategischen Ziele vordergründig reine Rhetorik sind, um den Eindruck der Kontinuität mit Präsident Chávez zu wahren. Aber die zentrale Schwäche der Regierung ist weiterhin, dass die Wirtschaft das politische Kapital des Bolivarischen Prozesses verzehrt. Solange an dieser Stelle auf hoher Regierungsebene keine Maßnahmen ergriffen werden, ist das Wirtschaftsproblem wie Ballast, der den Prozess immer weiter in die Tiefe zieht, während die Opposition abwartet, dass – sagen wir es mal so – der Chavismus weiterhin Fehler begeht.

Es gibt Menschen, die behaupten, dass wir in Venezuela eine "Periode niedriger Intensität" durchleben, die nicht so hart ist, wie die die Kuba durchmachen musste. Sie benutzen diese Metapher, um sich auf eine Periode von Beschränkungen und Knappheit zu beziehen.

Ich glaube nicht, dass sich beide Situationen vergleichen lassen. Im Fall Kubas war es zum Beispiel sehr schwierig, die Unterschiede zwischen den präsumtiven Steuern und der Lebenssituation der Bürger zu finden. Hier in Venezuela besteht das Paradox – und das erzeugt am meisten Explosivität an der ganzen Situation – dass im September 2013 der Korruption der Kampf angesagt wurde, aber nie erfolgt ist.

Es gibt Anzeigen, doch die Daten haben die Ex-Minister von Präsident Chávez. Und seit Neuerem gibt es Benzinschmuggel in Schiffen. Wir sprechen hier nicht vom "Bachaqueo"7 auf der Straße, noch von persönlichen "Raspa cupos"8, sondern von großen Korruptionsfällen, die zeigen, dass es keine Kontrolle gibt, und das nagt natürlich immens an der Moral derjenigen, die den Bolivarischen Prozess unterstützten.

Wenn man das Gefühl hat, die Krise ist geteiltes Leid und es gibt eine Führung, die sich in diesem Kampf an erster Stelle aufopfert, verleiht das der Führung in gewisser Weise Ansehen. Wenn man allerdings fühlt, dass die Führung in einer Blase eingeschlossen ist und die Verbindung zu den Forderungen und Erwartungen der normalen Menschen, verloren hat – die Hälfte des Chavismus inbegriffen, die sich unzufrieden und unwohl zeigt – dann denkt man: Hier geht alles vor die Hunde. Und wenn gegen diese Wirtschaftskrise, diese Krise der Repräsentation, nichts unternommen wird, kehren wir dazu zurück, was wir mit dem Pakt von Punto Fijo erlebt haben. Ich meine die Krise des Zweiparteiensystems, mitten in einer tiefen wirtschaftlichen Krise. Und das wäre ganz schön happig.

Indikatoren der Weltwirtschaft verkannt

Aus Ihren Worten kann man entnehmen, dass diese Regierung in der Defensive ist, ganz im Gegensatz zu Chávez, der selbst in den schwierigsten Momenten nie die Initiative aufgab. Was wir hier sehen, sind lediglich Reaktionen auf die ökonomische und soziale Lage des Landes.

Bis zum dritten Quartal 2014 hielt sich der Barrel-Preis des Erdöls relativ hoch (im Durchschnitt 80 US-Dollar). Die Erdölexperten, mit denen die Regierung in Verbindung stand, verfolgten die These vom "Rückprall-Effekt"; alle ließen uns denken, dass das eine vorübergehende Situation sei, und erst jetzt haben sie begonnen zu erkennen, dass es sich um eine strukturelle Situation handelt, mit langer Dauer, die die wirtschaftlichen Wachstumsmöglichkeiten der kommenden zehn Jahre prägen wird.

Wenn man das Modell, das Chávez vorgab, weiterverfolgt, wird sich die Situation zuspitzen, da die Tragfähigkeit des Modells nicht zu erhalten ist, wenn man sich nur auf die Ölpreise verlässt.

Eine gewaltige Fahrlässigkeit. Selbst ein Neuling, der sich die historische Entwicklung des Barrel-Preises anschaut, würde feststellen, dass sie zyklisch verläuft. Weshalb hätte sich das nicht auf die Preise auswirken sollen?

Alí Rodríguez sagte zum Beispiel, dass man zu stark auf das Wachstum der Brics-Staaten9 vertraute, insbesondere von Indien und China, die ein Wachstum von zehn Prozent an den Tag legten. Jetzt wissen wir, dass diese Länder an Wachstumsfähigkeit verloren haben. Es war eine falsche Erwartung. Allmählich gibt man zu, dass man sich bei den Vorhersagen über die Weltwirtschaft getäuscht hatte. Aber es gibt keine Selbstkritik in Bezug auf die gemachten Änderungen, unter anderem die Änderung des Gesetzes der Zentralbank von Venezuela und der Makroökonomische Stabilisierungsfonds. Die Mittel wurden zu internationalen Reserven und diese wurden in den letzten drei Jahren verschwendet. Jetzt sind wir manövrierunfähig. Somit ist die Zeit des Probierens und Irrens vorbei. Und das hat Kosten, das hat Folgen.

Kürzlich las ich eine Chavistin, die sagte, dass das Interessanteste an Chávez' Erbe sein strategisches Denken gewesen sei. Du hast es gerade gesagt: Bei den Prinzipien strategischen Denkens ist die Initiative fundamental. Wie erklärst du dir sonst, dass wir die Initiative verloren haben und dass nur noch reagiert wird? Und die Opposition nutzt das aus, wie ein intelligenter Spieler in diesem politischen Spiel, indem sie abwartet, bis die Fehler, die der Regierung nicht aufgezwungen wurden, sie zermürben, um sie dann am tiefsten Punkt zu packen, wie man hier mundläufig sagt.

Was ist aus dem Motto "Trotz Arbeitslosigkeit und Hunger, bei Chávez bleib ich immer"10 geworden? Ist das vorbei?

Auf jeden Fall hat es immens an Stärke eingebüßt. Ich werde nicht darin einstimmen, was einige Chavisten in Interviews gesagt haben, dass alles vorbei sei. Ich glaube, diese Art von Diskurs hat einen rückwirkenden Effekt auf die Krisensituation. Diese Haltungen helfen nicht, einen Ausweg zu finden, sondern zeigen einfach nur, dass sie das Handtuch geworfen haben. Ich glaube nicht, dass es vorbei ist, aber ja, die moralische Kraft des Bolivarischen Prozesses ist geschwächt. Das nagt am Geist, den Chávez immer als Prozess und politisches Projekt verteidigt hat: die moralische Kraft des Chavismus. In den letzten 24 Monaten hat sich das gigantisch verschlechtert.

Ich sollte außerdem sagen, dass das Wahlverhalten das allerdings nicht eins zu eins übersetzt. Der Chavismus ist eine soziopolitische Realität mit hartem Boden. Und was auch immer bei den Wahlen passiert, muss sich diesem Akteur stellen, um das politische Spielfeld neu aufzustellen.

Sie sprechen so, als wäre der Chavismus in der Opposition?

Nein, ich spreche von einem wahrscheinlichen Szenario. Ich glaube, dass niemand, der die Umfragen der letzten zwölf Monate zusammen nimmt, dir glaubhaft garantieren kann, dass der Chavismus den Sieg in den Parlamentswahlen am 6. Dezember sicher hat. Wer so etwas sagt, ist ein bisschen wie der irakische Propagandaminister, der sagte, sie seien dabei, die USA während der Invasion zu besiegen. Erinnerst du dich daran?

Das Wahlszenario

Mehrere Sprecher des Chavismus sprechen von der "inakzeptablen Annahme, dass die Opposition gewinne".

Dazu kann ich dir etwas sagen: Selbst unter "der inakzeptablen Annahme, dass die Opposition gewinne”, wie sie sagen, wird es sehr schwierig für die Opposition sein, drei Fünftel zu erlangen. Darum wird es in diesen zwei Monaten gehen. Und wenn sie nicht die drei Fünftel erlangen, wird ein politischer Sieg unmöglich sein. Ich sage das in Bezug auf die Erwartungen, die die Beschleunigung eines Übergangsprozesses, eines Postchavismus, mit sich bringt. Wenn, andererseits, der Chavismus 85 Abgeordnete11 erhält, was das Mindeste wäre, wird er den Sieg verkünden: "In den schlimmsten Umständen von Wirtschaftskrieg, gefallenem Ölpreis, diversen Bedrohungen und interner Destabilisierung, konnten wir gewinnen und die Konjunktur überwinden."

Wenn die Opposition 100 Sitze erhält, wird das Thema der Regierungsfähigkeit für den Chavismus ein harter Brocken. Warum? Weil es Schlüsselelemente in der Regierungsführung gibt, die ein anderes politisches Spiel vorgeben (die Möglichkeit, einen Misstrauensantrag gegen die Minister einzubringen, die Unmöglichkeit, einen Haushalt auf Minimalkonsens zu verabschieden oder Sondervollmachten (Ley Habilitante) für den Präsidenten zu verkünden).

In dem Szenario, das Sie zeichnen, gibt es keinen Platz für Übereinkünfte.

Alles hängt davon ab, wie die Wahlergebnisse interpretiert werden. (Oscar) Schemel12, der selbst positive Erwartungen (für den Chavismus) erzeugte, hat in Bezug auf die Umfragen gesagt, dass wer heute gewinnt, der Unzufriedene sein wird. Aber das wird nicht politisch interpretiert, noch wird es in einen Prozess der Kurskorrektur übersetzt, also selbstkritisch anzuerkennen, dass die Situation ernst ist. Das Problem ist meiner Meinung nach, dass es eine Art Blindheit gibt. Ich kann verstehen, dass die Leute die Augen verschließen, aber das kann nicht ewig anhalten, denn irgendwann wird es negative Folgen mit sich bringen. Um es klar auszudrücken: Mein Wunsch ist, dass die Regierung einen Weg der Kurskorrektur findet.

Aber es ist nahezu unmöglich, vor den Wahlen Korrekturen vorzunehmen, weil man so die Botschaft senden würde, man sei in einer Position der Schwäche. Und das wäre für den Chavismus eine inakzeptable Option.

Das ist wie ein Handbuch für politisches Marketing für eine Bevölkerung, der man keine politische Reflexion zutraut. In Ländern, in denen die politische Führung aufruft Opfer zu bringen, während sie gleichzeitig selbst die Situation konfrontiert und die Möglichkeit verkörpert, sich durch den Kampf gegen die widrige Situation Ansehen zu verdienen, ist das nicht schwieriger als das, was du sagst, nämlich alles unter den Teppich zu kehren.

Wir befinden uns in einem sehr ernsten Moment; das ist keine episodische Krise, sondern eine Anhäufung von Spannungen, die bereits explodiert sind, die keine Schadenskontrolle mehr zulassen. Das ist kein Spiel mehr. Tricks taugen nichts mehr. Die Leute auf der Straße wissen, dass man sie mit den Finten an der Nase herumführt, dass man ihnen Halbwahrheiten erzählt.

Es kann sein, dass mein Argument Ihnen sehr simpel, sehr einfach erscheint …

… trivial.

Ja, trivial. Lassen Sie es mich noch einmal anders formulieren. Wenn die Notwendigkeit besteht, die Dringlichkeit besteht, eine Kurskorrektur vorzunehmen, selbst mitten in den Wahlvorbereitungen, warum tut das dann niemand?

Weil ihnen die Urteilsfähigkeit fehlt, zu vertrauen und einzuschätzen, dass die Bevölkerung versteht, dass Anpassungsmaßnahmen notwendig sind. Sie haben sich soweit distanziert, dass die Repräsentationskrise beidseitig ist, sowohl vonseiten der Führerschaft als auch vonseiten der Basis. Sie gehen davon aus, dass die soziale Basis ohne den Einsatz für einen konkreten Nutzen keine moralische Kraft hat, den Prozess zu verteidigen und dadurch verstärkt sich nur das Bild des klientelistischen, populistischen Musters. Es ist kein Politisierungsprozess, wie die ganze Zeit über die Bevölkerung gesagt wird, es ist kein Prozess, der an das Erbe Chávez' anknüpft. Man erkennt an, dass diese Arbeit versagt hat.

Wie lange noch will man auf eine möglichst glimpfliche Niederlage spielen und versuchen, Zeit rauszuschlagen? Bis das Band zerreißt? Ich muss ganz ehrlich sagen, dass viel Zeit bereits verloren ist. Wir haben keine Zeit, über die verschüttete Milch zu weinen. Die Frage ist, was machen wir jetzt? Was sie machen müssen, ist die Kosten der Kurskorrektur auf sich zu nehmen. Das soll heißen, eine Niederlage mit dem Versuch der Kurskorrektur wiegt weniger schwer als eine Niederlage ohne jedwede Versuche, etwas zu ändern. Und das ist der Faktor, den ich in der politischen Gleichung der Regierung vermisse.

Zeit für Kurskorrektur

Es ist Zeit, den Stier an den Hörnern zu packen.

Es ist Zeit, der Krise ins Auge zu schauen. Wenn Maßnahmen versprochen wurden, warum werden sie nicht ergriffen? Ich habe Alí Rodríguez13 sagen hören, dass wenn Maßnahmen ergriffen wird, alles noch viel schlimmer wird.

Man tut nichts, weil in diesem Moment die Opposition aufhören würde, nur abzuwarten, und in die politische Offensive gehen würde.

Das klingt gut. Die Regierung sähe sich gezwungen, die politische Offensive zurück zu erobern. Das Problem ist, dass in diesem Moment die Opposition die innere Zermürbung abwartet, und die Regierung, mittendrin, denkt, sie befinde sich in einem vorteilhaften politischen Augenblick. Ah, du gehst im Fluss baden und denkst, die Krokodile schlafen. Na dann, beweg dich nur weiter ins Wasser hinein und vertraue darauf, dass sie schlafen. Aber sie schlafen nicht. Sie warten darauf, dass du nicht mehr manövrieren kannst, um dich dann zu verspeisen, wie in dem Lied: "Was du willst, ist, dass der Tiger dich frisst."

Ich sag das ganz ehrlich. Wenn einer den Bolivarischen Prozess direkt oder indirekt unterstützt hat, ist das Mindeste, was er tun kann, das auch zu sagen. Auch wenn danach die Abrechnung kommt. Komme das, was (die Soziologin) Maryclen Stelling sagte: Was soll denn das für ein Chavist sein! Wenigstens legt man Zeugnis darüber ab, was in diesem spezifischen Augenblick gesagt werden musste. Und was ich sagen will, ist dass diese Regierung eine Kurskorrektur braucht.

  • 1. Der "Pakt von Punto Fijo" war ein Parteienpakt, der als Grundlage der parlamentarischen Demokratie in Venezuela zwischen 1958 und 1998 gilt. Der Chavismus kritisiert dieses Abkommen als Elitenpakt zur Machtsicherung. Siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Punto-Fijo-Abkommen
  • 2. Alberto Müller Rojas war Vizepräsident der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV). 2010 äußerte er sich kritisch über die Entwicklungen im Regierungslager (siehe https://amerika21.de/nachrichten/inhalt/2010/feb/psuv_203948_buro und https://amerika21.de/hintergrund/2010/rojas_203948_const). Im selben Jahr verstarb er im Alter von 75 Jahren.
  • 3. Unter dem Namen "Operation Befreiung und Schutz des Volkes (Operación Liberación y Protección del Pueblo) führen Polizei- und Militäreinheiten seit Sommer dieses Jahres Operationen zur Eindämmung der Gewalt- und Drogenkriminalität durch.
  • 4. Gewaltsamer Protest von Teilen der Opposition in Form von Straßenblockaden.
  • 5. In den Präsidialräten der Volksmacht (Consejos Presidenciales del Poder Popular) treffen Vertreter von Basisstrukturen wie den Comunas mit Regierungsvertretern zusammen.
  • 6. Ehemaliger Erdöl- und Wirtschaftsminister, jetzt Vertreter Venezuelas bei der UNO.
  • 7. Weiterverkauf von Waren zu höheren Preisen.
  • 8. Weiterverkauf von US-Dollars auf dem Schwarzmarkt, nachdem sie zu subventionierten Preisen vom Staat erhalten wurden.
  • 9. Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika
  • 10. Mit diesem Spruch (span. "Con hambre y desempleo, con Chávez me resteo") drückten Chávez-Anhänger ihre Unterstützung des Präsidenten trotz vorhandener Probleme aus.
  • 11. Im Dezember werden 167 Abgeordnete gewählt. 85 würden eine knappe Mehrheit bedeuten.
  • 12. Oscar Schemel ist Chef des Umfrageinstitutes Hinterlaces.
  • 13. Alí Rodríguez Araque war viele Jahre Minister unter Chávez, dann Präsident der Regionalorganisation Unasur und ist aktuell Botschafter Venezuelas in Kuba.