Privatisierte Gewalt

In Mexiko stellen Bürgerwehren das Gewaltmonopol in Frage. Ein Überblick über die Entwicklung der öffentlichen Sicherheit um Umfeld des Massakers von Iguala

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Selbstorganisierte Gemeindepolizei im mexikanischen Bundesstaat Guerrero
Selbstorganisierte Gemeindepolizei im mexikanischen Bundesstaat Guerrero

Ende des Jahres 2012 kehrte die langjährige Staatspartei Partei der institutionellen Revolution (PRI) in Mexiko an die Regierung zurück. Dies machte den Weg frei für die Privatisierung der Ölgesellschaft PEMEX sowie des staatlichen Stromversorgers CFE. Zuletzt diente die Begeisterung für die Fußballweltmeisterschaft als willkommene Gelegenheit, die entsprechenden Ausführungsgesetze ohne allzu große Proteste durchs Parlament zu bringen.

Die internationalen Finanzinstitutionen begrüßen den eingeschlagenen Privatisierungskurs. Die Ratingagentur Moody’s stufte Mexikos Kreditwürdigkeit herauf. Als zweites Land Lateinamerikas wurde Mexiko mit einem A-Rating bewertet, dem begehrten Investmentgrade. Als direkte Folge davon verbilligt sich die Kreditaufnahme.

Doch während Präsident Peña Nieto in international meinungsbildenden Massenmedien wie dem Time Magazine viel Lob einheimst, brodelt im Land die Unzufriedenheit. Auf der großen politischen Bühne und im mexikanischen Fernsehen findet dies allerdings keinen Widerhall. Die PRI-Regierung, die im Parlament keine eigene Mehrheit hat, konnte für ihre großen Privatisierungsvorhaben die zwei wichtigsten Oppositionsparteien PAN (neoliberal-autoritär) und PRD (zentristisch, zerstritten) in einen "Pakt für Mexiko" einbinden und auf diese Weise politisch weitgehend neutralisieren. Dennoch gibt es an der Basis vielfältige Proteste und Widerstandsaktionen. Allerdings sind diese zersplittert und haben in der Regel lediglich lokalen Charakter.

Die Einbindung der PRD im Parlament und die PRI-Kontrolle der zuständigen Gewerkschaften verhinderten, dass die Privatisierungen im Energiesektor durch eine breite gesellschaftliche Mobilisierung blockiert werden konnten. Unabhängige linke Gruppierungen und soziale Bewegungen alleine sind dafür zu schwach. Es bleibt bei symbolischen Aktionen, kleineren Demonstrationen und ohnmächtigen Aufrufen. So entlädt sich die weit verbreitete, politisch jedoch diffuse Unzufriedenheit derzeit nicht an sozialen oder wirtschaftspolitischen Fragen, sondern beim Thema öffentliche Sicherheit.

Dies ist kein Zufall. Denn trotz eines gewissen Rückgangs der Mordzahlen1verbleibt das Gewaltniveau mit 62 Morden pro Tag und 16 Morden pro 100.000 Einwohner auf einem weit höheren Niveau als vor Beginn des "Krieges gegen die Drogen" im Jahr 2007. Zu den Morden kommen laut Regierung offiziell noch 13.195 "Verschwundene", wobei auch hier die inoffiziellen Zahlen deutlich höher liegen: Menschenrechtsorganisationen sprechen von 28.000 Fällen.

Der Staat ist offensichtlich unfähig, seine Bürger vor Erpressung, Entführung, Verletzung oder gar Ermordung durch die untereinander um Macht und Einfluss konkurrierenden Drogenkartelle zu schützen. Angehörige von Polizei, Armee und Justiz sowie politische Repräsentanten sind häufig selbst Teil krimineller Netzwerke. Diese haben ihre Geschäfte längst diversifiziert: Erpressung, Menschenhandel und illegaler Abbau von Rohstoffen bringen bereits mehr ein als das Drogengeschäft, das jährlich zwischen 20 und 25 Milliarden US-Dollar abwerfen soll.

Selbstverteidigung durch Bürgerwehren

Gewalt und Not auf der einen sowie Frust wegen des Staatsversagens auf der anderen Seite führten zu einer Welle der Selbstbewaffnung in einigen von der Narco-Gewalt besonders betroffenen Landesteilen wie Michoacán, dem Brennpunkt der ersten Militäroperation im "Krieg gegen die Drogen", sowie in Guerrero, dem aktuellen Spitzenreiter auf der Gewaltliste. In diesen Bundesstaaten begannen wenige Monate nach dem Amtsantritt der PRI-Regierung vor allem Einwohner ländlicher Gemeinden sich zu bewaffnen.

Nach öffentlichen Dorfversammlungen fanden sich jeweils Freiwillige aus unterschiedlichsten sozialen Schichten, die den Ort und dessen Einwohner sowie deren Eigentum durch nächtliche Patrouillen und selbst organisierte Straßensperren an den Ortseingängen schützen wollten. Mit Jagdflinten, Revolvern und Macheten sollten sie die als Erpresser und Vergewaltiger aufgefallenen Drogenpistoleros fernhalten.

Diese Bürgerwehren werden weder gewählt noch sind sie abwählbar, sie agieren zum eigenen Schutz häufig vermummt und gehorchen lediglich ihren selbst ernannten Anführern. Juristisch betrachtet ist ihr Handeln illegal. Ihre Legitimität beziehen sie aus dem aktiven und passiven Zuspruch der Menschen in ihrem Einflussbereich sowie dem selbst definierten Auftrag, die Sicherheit in ihrer Gegend zu gewährleisten.

Schritt für Schritt weiteten die lokalen Bürgerwehren ihren Einflussbereich aus, erwarben moderne Waffen wie Sturmgewehre, Maschinenpistolen, Maschinengewehre, Granatwerfer und ähnliches. Sie verbesserten ihre Kommunikationssysteme, koordinierten sich regional und gingen in Michoacán offensiv gegen das dort vorherrschende Tempelritterkartell vor.

Im Frühjahr dieses Jahres gelang es dem Zusammenschluss der Bürgerwehren mit tausenden Bewaffneten große Teile des Bundesstaates unter Kontrolle zu bringen. "Was ihr" – gemeint ist die Armee – "in sechs Jahren Drogenkrieg nicht geschafft habt, regeln wir in einem Monat", fasste ein Aktivist zusammen.

Zu diesem Zeitpunkt hatten lokale Kleinunternehmer und Selbständige die Führung bei den Bürgerwehren Michoacáns an sich gezogen. Transnationale Minenunternehmen, die zuvor vom Tempelritterkartell erpresst worden waren, spendeten Geld. Polizeieinheiten waren in Auflösung begriffen und lokale Politiker flohen nach Vorwürfen der Mafiaunterstützung.

Im benachbarten Bundesstaat Guerrero lief es ähnlich: Die zusammengeschlossenen Selbstverteidigungsgruppen nahmen Ort um Ort ein und selbsternannte Führer der bewaffneten Zivilisten mutierten zu starken Männern, die gewählte Bürgermeister und vom Staat bestellte Polizisten und Justizangestellte aus den Dörfern und Städten jagten.

Die Selbstbewaffnungswelle und die auf einen Anti-Tempelritter-Kurs beschränkte Programmatik der Bürgerwehren zogen auch zwielichtige Gestalten an – unter ihnen Mitglieder rivalisierender Kartelle, die aus der gewonnenen Machtposition Vorteile schlagen konnten. Es scheint daher deutlich wahrscheinlicher zu sein, dass die Bürgerwehren zu neuen unkontrollierten Gewaltunternehmen beziehungsweise zu regierungsnahen Paramilitärs nach dem Beispiel Kolumbiens degenerieren, als dass sie sich auf Dauer als bewaffneter Arm einer lokal verankerten Gegenmacht etablieren.

Das Alternativmodell: Gewählte Dorfpolizei

In indianisch geprägten Berggegenden Guerreros gibt es hingegen eine weniger bekannte, gleichwohl ältere Variante gemeindlicher Selbstverteidigung. Diese wurde schon 1996 von lokalen Gemeindeverantwortlichen und Graswurzelaktivisten ins Leben gerufen, ist mittlerweile von der Landesregierung anerkannt und konnte auf der Grundlage indianischer Sitten und Gebräuche eine Form alternativer Justiz etablieren.

Die im Regionalrat CRAC-PC zusammengeschlossenen 77 Ortschaften aus einem Dutzend Gemeinden wählen bei öffentlichen Versammlungen Personen aus, denen ohne Bezahlung auf örtlicher Ebene Polizeiaufgaben übertragen werden. Dies wird als Ehrenamt für das Wohl der Gemeinde verstanden. Die Gemeindeversammlung hat jederzeit das Recht, die Gemeindepolizisten abzuwählen. Die CRAC-PC spricht in öffentlichen Versammlungen auch Recht und verhängt gemäß einem vorgegebenen Reglement nötigenfalls Strafen. Dutzende Gemeinden verwalten sich mit dieser Struktur selbst und konnten so die Kriminalitätsrate auf einen Bruchteil des vorherigen Niveaus drücken.

Der Erfolg motivierte weitere Gemeinden dazu, mitzumachen, wodurch der Regionalrat langsam, aber stetig wächst. Anders als die Bürgerwehren weisen sich die Polizisten des CRAC-PC aus, verfügen nicht über Kriegswaffen und versuchen auch nicht, die Drogenkartelle zu vertreiben oder Transitrouten zu unterbrechen. Der Regionalrat CRAC-PC verfolgt diesbezüglich einen Ansatz passiver Selbstverteidigung nach dem Motto: "Euer Geschäft interessiert uns nicht, aber behelligt uns und unsere Leute nicht damit."

Kooptation der Mehrheit und selektive Repression

Der Regionalrat CRAC-PC wird von der Regierung und der Armee immer wieder mit Guerillagruppen in Verbindung gebracht, die in Guerrero besonders aktiv sind. Die Landesregierung steht dem Regionalrat seit jeher ablehnend gegenüber, weil er sich als unabhängig und regierungsfern definiert hat. In der Linken und bei sozialen Bewegungen brachte ihm dies hingegen hohe Anerkennung ein.

Im Zuge des Aufschwungs der Bürgerwehren hat der Druck auf den Regionalrat zugenommen. Mehrmals kam es zu Armeeeinsätzen und Festnahmen von CRAC-PC-Angehörigen. Derzeit sind ein Dutzend seiner Mitglieder inhaftiert, zum Teil in Hochsicherheitsgefängnissen zusammen mit gefährlichen Drogenbossen.

Parallel gelang es der zentristischen PRD-Landesregierung Ende vergangenen Jahres, einen Keil in die CRAC-PC zu treiben und mittels Geld und privilegiertem Zugang zur politischen Macht eine Fraktion um Eliseo Villar zu korrumpieren und zu kooptieren. Seit März dieses Jahres gibt es daher innerhalb der CRAC-PC einen Machtkampf zwischen der vom Staat gesponserten Fraktion und denjenigen, die der ursprünglichen Linie treu bleiben wollen. Der Hintergrund: CRAC-PC ist die einzige Organisation, die in der Lage sein könnte, gegen große Infrastrukturvorhaben wie Minenprojekte und Staudämme einen übergreifenden, handlungsfähigen Block zu bilden.

Die Bürgerwehren Michoacáns haben sich ebenfalls gespalten, nachdem die Zentralregierung ihnen ein Ultimatum gestellt hatte, bis Mitte Mai ihre Waffen registrieren zu lassen und sich als ländliche Hilfspolizeitruppe zu legalisieren. Die Mehrheit ließ sich unter Druck legalisieren und uniformieren; der Anführer der renitenten Minderheit, José Manuel Mireles, wurde ebenso verhaftet wie Dutzende seiner Anhänger.

Mit dem geradezu klassischen PRI-Methodenmix "Kooptation der Mehrheit plus selektive Repression gegen die Unbeugsamen" gelang es der Regierung Peña Nieto in den vergangenen Wochen, der Welle der Selbstbewaffnung die Spitze zu nehmen. Der Staat tut so, als habe er das Gewaltmonopol wieder erlangt. Die Realität ist davon weit entfernt. Die Feuerkraft der Narco-Killer ist nach wie vor erheblich und die Bereitschaft der Bürger zur bewaffneten Selbstverteidigung ist so groß wie noch nie seit dem Ende des Mexikanischen Bürgerkriegs vor 100 Jahren.

Denn der Rechtsstaat ist in Mexiko heute nur eine Fiktion. Die Durchdringung korrupter staatlicher Apparate durch kriminelle Banden, die Unfähigkeit Recht zu sprechen und durchzusetzen, die Verletzung fundamentaler rechtsstaatlicher Normen durch willkürliche Verhaftungen, Folter und Verschwindenlassen sind alltägliche Tatsachen. Das Staatshandeln zielt auf die Zerstörung oder Spaltung handlungsfähiger Organisierung von unten sowie auf die Verhaftung einzelner Kartellbosse ab, ohne jedoch strukturelle Probleme wie die öffentliche Unsicherheit zu lösen. Es sind Organisationen wie der Regionalrat CRAC-PC in Guerrero, ähnlich verfasste Gemeinden in anderen Bundesstaaten oder auch der Zapatismus in Chiapas, die beispielhaft Wege aus der Sackgasse aufzeigen.

  • 1. Im Jahr 2011 handelte es sich offiziell um 27.213 Tote, davon ca. 15.000 als Folge des "Krieges gegen die Drogen". im Jahr darauf, 2012 waren es 25.713 Morde und 2013 nur noch 22.732 Morde.