Über 2.500 Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen in Chile eingeleitet

Mehrheit der Anzeigen richten sich gegen den exzessiven Einsatz von Gewalt. Institut für Menschenrechte meldet 241 Augenverletzungen

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"In Chile wird gefoltert - wie in der Diktatur"
"In Chile wird gefoltert - wie in der Diktatur"

Santiago. Die chilenische Staatsanwaltschaft hat bekannt gegeben, dass in insgesamt 2.670 Fällen von Menschenrechtsverletzungen gegen Angehörige von Polizei und Militär ermittel wird. Dies umfasst den Zeitraum vom Beginn der Proteste am vergangenen 18. Oktober bis zum 10. November. Da es sich bei den Zahlen nur um zur Anzeige gebrachte Taten handelt, dürfte die Dunkelziffer um einiges höher liegen. Aus Angst vor weiteren Repressionen oder Vergeltungen melden die Opfer ihre Verletzungen häufig nicht bei den Behörden.

Die überwiegende Mehrheit der Anzeigen richten sich gegen den exzessiven Einsatz von Gewalt (1.679 Fälle). Die zweitgrößte Gruppe bilden Schussverletzungen mit 720 Vorkommnissen. Aber auch wegen des Verdachts von Folterungen in 44 Fällen sowie 26-facher Vergewaltigung bzw. sexueller Misshandlung werden Ermittlungen durchgeführt.

Die Staatsanwaltschaft reagiert damit offenbar auch auf zunehmende internationale Kritik und die Berichte von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International (AI) und Human Rights Watch, die die massive Gewalt gegen Demonstranten verurteilten. AI stelle fest, dass es sich bei den Menschenrechtsverletzungen nicht nur um isolierte Einzelfälle handle, es zeige sich vielmehr ein Muster, das dem modus operandi der Carabineros (Militärpolizei) im ganzen Land entspreche. Der Einsatz von Militärs im Inneren habe katastrophale Ergebnisse nach sich gezogen. Trotz alledem hält Präsident Sebastián Piñera an seinem Gesetzesvorhaben fest, mit dem die Streitkräfte auch ohne Verhängung des Ausnahmezustands polizeiliche Aufgaben übernehmen können. Demnach sollen sie vor allem für den Schutz von Objekten der öffentlichen Versorgung, wie z.B. Elektrizitätswerke oder der Metro zuständig sein.

Das chilenische Institut für Menschenrechte (INDH) gab am Samstag neue Zahlen zu Anzeigen und Verletzen bekannt. Demnach sind unter anderem sechs Anzeigen wegen Mordes sowie weitere neun wegen versuchten Mordes erstattet worden. Das INDH gibt die Zahl der Folteranschuldigungen mit 458 um mehr als das zehnfache höher an als die Staatsanwaltschaft. Insgesamt sei in 580 Fällen Strafantrag gestellt worden.

241 Personen erlitten laut dem Menschenrechtsinstitut bei den Protesten Augenverletzungen. Bei zwei von ihnen waren sie so schwer, dass sie ihr Augenlicht komplett verloren, weitere fünf Menschen verloren ein Auge. Die Verletzungen sind oft Folge von Gummigeschossen, in denen nach AI-Angaben häufig Blei beigemischt ist, sowie von Tränengasgranaten. Protestierende und Nichtregierungsorganisationen werfen der Polizei vor, gezielt auf Gesichter zu schießen, um so maximalen Schaden anzurichten.

Im Kongress nahm derweil die Verfassungsanklage gegen den ehemaligen Innenminister Andrés Chadwick die erste Hürde. Chadwick, der neben Präsident Piñera vielen als Hauptverantwortlicher der Polizeigewalt gilt, musste im Rahmen von Piñeras Kabinettsumbildung seinen Posten räumen. Nun stimmte die Abgeordnetenkammer am Donnerstag mit 79 zu 71 Stimmen bei einer Enthaltung für eine Verfassungsanklage. Im nächsten Schritt muss nun der Senat entscheiden. Im Falle einer Verurteilung dürfte Chadwick fünf Jahre lang keine öffentlichen Ämter bekleiden.

Piñera selbst steht zunehmend unter Druck. Am Mittwoch veröffentlichte das Meinungsforschungsunternehmen Criteria seine monatlichen Umfragewerte. Demnach sind nur noch zwölf Prozent der Chilenen mit seiner Arbeit zufrieden, ein Minus von vier Prozent im Vergleich zum Vormonat. Die Unzufriedenheit stieg gleichzeitig um sechs Punkte auf 84 Prozent, lediglich vier Prozent sind der Meinung, Piñera sei in der Lage, das Land zu befrieden.