Exil-Opposition aus Brasilien organisiert Widerstand in Berlin

Linke will Widerstand organisieren. Anders als während Militärdiktatur kommen direkte Bedrohungen aus Bevölkerung. Politische Rechte weitet Einfluss im Staat aus

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In Berlin kommen seit gestern linke Oppositionelle zusammen, um Strategien gegen die Politik Bolsonaros zu diskutieren
In Berlin kommen seit gestern linke Oppositionelle zusammen, um Strategien gegen die Politik Bolsonaros zu diskutieren

Berlin. Mehrere Hundert Oppositionelle aus Brasilien sind in Berlin zusammengekommen, um Strategien zur Bekämpfung der Politik des ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro zu entwickeln. Unter den Teilnehmern sind auch prominente Politiker und Wissenschaftlerinnen, die aufgrund von Morddrohungen Brasilien verlassen mussten. Seit Freitag und bis zum morgigen Sonntag diskutieren die Mitglieder der internationalen Opposition in der deutschen Hauptstadt Maßnahmen, um den Angriffen der politischen Rechten auf Minderheiten, Journalisten sowie auf die Demokratie als Ganzes und die Aushöhlung der brasilianischen Institutionen vom Ausland aus zu begegnen. Im Rahmen eines Pressegesprächs äußerten sich zu Beginn der Veranstaltung einige Teilnehmer des Treffens.

Der Widerstand in der brasilianischen Diaspora sei groß und divers, so die Frauenrechtlerin Maria Dantas. Sie sitzt seit Kurzem für die Republikanische Linke als Abgeordnete im spanischen Parlament. Es gehe nicht darum, die Linke zu vereinheitlichen, sondern die vielen progressiven Strömungen zu vereinen. Die Proteste gegen den massiven Bildungsabbau in Brasilien machten es vor, so Dantas. Auch die wachsende, sich international organisierende Frauenbewegung könne als Vorbild dienen, um mit breiter Basis gegen den Abbau kollektiver Rechte zu kämpfen.

Die brasilianische Linke sei "komplex" und angesichts der vielseitigen Angriffe der politischen Rechten auch perplex. Sie könne kaum angemessen reagieren, argumentierte der frühere Bundesabgeordnete Jean Wyllys von der sozialistischen PSOL auf Nachfrage von amerika21, welche Aussicht die brasilianische Linke derzeit habe, politisches Terrain zurückzugewinnen. Laut dem offen homosexuell lebenden Wyllys verfolgt Bolsonaro eine ausgeklügelte Strategie, um durch offensive Themensetzung die Linke vor sich herzutreiben – ähnlich wie US-Präsident Donald Trump. "Bolsonaro setzt jeden Tag irgendeine Hassnachricht gegen irgendeine Gruppe ab. Er zielt darauf, dass wir reagieren, und bezweckt damit, uns zu beschäftigen. Auf die gezielten Diffamierungen von Minderheiten müssen wir auch antworten und aufklären. Gleichzeitig setzt er die Themen und raubt uns damit Zeit und Energie für eine konkrete Politik gegen ihn."

Die Linke müsse Strategien entwickeln, um mit den geringen Kräften konkrete Angriffe gegen Teile der Bevölkerung, wie die schwarze Bevölkerung in den Großstädten oder die Indigenen im Amazonas, abzuwehren und gleichzeitig auf die verbalen Diskriminierungen zu reagieren. "Die Linke muss verstehen, dass sich Identitätspolitik nicht von Kampf um Rente und Arbeitsrechte trennen lässt", so der linke Politiker. Wyllys floh kurz nach der Machtübernahme Bolsonaros im Januar 2019 ins europäische Exil, nachdem die Bedrohungslage gegen ihn und seine Familie zu groß wurde.

Zudem sei auf den Rechtsstaat immer weniger Verlass. "Mit ihrem vermeintlichen Kampf gegen die Korruption hält die Sonderermittlungsbehörde Lava Jato die Institutionen in Schach, die den Rechtsstaat garantieren sollten", urteilte Wyllys. Zuletzt legten Gerichte und Polizei eine besondere Kumpanei offen. "Dass der Ex-Präsident Lula da Silva noch immer in Haft ist, zeigt wie kaputt die zuständigen Behörden sind. Nach alldem, was zuletzt über die Absprachen zwischen dem damaligen Richter Sérgio Moro und Lulas Chefankläger Deltan Dallagnol bekannt wurde, müsste man erwarten, dass Lula umgehend freikäme. Aber nichts! Das nennt sich Verschwörung".

Gegen diese Macht aus Justiz und Kapital sei die Linke machtlos, fasste die ebenfalls ins Exil geflüchtete Philosophin und Wissenschaftlerin Márcia Tiburi die politischen Verhältnisse zusammen. Bolsonaro verteidige die Interessen des Kapitals und genieße die Rückendeckung internationaler Konzerne. "Die Unternehmen haben auf Bolsonaro gesetzt und in seinen Wahlkampf 'investiert'. Die brasilianische Linke hat nicht annähernd die Mittel, um der gigantischen Maschine zur Verbreitung von Fake News, Diffamierungen und Morddrohungen durch die lokale Mafia und der öffentlichen Demontage von Personen etwas entgegenzusetzen", so Tiburi.

Dabei gingen die konkreten Bedrohungen heute nicht vom Staat oder der Regierung aus, so der Leiter der Nachrichtenplattform Opera Mundi, Breno Altman, gegenüber amerika21. Die Presse könne noch frei von staatlicher Repression arbeiten. "Die Attacken kommen von der sozialen Basis Bolsonaros. Seine Anhänger greifen Journalisten über die sozialen Medien an, diffamieren sie, verbreiten Falschmeldungen, zerstören die Arbeit." Manche Journalisten sähen sich mit realen Drohungen konfrontiert, so Altman.

Seit Kurzem werde in der Unterwanderung von Einrichtungen der Gesetzgebung eine neue Strategie der politischen Rechten sichtbar, warnt Renata Souza, Abgeordnete der sozialistischen Partei (PSOL) im Bundesstaat Rio de Janeiro. Es bestehe die Gefahr, dass die politische Rechte ihre institutionelle Macht in der Tiefe ausbaut und auf Jahre festigt. "In Rio ist eine strategisch angesetzte Expansion rechter Politiker in weitere politische Ämter zu beobachten. Acht von zwölf Abgeordneten aus Bolsonaros Partei PSL haben jüngst ihre Kandidatur für die Kommunalwahlen 2020 bekannt gegeben", so Souza. Sie befürchtet, dass PSL-Politiker infolge der andauernden Erfolgswelle beste Aussichten haben, gewählt zu werden.

Die Analyse der politischen Lage in Brasilien scheint also zu stehen. Nun sollen Gegenstrategien der Linken auf dem II. Internationalen Treffen der brasilianischen Opposition in Europa entwickelt werden, das von der Internationalen Front von Brasilianern für die Demokratie und gegen den Staatsstreich (Frente Internacional de Brasileirxs pela Democracia e Contra o Golpe, Fibra) organisiert wird. Derzeit zählen mehr als 65 Organisationen und Kollektive zu den Mitgliedern.