New York / Port-au-Prince. Eine Untersuchung der investigativen Nachrichtenplattform ProPublica hat ergeben, dass das US-amerikanische Rote Kreuz eine halbe Milliarde an Spendengeldern für Haiti verschwendet hat. Statt den versprochenen Häusern für 130.000 Erdbebenopfer wurden nur sechs gebaut. Der Rest der Gelder wurde zweckentfremdet in Form von weit überhöhten Gehältern für US-Entwicklungshelfer und Hochglanz-Werbematerialien, die Erfolge präsentierten, die es gar nicht gab.
Als am 12. Januar 2010 Haiti von einem Erdbeben der Stärke 7,0 auf der Richterskala erschüttert wurde, war es das US-amerikanische Rote Kreuz, das sich zum Vorkämpfer für den Wiederaufbau des ärmsten Landes der Region aufschwang und eine großangelegte Spendenkampagne ins Leben rief. Laut einem ehemaligen Mitarbeiter sprach man innerhalb der Organisation von "einer spektakulären Möglichkeit zum Generieren von Spenden."
Die Spenden flossen reichlich. Im Gegenzug versprach die Geschäftsführerin der Organisation, Gail McGovern, "brandneue Wohnanlagen, die die Spender mit Stolz erfüllen und den Menschen in Haiti helfen werden."
Möglich gemacht werden sollte dies durch das Hauptprogramm "Lamika" (ein kreolisches Akronym für "Ein besseres Leben in meiner Nachbarschaft"), das vorsah, im Armenviertel Campeche der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince hunderte Wohnungen für insgesamt 130.000 Menschen zu errichten, die im Zuge des Erdbebens ihre Unterkünfte verloren hatten.
Doch auch im Jahr 2015 sieht Campeche noch so aus wie kurz nach dem Erdbeben 2010, und von den versprochenen Wohnanlagen ist weit und breit nichts zu sehen. Die Nachrichtenplattform ProPublica hat dazu von "frustrierten Insidern" Einsicht in vertrauliche Memos, E-Mails und Berichte erhalten. Aus diesen ergibt sich ein Bild, das geradezu exemplarisch die teilweise Absurdität und Ineffektivität westlicher "Not- und Entwicklungshilfe" skizziert.
In einem Fall wurde ein US-Projektmanager für 140.000 Dollar angestellt, der weder französisch noch kreolisch konnte, dafür aber die Haitianer extrem arrogant behandelt und das lokale Personal, das Französisch und Kreol sprechen und somit direkt mit den Betroffen kommunizieren konnte, von zentralen Entscheidungen bezüglich der Bauprojekte ausgeschlossen haben soll.
Weitere große Geldsummen gingen in "expat housing", also "gewisse Standards erfüllende Unterkünfte" für US-Mitarbeiter des Roten Kreuzes. So berichtet ein Haitianer, der verantwortlich war für die Koordinierung dieser Unterkünfte: "Viel Geld wurde für die Personen ausgegeben, die keine Haitianer waren, die nichts mit Haiti zu tun hatten. Die Gelder gingen zum großen Teil direkt wieder in die USA."
Als das Rote Kreuz im Rahmen der Untersuchung angefragt wurde, ob es Vertreter durch ihre bisherigen Projekte in Haiti führen könnte, damit diese sich ein Bild der Ergebnisse seiner Tätigkeiten machen, verneinte die Hilfsorganisation dieses Anliegen rundheraus.
Statt die Gelder direkt in den Hausbau zu investieren, wurden zudem Teile in neue Werbekampagnen gesteckt sowie Millionenbeträge an andere NGOs für weitere "Entwicklungsprojekte" ausgezahlt. Die NGOs, im Bewusstsein der geringen Kontrollkapazitäten des Roten Kreuzes, stellten völlig überzogene Management- und Personalkosten in Rechnung. Weitere Summen soll das Rote Kreuz entgegen der Zweckbindung in die Schuldentilgung investiert haben. Denn trotz der hohen Spendeneinahmen soll die Organisation mit über 100 Millionen Dollar verschuldet sein.
Doch statt einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit der fatalen Bilanz, verkündete das US-amerikanische Rote Kreuz in einem Bericht im Mai 2015: "Millionen Haitianer sind sicherer, gesünder und besser gerüstet für zukünftige Naturkatastrophen. All dies dank der großzügigen Spenden an das amerikanische Rote Kreuz". Im selben Bericht wird auch die Behauptung aufgestellt, dass die Organisation insgesamt 4,5 Millionen Haitianern geholfen haben soll.
Angefragt von den Verfassern der Untersuchung, wie er diese Zahl des Roten Kreuzes einschätzt, antwortete der frühere Premierminister Haitis (2009 - 2011), Jean-Max Bellerive: "Nein, nein, das ist unmöglich. Unsere Gesamtbevölkerung beträgt ja nur zehn Millionen."
Dieser Artikel ist zuerst vollständig auf rtdeutsch.com erschienen. Er wird im Rahmen einer Content-Partnerschaft auf amerika21 publiziert