Widersprüchliche Statistiken zu Argentinien

Offizielle Angaben zu Armut, Wirtschaft und Inflation weichen stark von unabhängigen Erhebungen ab. Neue Studie zur sozioökonomischen Situation

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Bei der Vorstellung der Studie der Katholischen Universität Argentiniens (UCA)
Bei der Vorstellung der Studie der Katholischen Universität Argentiniens (UCA)

Buenos Aires. Nach einer jüngst veröffentlichten Studie der Katholischen Universität Argentiniens (UCA) gelten mehr als zehn Millionen Argentinier als arm. Anhand von Kriterien

wie dem Zugang zu Nahrungsmitteln, Bildung, Wohnen und Beschäftigung untersucht sie unabhängig von staatlichen Behörden die Entwicklung von Ungleichheiten in der Gesellschaft im Zeitraum 2004 bis 2012.

Auffällig ist, wie stark die Ergebnisse zur sozioökonomischen Realität von offiziellen Statistiken abweichen. Während etwa der Anteil der in Armut lebenden urbanen Bevölkerung in der UCA-Publikation im Jahr 2012 mit etwa 25 Prozent ausgewiesen wird, liegt dieser nach Angabe des Nationalen Instituts für Statistik und Zensus (INDEC) bei lediglich 5,4 Prozent. Zehn Prozent der Hauptstädter leben laut UCA in prekären Wohnverhältnissen ohne Anschluss an das Abwassernetz und die Gaszufuhr. In absoluten Zahlen sind dies rund 140.000 Menschen.

Fast die Hälfte der Angestellten landesweit ist prekär beschäftigt, ermittelte die Studie, und mehr als 50 Prozent der kommenden Generationen werden voraussichtlich nicht mehr sozialversichert sein. Rund 23 Prozent der Haushalte sind dauerhaft auf Sozialleistungen angewiesen. Als Hauptursachen für die hohe Armutsrate macht die UCA-Studie die niedrige wirtschaftliche Produktivität und das mangelhafte Bildungssystem aus.

Auch der ermittelte Grundbedarf eines durchschnittlichen Haushalts weicht deutlich von den offiziellen Daten ab. Dieses Existenzminimum einer vierköpfigen Familie liegt nach den von staatlichen Stellen zugrunde gelegten Kriterien bei 200 Euro im Monat. Davon, behauptet INDEC, würden knapp 90 Euro zum Kauf von Lebensmitteln benötigt. Dies widerlegen auch die Zahlen der gemeinnützigen privaten Stiftung für wirtschaftswissenschaftliche Forschung in Lateinamerika (FIEL). In den dort ermittelten durchschnittlichen Grundbedarf einer argentinischen Familie von 440 Euro gehen Lebensmittelkosten in Höhe von 240 Euro mit ein. Juan Luis Bour, Chefökonom bei FIEL, wirft INDEC vor, selektiv stabile Lebensmittelpreise für Waren zugrunde zu legen, für welche die Regierung einen temporären Preisstopp verhängt hat.

Für Agustín Salvia, Sozialwissenschaftler und Autor der universitären Studie, führen Armut und Ungleichheit zu einer sich verschärfenden gesellschaftlichen Ausgrenzung und zur Zunahme sozialer Konflikte. Phänomene wie Unruhen und Plünderungen müssten im Kontext der sozialen Spaltung und der mangelnden Bildungs- und Aufstiegschancen betrachtet werden. Salvia verweist insbesondere auf die hohe Inflation hin, die dazu führe, dass die Lebensunterhaltskosten in Argentinien immer weiter stiegen und immer mehr Menschen Bedürfnisse nicht befriedigen könnten. Während INDEC für das Jahr 2012 eine Inflationsrate von  knapp elf Prozent ausweist, kommen die Studie der UCA und weitere unabhängige Schätzungen auf eine reale Inflation von mehr als 25 Prozent in diesem Zeitraum.

Auf derart auseinander klaffende Daten geht auch die britische Wochenzeitschrift The Economist ein. In Bezug auf die jüngsten Unruhen und Plünderungen in Argentinien veröffentlicht sie zum Jahresende weitere Beispiele. Demnach wuchs das Bruttoinlandsprodukt Argentiniens im Jahr 2013 nach den Zahlen von  INDEC gegenüber dem Vorjahr um acht Prozent, drei Punkte mehr, als FIEL ermittelte. In einem Ranking nach ihrem Konfliktpotential stuft das Magazin Argentinien für 2014 unter den Ländern "mit hohem politischen und sozialen Risiko" ein.