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Brasilien: Droht ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems?

Neue Höchststände an Corona-Verstorbenen. Immer mehr Intensivstationen komplett ausgelastet. Präsident Bolsonaro: "Gejammere muss aufhören"

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Bolsonaro bei einer Ansprache im Bundeststaat Goiás: "Das Gejammere kann nicht ewig weitergehen!" (Screenshot)
Bolsonaro bei einer Ansprache im Bundeststaat Goiás: "Das Gejammere kann nicht ewig weitergehen!" (Screenshot)

São Paulo. Am 3. März sind in Brasilien 1.910 Menschen an Covid-19 gestorben. Damit hat das Land einen neuen Höchststand von Todesfällen in der Pandemie erreicht. Insgesamt gab es laut offiziellen Zahlen des Gesundheitsministeriums bereits knapp 261.000 Corona-Tote. Seit Wochen steigen die Fall- und Todeszahlen und ein Abflachen der Kurve ist nicht in Sicht.

Nun spitzt sich die Lage weiter zu: Immer mehr Krankenhäuser und Intensivstationen melden ihre vollständige Auslastung. Mit einem Durchschnitt von 78,1 Prozent verzeichnet das Land die höchste Auslastungsrate seit Juli letzten Jahres. In den vergangenen zwei Wochen stieg die Zahl der Verstorbenen um 30 Prozent, Forscher:innen befürchten eine Verdopplung der Todeszahlen bis zum Ende des Monats auf insgesamt 500.000 Tote. Damit drohe Brasilien der komplette Zusammenbruch des Gesundheitssystems.

Aus diesem Grund fordert der Bundespflegerat (Cofen) einen strikten Lockdown und die damit verbundene Schließung aller nicht essenziellen Geschäfte und Lokale sowie die Einstellung möglichst aller Aktivitäten. Weiterhin fordern sie eine dauerhafte Aufklärungskampagne und die Fortführung der finanziellen Hilfen für einkommensschwache Familien.

Dem landesweiten Lockdown stehen allerdings einige entscheidende Faktoren entgegen. Einer der wichtigsten ist der Präsident Jaír Bolsonaro selbst. Dieser erklärte erst gestern in einem Interview, dass die Bevölkerung aufhören solle zu klagen und dass das "Gejammere" nicht ewig weitergehen könne. Zudem veröffentlichte er kurz darauf auf Twitter das Statement, dass es weiterhin möglich sein müsse, die Familie zu ernähren und Arbeiten gehen zu dürfen. Der Lockdown sei für ihn keine ernstzunehmende Strategie und komme daher nicht in Frage.

Jedoch gibt es auch Gegenstimmen. In einem Interview für BBC Brasilien sprach der Biologe und Wissenschaftskommunikator Atila Iamarino davon, dass Brasilien eine "Genozid-Strategie" fahre. Er kritisiert die Untätigkeit der Regierung im vergangenen Jahr und betont, dass das Land noch immer keinen Plan bereitstellt, der aufzeigt, wie mit Corona umgegangen werden soll. Auch eine Impfstrategie gäbe es nicht. Bisher wurden 3,62 Prozent der Bevölkerung geimpft, 1,16 Prozent der Bevölkerung mit beiden Dosen. Insgesamt wurden aktuell in Brasilien ungefähr 7.672.000 Menschen geimpft. Zum Vergleich: In den USA werden aktuell täglich rund zwei Millionen Menschen geimpft.

In einigen Regionen wurden nun dennoch Lockdowns beschlossen. Diese stehen allerdings stark in der Kritik. Die Schulen und Kirchen sollen in einigen Bundesstaaten – unter anderem São Paulo – weiterhin geöffnet bleiben. Auch gibt es noch immer keinen Vorschlag, wie Menschen geholfen werden soll, die keinen Zugang zu fließendem Wasser oder Strom haben. Die Meldungen über ausbleibendes Wasser oder unzureichende Stromversorgung häuften sich in den letzten Wochen.

Besonders leiden derzeit die Menschen, die auch schon vor der Pandemie unter prekären Bedingungen gelebt haben. Der jüngst erschienene Kurzfilm von Studierenden der Universidade Federal de Pernambuco in Recife, "A Cartografia é uma Arma Carregada de Futuro", thematisiert die sozialen Ungleichheiten im Kontext der Pandemie. Er zeigt deutlich, wie unterschiedlich mit Corona-Fällen in einer einzigen Stadt umgegangen wird: Menschen aus ärmeren Vierteln werden weniger getestet, seltener behandelt und werden daher kaum in den offiziellen Statistiken aufgenommen. Selten gibt es Menschen, die erkranken und getestet werden.

Dem entgegen stehen die Bewohnern der privilegierteren Viertel. Sie haben die Möglichkeit gemeinsam zum Krankenhaus zu fahren und sich am Drive-thru auf Covid-19 testen zu lassen.

So sind ärmere Regionen oder Viertel selten die mit den offiziell hohen Fallzahlen, obwohl davon auszugehen ist, dass die Zahlen ähnlich oder gar höher sind – gerade im Hinblick auf die unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen.