Venezuela

Mehr als Reformen

Mit einer Verfassungsnovelle soll Venezuelas "bolivarische Revolution" vertieft werden - zum Unmut einiger Beteiligter

Schon wieder protestieren Studenten in Venezuela. Die Demonstrationen der Hochschüler aus den elitären staatlichen Universitäten richten sich diesmal gegen die geplante Verfassungsreform. Anders als ihre Komillitonen von den sogenannten bolivarischen Universitäten wenden sie sich entschieden gegen die Novelle, über die Anfang Dezember in einem Referendum entschieden werden soll. Die Spaltung des Hochschullagers in "staatliche" und "bolivarische" Studenten ist beachtlich, weil sie das Wesen des Protestes verdeutlicht. Denn während die Hürden für die staatlichen Universitäten so hoch ist, dass fast nur Kinder aus wohlhabenden Familien zu ihnen Zugang haben, stehen die neu eingerichteten bolivarischen Universitäten allen offen. Die soziale Herkunft der Studentenschaft spiegelt sich unmittelbar in der politischen Positionierung wider: Wer auf die staatliche Universität geht, ist gegen den Prozess, wer von einer bolivarischen Hochschule stammt, zieht für Reform und Regierung auf die Straße.

Trotzdem gibt es bei den medial stark beachteten Protesten der regierungskritischen Studenten einen Unterschied. Anders als in den vergangenen Monaten setzten sie scheinbar auf den Dialog. "Ja zu Chávez, nein zur Reform", steht auf ihren T-Shirts, von denen einige sogar rot sind - in der Farbe der "Chavisten". Wie Zusammenstöße zwischen beiden Lagern auf dem Campus der Zentraluniversität Venezuelas in der Hauptstadt zeigten, hat die Kompromissbereitschaft aber Grenzen.

Die neue strategische Ausrichtung der oppositionellen Studenten zielt vielmehr auf eine Neuformierung der Opposition ab. In der Kampagne gegen das Referendum versuchen Oppositionsgruppen, eine Allianz mit Teilen des bisherigen Regierungslagers gegen die Staatsführung zu erreichen. Der Zeitpunkt dafür ist günstig: Nicht nur die sozialdemokratische Partei Podemos hat sich von der "bolivarischen Revolution" verabschiedet. Anfang des Monats sagte sich zudem der ehemalige Verteidigungsminister, General a. D. Raúl Baduel, von seinem langjährigen Weggefährten Hugo Chávez los. Seine Kritik wird auch von europäischen Medien kolportiert: Der österreichische Standard berichtet über die "beginnende Diktatur" unter Chávez, die Neue Züricher Zeitung sieht die "Umwandlung Venezuelas in eine Diktatur", und auch für die als alternativ geltende Berliner tageszeitung bewegt sich Chávez "in Richtung des Aufbaus einer Diktatur".

Doch worum geht es bei der Reform tatsächlich? In dem Katalog lassen sich drei Blöcke erkennen: Zum einen wird mit der Novelle die Einflußmöglichkeit des Staates auf die Wirtschaft erhöht - ein originäres Anliegen der "bolivarischen Revolu­tion". Das Verbot von wirtschaftlichen Monopolen (Artikel 113) enspricht diesem Grundsatz ebenso wie die stärkere Kontrolle über die Zentralbank (Artikel 318). Etabliert werden erstmals auch verschiedene Formen sozialen Besitzes neben dem Privateigentum. Artikel 115 definiert "öffentliches", "soziales", "kollektives" Eigentum sowie Mischformen.

Zweitens enthält der Reformvorschlag eine Reihe progressiver Inhalte, die im Diskurs der Opposition und damit in der internationalen Berichterstattung jedoch kaum eine Rolle spielen. Dieser Teil betrifft in erster Linie die Ausweitung der direkten demokratischen Teilnahme der Bevölkerung am politischen Prozess. Die kommunalen Räte sollen Verfassungsrang erhalten, die Bildung weiterer Basisstrukturen soll unterstützt werden. 111 der insgesamt 350 Artikel der neuen Konstitution sollen sich auf wirtschaftliche, politische und soziale Rechte beziehen: Das Wahlalter wird von 18 auf 16 Jahre gesenkt. Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung wird verboten, die 36-Stunden-Woche als maximale Arbeitszeit festgelegt. An den Universitäten wird die paritätische Vertretung aller Gruppen eingeführt. Die Außenpolitik wird auf die Förderung einer multipolaren Weltordnung orientieren. Großgrundbesitz wird verboten.

Drittens sollen unter dem Eindruck der Angriffe von Innen (Putschversuch, gewaltbereite Opposition, Propaganda der privaten Medien) und Außen (Sanktionen, Paramilitärs aus Kolumbien, Finanzierung und Aufbau einer Opposition) die Kompetenzen des Staates im Krisenfall ausgeweitet werden. Diese Punkte wurden aber auch in Venezuela debattiert und mitnichten von Chávez diktiert. Artikel 337 etwa, der die Einschränkung von Grundrechten während eines Ausnahmezustandes definiert, wurde nach Debatten an der Basis zugunsten von Rechtsgarantien wieder verändert. Dass das Recht auf Information weiter außen vor bleibt, ist eine Lehre aus dem Putschversuch im April 2002. Damals spielten private Medien eine zentrale Rolle in der Vorbereitung und bei der Ausführung des Staatsstreiches.

Nicht nur dieser Hintergrund ist wichtig, um den Sinn der Reform zu verstehen. Wie schon bei der ersten Novelle 1999 wurden in den vergangenen Monaten zudem Basisorganisationen in die Debatte eingebunden. Schon bei der ersten Überarbeitung waren von den 624 Vorschlägen aus sozialen Bewegungen rund 50 Prozent aufgenommen wurden. Auch diesmal kamen zu den 33 ursprünglichen Artikeln nach Konsultationen mit der Basis 25 weitere hinzu. Elf reichte das Parlament nach.

Der tatsächliche Konflikt besteht deswegen nicht zwischen Verteidigern der Demokratie und denjenigen, die sie einzuschränken versuchen. Mit der Reform soll die politische Entscheidungmacht mehr und nachhaltiger als bisher an die Basis übertragen werden. Die neuen politischen Basisorganisationen, allen voran die kommunalen Räte, würden dann ein neues politisches Korrektiv bilden. Konkreter: Die Menschen sollen sich selbst vertreten statt Vertreter in Parlamente zu wählen. Kritisiert wird das vor allem von Verfechtern des repräsentativen Systems. Sie würden schließlich nicht nur Macht verlieren, sondern auch zahlreiche Privilegien.


Den Originaltext der Tageszeitung junge Welt finden Sie hier.