Venezuela

Venezuela: Die vergessenen 194,3 Prozent

Bringt die Regierung Chávez Venezuela mit "populistischen Maßnahmen" an den Rand des Abgrundes?

Die Prominenz des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez hat vor allem eine Ursache: Inmitten der neoliberalen Hegemonie hat das südamerikanische Land unter seiner Regierung mit den Zwängen des Washingtoner Konsensus [1] gebrochen. Chávez' Regierung hat die Rolle des Staates wieder gestärkt und eine neue radikale Sozialpolitik durchgesetzt. Tausende Ärzte arbeiten seitdem in den Armenvierteln, eine massive Alphabetisierungs- und Bildungskampagne wurde gestartet, die Gründung von Kooperativen subventioniert und das Lohnniveau angehoben. Doch ist eine solche Politik überhaupt tragbar? Nach Berichten [2] der venezolanischen Tageszeitung "El Universal" steht dem südamerikanischen Land eine schwere Wirtschaftskrise bevor.

Das regierungskritische Blatt zitierte Anfang des Monats die jüngsten Zahlen der Venezolanischen Zentralbank, nach denen die Lebensmittelpreise von Mai 2006 bis Mai 2007 um 30,2 Prozent angestiegen sind. Das generelle Preisniveau hat im gleichen Zeitraum um 19,5 Prozent zugenommen.

Die Zahlen sind unstrittig, nicht aber die Interpretation. Die Inflation und wachsende Güterimporte aus dem Ausland seien durch "populistische Schritte" der Regierung verursacht worden, schreibt die gleiche Redaktion an anderer Stelle. Dazu zählten die Aufstockung der Sozialausgaben und die Erhöhung von Löhnen sowie Pensionen. Auch griff die Zeitung erneut die These auf, ausländische Investoren würden durch Verstaatlichungen und den Austritt aus IWF und Weltbank abgeschreckt.

Blick in die Geschichte

Tatsächlich ist die Inflation in Venezuela die höchste in Lateinamerika. Im Nachbarland Kolumbien liegt sie bei 6,23 Prozent, in Mexiko bei 3,95 Prozent und in Brasilien bei 3,18 Prozent. Trotz des hohen Geldwertverlustes sind die Ausgaben der öffentlichen Hand angewachsen: Im Jahr 2000 wurden 21 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausgegeben, 2006 waren es bereits 34 Prozent. Die Schutzmaßnahmen der Regierung - Kontrolle der Wechselkurse und Preise für Grundnahrungsmittel, Verringerung der Mehrwertsteuer und Verkauf von Staatsanleihen, um das viele im Umlauf befindliche Geld zu binden - blieben jedoch ohne den erhofften großen Erfolg.

In das gleiche Horn wie El Universal stieß mit dem Unternehmerverband Fedecámaras [3] einer der Hauptakteure des Putschversuches von April 2002. Bis Jahresende könnte die Inflation auf 20 Prozent ansteigen, prognostizierte Verbandschef José Luis Betancourt. Durch die Erhöhung des Mindestlohnes sei eine Geldmenge in Umlauf gebracht worden, der keine hinreichende Warenproduktion entgegenstünde, so Betancourt. Er bemängelt auch, "dass der politischen Agenda leider vor der wirtschaftlichen Vorzug gegeben wird".

Der Vorwurf lässt sich durchaus umkehren. Denn auch die Kritik an der Wirtschaftspolitik der Regierung scheint in erster Linie politisch begründet. Vergleicht man die Zahlen aus El Universal und die Angaben des Unternehmervertreters mit den Voraussagen der Nationalbank, fällt der Unterschied ins Auge. Von Januar bis Mai dieses Jahres hat sich die Inflation in Venezuela auf 5,9 Prozent akkumuliert (Vorjahr: 3,6 Prozent), bis Jahresende soll die Quote unter zwölf Prozent gehalten werden.

Vor allem aber hilft der Blick in die Geschichte den politischen Charakter der Kritik zu entlarven. Die Inflation in Venezuela ist kein neues Phänomen; sie ist über Jahrzehnte gewachsen. Während sie unter der ersten demokratischen Regierung von Rómulo Betancourt Anfang der sechziger Jahre noch 1,5 Prozent betrug, stieg sie bis zur ersten Präsidentschaft des Sozialdemokraten Carlos Andres Pérez zehn Jahre später auf 9,86 Prozent an. 1974 hatte sie mit 11,8 Prozent zum ersten Mal eine zweistellige Zahl erreicht.

Der Trend zur Geldentwertung hielt auch in den folgenden Jahren an. Unter der Regierung von Luis Herrera Campins Ende der siebziger Jahre stieg die Inflation erstmals über 20 Prozent, um Mitte der achtziger Jahre unter Staatschef Jaime Lusinchi gar 34,1 Prozent zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt war der Kollaps der venezolanischen Wirtschaft schon nicht mehr aufzuhalten. Als die Politiker Andres Pérez und Rafael Caldera in den neunziger Jahren zum jeweils zweiten Mal eine Regierung in Venezuela führten, betrug die Inflation durchschnittlich 104,5 Prozent, beziehungsweise 194,3 Prozent. Diese Zahlen wurden bei der jüngsten Kritik offenbar vergessen.

Immerhin erkennt Unternehmerchef Betancourt neben seinen verbalen Attacken auf die Regierung auch ein "strukturelles Problem" der Wirtschaft des Landes an: Venezuela hängt hochgradig von Erdöl ab. In den Bilanzen wurde dieser Trend durch die Steigerung des Ölpreises noch verstärkt. Während 1998, vor Chávez' Regierungsantritt, die Öleinnahmen noch 68,7 Prozent der Deviseneinkünfte ausmachten, waren es 2006 bereits 89,6 Prozent. Diese einseitige Wirtschaftsbilanz hat in Venezuela historisch ein Phänomen befördert, das als Holländische Krankheit [4] bekannt ist: Durch den Außenhandelsüberschuss aufgrund des Erdölverkaufs wurde die Währung aufgewertet. Die übrigen Wirtschaftsbereiche von der industriellen Produktion bis zur Agrarwirtschaft wurden geschwächt, Arbeitslosigkeit und der Verfall des Arbeitsmarktes waren die Folge.

Staatliche Gegenmaßnahmen

Die venezolanische Regierung hat diesen Trend erstmals seit Jahrzehnten stoppen können. Durch die Bestimmung eines festen Wechselkurses zwischen dem landeseigenen Bolívar und dem US-Dollar wurde der Fluktuation des Geldwertes entgegengewirkt. Wichtiger aber noch: In Venezuela werden zuletzt die enorm gestiegenen Einkünfte aus dem Erdölgeschäft genutzt, um andere Wirtschaftsbereiche aufzubauen. Neben mehreren Tausend Kooperativen in verarbeitender Industrie und im Dienstleistungssektor sind umgerechnet 6,7 Milliarden US-Dollar an den "Nationalen Entwicklungsfonds" geflossen, 7,5 Milliarden hat die staatliche Erdölgesellschaft PdVSA an die Nationalbank zur Steigerung der Dollarreserven überwiesen. Die internationalen Devisenreserven hatten von 1998 bis 2006 um 152 Prozent zugenommen.

Eines der großen Probleme der venezolanischen Wirtschaft ist aber nach wie vor die mangelnde Produktivität. Und hier liegt eine politische Herausforderung. Denn solange Kooperativen mit Zuschüssen eines prosperierenden Staates rechnen können, müssen sie im Grunde nicht wirtschaftlich arbeiten: Venezuelas Wirtschaft hat 14 Trimester Zuwachs verzeichnet. Der Zwang zur Produktivität ergibt sich nicht aus einer unmittelbaren Drucksituation, sondern aus der mittel- und langfristigen Wirtschaftsperspektive.

Trotzdem hat die amtierende Regierung die chronische Krise durch eine Abkehr von der neoliberalen Deregulierung aufhalten können. 1999 bis 2004 wurde die stetig steigende Inflation in Venezuela erstmals seit Ende der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez 1958 gebremst: 1999 erreichte sie 20 Prozent - die niedrigste Quote seit zwei Jahrzehnten -, 2000 waren es gar nur noch 13,4 Prozent und im Folgejahr 12,3 Prozent. Die Aussicht auf einen Rückgang unter die Zwei-Ziffer-Marke aber wurde gerade durch diejenige Opposition verhindert, die nun erneut zu Verbalattacken gegen die Regierung Chávez ausholt. Nach dem Dezember 2001 riefen die Regierungsgegner zwei politische Generalstreiks aus, organisierten einen Putschversuch und sabotierten die Erdölindustrie während des sogenannten Erdölstreiks zum Jahreswechsel 2002/03. Die vorsätzliche Schädigung der Kernindustrie bescherte Venezuela damals Verluste in Höhe von 14 Milliarden US-Dollar. Die Konsequenz blieb nicht aus: Im Jahr 2002 betrug die Inflation wieder 31,2 Prozent, 2003 dann rund 27 Prozent.

Politischer Konflikt

Ein Blick auf diese Geschichte lässt nicht nur die Kritik der Oppositionspresse als politisch vorbelastet, wenn nicht gar als propagandistische Fortführung der Putsch- und Sabotageaktionen erscheinen - er offenbart auch den hintergründigen Konflikt. Venezuelas staatsinterventionistische Politik wird von den Befürwortern des freien Marktes als die eigentliche Gefahr gesehen. So ist es nicht verwunderlich, dass Fedecámaras-Chef Betancourt die negativen Auswirkungen der Inflation betont, um zugleich Eingriffe der Regierung zum Schutz der Verbraucher zu kritisieren. Das Ernährungsministerium etwa hatte den Export von Nahrungsmitteln solange verboten, bis der Bedarf des nationalen Marktes gedeckt ist. Betancourt bezeichnete eine solche "Kontrolle des Marktes (...) weder als sinnvoll noch möglich".

Der Kritik zum Trotz versucht Caracas seit Jahren, die strukturelle Heterogenität des venezolanischen Binnenmarktes zu durchbrechen. Kernpunkt dieser Politik ist der Aufbau neuer Industriebetriebe. Nach Angaben (5) des ehemaligen Direktors der Fakultät für Internationale Studien der Zentraluniversität Venezuelas, Franklin González, ist die verarbeitende Industrie zuletzt um zehn Prozent angewachsen, Handel und Dienstleistungen um 18,6 Prozent, das Baugewerbe um 29,5 Prozent, die Telekommunikationsbranche um 23,5 Prozent und der Finanz- und Versicherungssektor um 37 Prozent. Die Arbeitslosigkeit ist von 11 Prozent in 2005 auf 10 Prozent im vergangenen Jahr gesunken. Das französische Magazin "Le Nouvel Observateur" sieht Venezuela nach Brasilien, Mexiko und Argentinien auf Platz 30 der "Motoren der Weltwirtschaft". Vor allem die Kooperation mit Russland, Iran und China hat neue Impulse beschert - nicht immer zur Freude der dominierenden Industriestaaten.

Und auch die bisherige Oligarchie sieht ihre Stellung durch die neuen Kooperationsabkommen bedroht, weil sie bei ihnen nicht notwendigerweise mehr eine Rolle spielt. Die Kritik, wie sie von El Universal und Fedecámaras formuliert wurde, ist - trotz anzuerkennender struktureller Probleme der Wirtschaft - offenbar ein Ausdruck der Sorge der Oberschicht, von der neuen Wirtschaftspolitik ausgegrenzt zu werden, wenn sie nicht zur allgemeinen Entwicklung beiträgt.


Links

[1] http://www.iie.com/publications/papers/paper.cfm?researchid=488
[2] http://www.eluniversal.com/2007/06/02/eco_art_el-precio-de-los-ali_306846.shtml
[3] http://www.fedecamaras.org.ve
[4] http://www.boersenreport.de/glossar.asp?msg=000000000005620000410000000
[5] http://www.rebelion.org/noticia.php?id=51960