Soziale Organisationen ‒ ein wichtiger gesellschaftlicher Akteur Argentiniens

Der Bloque Latinoamericano Berlin besuchte die Frente de Organizaciones en Lucha (FOL)

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Bachillerato Popular "Mercelina Meneces", Bajo Flores, Buenos Aires
Bachillerato Popular "Mercelina Meneces", Bajo Flores, Buenos Aires

In dem südamerikanischen Land, in dem seit mindestens 30 Jahren mehr als die Hälfte der städtischen Lohnabhängigen vom formellen Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, da das Kapital keine Verwendung für ihre Arbeitskraft hat, organisieren die sozialen Organisationen diesen Teil der Bevölkerung und geben ihm eine politische Stimme.

In den Jahren vor Javier Mileis Übernahme der Präsidentschaft organisierten die sozialen Organisationen, deren politische Ausrichtung von sozial-progressiv bis revolutionär-sozialistisch reicht, hunderttausende Mitglieder und gegenwärtig sind sie ein wichtiger Akteur im Widerstand gegen Mileis Sparpolitik und den sozialen Kahlschlag.

Im November 2024 fand ein politischer Austausch zwischen dem Bloque Latinoamericano Berlin und der Frente de Organizaciones en Lucha (Front der kämpfenden Organisationen, FOL) statt, für den eine neunköpfige Delegation aus Deutschland nach Argentinien reiste.

Der Bloque Latinoamericano ist eine politische Organisation, die seit Oktober 2018 existiert und in Berlin ansässig ist. Er arbeitet zur Lage in Lateinamerika und den Lebensumständen der migrantisch-lateinamerikanischen Bevölkerung in Deutschland.

Die FOL ist mit wenigen tausend Mitgliedern eine der kleineren sozialen Organisationen Argentiniens. Sie definiert sich als anti-kapitalistisch, anti-patriarchal, anti-imperialistisch, anti-bürokratisch sowie als für den Ökosozialismus, Feminismus und eine Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung kämpfend.

Ein Großteil der Arbeit der FOL dreht sich jedoch erst einmal unmittelbar darum, die grundlegenden Bedürfnisse der vom formellen Arbeitsmarkt ausgeschlossenen Menschen, besonders jene ihrer Mitglieder, zu erfüllen. Die meisten Mitglieder der FOL, von denen über 90 Prozent Frauen und viele von ihnen Migrantinnen aus Paraguay, Bolivien und Peru sind, schließen sich ihr aus diesem Grund an.

Ihre organisatorische Struktur beruht auf Versammlungen in denen die Mitglieder alle Fragen des Alltags diskutieren und ihre Arbeit und politischen Kämpfe koordinieren. Ausgehend von diesen Versammlungen gibt es eine Delegiertenstruktur, welche sie auf regionaler und landesweiter Ebene verbindet.

Der Austausch war für die FOL ein wichtiger Schritt, um international Sichtbarkeit und Unterstützung im Angesicht der Angriffe der Regierung Mileis auf die sozialen Organisationen zu organisieren. Zu diesem Zweck fand bereits vor dem zweiwöchigen Besuch der Delegation des Bloque Latinoamericano in Argentinien ein Besuch von Carlos Fernández, eines Delegierten der FOL, in Deutschland statt (amerika21 berichtete). Die Angriffe auf die FOL und andere soziale Organisationen stellen das neuste Kapitel in einer dreißigjährigen Geschichte der sozialen Organisationen Argentiniens dar.

Die Geschichte der FOL

Die FOL hat ihre Wurzeln, wie alle heutigen sozialen Organisationen Argentiniens, in der Arbeitslosenbewegung, die in den 1990er-Jahren im Kontext des neoliberalen Umbaus des Staates entstand. 1976 putschten die argentinischen Militärs im Rahmen der Operation Condor, um eine sozialistische Revolution in Argentinien zu verhindern.

Die Operation Condor war Teil einer US-Strategie, die für die Durchsetzung der US-Interessen in Lateinamerika auf staatlichen Terror setzte. Während der Militärdiktatur in Argentinien wurden über 30.000 Menschen ermordet und verschwanden sowie die Grundsteine einer neoliberalen Politik gelegt. Diese wurde in den Jahren nach Wiederherstellung der Demokratie ab 1983 durch die Regierungen von Raúl Alfonsín und Carlos Menem vertieft.

Der neoliberale Umbau führte zum Verlust von hunderttausenden Arbeitsplätzen und einem Einbruch des Lebensstandards eines großen Teils der Bevölkerung. In diesem Kontext erkannten verschiedenen Linke mit organisatorischer Erfahrung, oft aus den 1970ern vor und während der Diktatur, dass mit der Arbeitslosenbewegung, die aus den veränderten materiellen Verhältnissen hervorging, ein neues politisches Subjekt und die Bedingungen für den Aufbau eigener Organisationen entstanden.

Der bewusste Einsatz dieser Linken in der Arbeitslosenbewegung ermöglichte die Verwirklichung dieses Potentials und brachte die sozialen Organisationen hervor.

Diese wurden von Anfang an besonders von Frauen getragen, die in den ersten Jahren Volksküchen, Flohmärkte, Kinderbetreuung und andere Aktivitäten organisierten, um ihre Familien über die Runden zu bringen. Zugleich reagierte der Staat, der es mit Repression allein nicht schaffte, die Arbeitslosenbewegung in den Griff zu bekommen, mit ersten Sozialprogrammen, die in der staatlichen Einrichtung und Vergabe prekär bezahlter Arbeitsstellen bestanden. Diese reichten jedoch bei weitem nicht aus, um den Bedarf zu decken. Einer der ersten Kämpfe, in denen die sozialen Bewegungen aufgebaut wurden, forderte die unmittelbare Ausweitung der Programme und die mittelfristige Schaffung richtiger Arbeitsplätze.

Zu einer Ausweitung der Sozialprogramme kam es jedoch erst 2002, nachdem die Aufstände im Dezember 2001 das Abdanken und die Flucht des damaligen Präsidenten erzwungen hatten und wurde unter der Regierung Nestor Kirchners ab 2003 noch verstärkt und diversifiziert.

Bis zum Amtsantritt Mileis kämpften die FOL und andere soziale Organisationen mittels klassischer Eskalationsstufen, von der Petition über Demonstrationen bis hin zu Straßenblockaden und Besetzungen zuständiger Ministerien für größere Kontingente der Programme. Sie kämpften aber auch für die Anerkennung von Kooperativen und die Entlohnung der in ihnen geleisteten Arbeit durch den Staat sowie für die Anerkennung der Volksküchen, Kindergärten und Erwachsenenschulen und die damit einhergehende Bereitstellung von Ressourcen, wie Lebensmittel oder Gelder für Mietkosten. Je mehr Ressourcen die sozialen Organisationen erkämpfen und den Bedürftigen zur Verfügung stellen konnten, desto stärker wuchsen sie.

Dieses Wachstum nahm entsprechend rasant zu, als 2015 Mauricio Macri zum Präsidenten Argentiniens gewählt wurde und die Sozialprogramme drastisch ausweitete, um den gleichzeitigen erneuten neoliberalen Kahlschlag sozial abzufedern. Zusätzlich erhielten die sozialen Organisationen nun die direkte Verwaltungsbefugnis über die Programme, da Macri mit der Macht der staatlichen Funktionär:innen brechen wollte, die die Programme zuvor verwalteten und zum Großteil der politischen Opposition, dem Kirchnerismus, angehörten. Das machte die sozialen Organisationen zu Anlaufstellen für all jene, die Zugang zu diesen Mitteln haben wollten.

Innerhalb der FOL löste diese veränderte Lage eine Diskussion über die Balance zwischen quantitativem und qualitativem Wachstum aus. Im Gegensatz zu einigen anderen sozialen Organisationen, die darauf setzten, mit den nun verfügbaren Ressourcen ein maximales Wachstum an Mitgliedern zu erzielen, sollten sich all jene, die sich der FOL annäherten, um Zugang zu den Mitteln zu erhalten, tatsächlich am Aufbau der FOL beteiligen und die Anforderungen der Mitgliedschaft – Teilnahme an den Versammlungen und politischen Aktionen, Zahlen des Mitgliedsbeitrags und Leisten von Freiwilligenarbeit – erfüllen. Nur Lokalgruppen, die bestimmte politische Strukturen, z.B. Geschlechter-Kommissionen oder Öffentlichkeitsarbeit aufbauten, erhielten die Ressourcen, um die Mitgliederzahl zu steigern.

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Die FOL bei einer Demonstration gegen Mileis Kürzungspolitik und den Hunger
Die FOL bei einer Demonstration gegen Mileis Kürzungspolitik und den Hunger

Aktuell, unter der Präsidentschaft Mileis seit Dezember 2023, kommt es zum gezielten Angriff auf die sozialen Organisationen.

Diese Angriffe finden auf mindestens vier Ebenen statt: der medialen, der juristischen, der repressiven und der ökonomischen. So werden die Organisationen gezielt über die Sozialen Medien und jene Medienhäuser diffamiert, die der Regierung nahe stehen. Oft werden schlicht Falschmeldungen verbreitet oder Statements der Regierung übernommen.

Gleichzeitig wurden gegen Führungspersönlichkeiten der FOL und anderer sozialer Organisationen wie dem Polo Obrero oder Barrios de Pie juristische Strafverfahren eingeleitet. Hierdurch wird einerseits die mediale Schmutzkampagne befeuert, selbst wenn es sich in den allermeisten Fällen um völlig konstruierte und aussichtslose Verfahren handelt, und andererseits Kapazitäten der Organisationen gebunden sowie wichtige Personen ausgeschaltet.

Auf der Ebene der direkten Repression wurden neue Protokolle für das polizeiliche Vorgehen in Kraft gesetzt, die sich spezifisch gegen die Aktionsformen der sozialen Organisationen richten. Zudem wurde eine Angst-Kampagne gestartet, die den Empfänger:innen von Sozialhilfen androht, diese zu verlieren, sollten sie sich an Aktionen beteiligen.

Währenddessen zielt der ökonomische Angriff auf die materiellen Grundlagen der sozialen Organisationen ab. So wurden unter anderem jegliche Lebensmittellieferungen an die Volksküchen eingestellt, die Zahl der Sozialprogramme drastisch verkleinert und die Höhe der verbleibenden Leistungen stark gekürzt.

Die Folge dieser Angriffe ist ein dramatischer Mitgliederverlust der sozialen Organisationen, die teilweise weit über die Hälfte ihrer Mitglieder verloren haben. Viele von ihnen können ihren Lebensunterhalt nun nicht mehr mittels der sozialen Organisationen bestreiten und sind gezwungen, andernorts nach den Mitteln hierfür zu suchen – z.B. bei der organisierten Kriminalität.

Gleichzeitig schwächen die Angriffe auf den anderen Ebenen die Fähigkeiten, auf diese ökonomischen Angriffe reagieren zu können und isolieren die sozialen Organisationen. Im Vergleich zu anderen hat die FOL in diesem komplizierten Kontext zwar einen größeren Anteil ihrer Mitglieder halten können, aber auch sie ist schwer getroffen und muss sich neu orientieren.

Die Suche nach Antworten auf die veränderte Situation und teilweise auch die Ratlosigkeit der Compas war ein allgegenwärtiges Thema während der Besuche der Delegation. Oft betonten diese, dass sie früher mehr und stärker gewesen seien. Gleichzeitig hat der Mitgliederverlust jedoch auch dazu geführt, dass nur jene Mitglieder der FOL weiterhin Teil von ihr sind, die trotz aller Widrigkeiten geblieben sind, zumeist aus der Überzeugung, dass der kollektive Kampf die Lösung ist, um auch dieser Krise zu widerstehen. Zudem haben die Notwendigkeiten der sich verändernden Situation verschiedene Reflexionen in den Reihen der FOL angestoßen.

Lehren aus zwei Jahrzehnten politisch-sozialer Arbeit

Eine der Grundannahmen, die seit der Gründung der FOL im Jahre 2006 die Organisation prägt, ist dass es zwei Gründe gibt, aus denen sich Menschen Organisationen annähern: aufgrund von Überzeugungen und aufgrund von Bedürfnissen. Das Zusammenspiel beider Motivationen war ein wichtiger Faktor für die Entstehung der sozialen Organisationen.

Während die meisten sozialen Organisationen heutzutage jedoch einer einzelnen politischen Partei unterstehen und von dieser ihre politische Linie diktiert bekommen, entschied man sich in der FOL, dem Widerspruch verschiedener politischer Strömungen, die in ein und der selben sozialen Organisation vertreten sind, anders zu begegnen.

Die FOL versteht sich als soziale Organisation mit politischen Definitionen, innerhalb derer verschiedene Strömungen kooperieren und miteinander ringen können. Das heißt, sie legt sich nicht auf einen engen politisch-ideologischen Rahmen fest, lässt diesen aber auch nicht völlig offen. So finden in ihr Aktive verschiedener politischer Gruppen und Strömungen Platz, die mit den übergeordneten politischen Definitionen der FOL übereinstimmen und die Aushandlung der politischen Linie findet in der FOL selbst und keiner höher stehenden Instanz statt.

Die Anwesenheit dieser Aktiven ermöglicht wiederum, dass jene, die sich der FOL aufgrund von Bedürfnissen annähern, in den Versammlungen kontroverse politische Diskussionen erleben, die oft kein eindeutiges Ergebnis haben und Platz für Ambivalenzen lassen, so dass in Mehrheitsentscheiden abgestimmt werden muss, was zu tun ist. Das schafft die Möglichkeit und Notwendigkeit, eigene Urteile zu fällen und spornt an, für diese argumentieren zu lernen.

Zusammen mit den aktiven Bemühungen der FOL, ihre Mitglieder zu befähigen, eigene Urteile zu fällen und Verantwortung in den Versammlungen zu übernehmen, wird so eine Abhängigkeit der Strukturen von den Mitgliedern, die bereits über Organisationserfahrungen verfügen und häufig zusätzlich Mitglied einer politischen Organisation sind, verringert und die Stabilität und Selbstständigkeit dieser Strukturen vergrößert.

Eine Auswirkung dieser Strategie, die die FOL sieht, ist, dass sie im Vergleich zu anderen, zentraler gesteuerten sozialen Organisationen, in denen die Ausrichtung stärker von einer einzigen politischen Partei vorgegeben wird, anteilig weniger Mitglieder verlor, seit die sozialen Organisationen aufgrund der Kürzungen nicht mehr in der Lage sind, all jene Bedürfnisse zu befriedigen, die sie zuvor befriedigen konnten.

Ein Nachteil dieser Art der Organisierung ist jedoch in Momenten, in denen die Umstände ein schnelles Wachstum möglich machen, dieses nicht so umsetzen zu können wie andere sozialen Organisationen, da die Aushandlung der Positionen und die Befähigung neuer Mitglieder Zeit braucht.

Neben der Anwesenheit verschiedener politischer Strömungen innerhalb der FOL sind die Erfahrungen des Konflikts wichtige Motoren der Politisierung für ihre Mitglieder. So wurde der Delegation der Unterschied der sozialen Organisationen zu Nichtregierungsorganisationen (NGO) damit erklärt, dass die sozialen Organisationen den gesellschaftlichen Konflikt organisieren, während die NGO ihn nur zu befrieden suchen.

Die praktische Erfahrung, die die Mitglieder der FOL machen, nämlich durch kollektives Handeln die eigenen Lebensumstände im Konflikt mit den bestehenden Verhältnissen zu verbessern, erlaubt ihnen zu verstehen, dass die Lösung der eigenen Probleme nur kollektiv gelingen kann und zwingend die Lösung der Probleme der anderen miteinschließt.

Die FOL weiß, dass gemeinsam eine Nachbarschaftsküche aufzubauen und zu erkämpfen, dass diese anerkannt und von der Regierung mit Lebensmitteln beliefert wird oder eine Straße zu blockieren und so zu erreichen, dass der abgestellte Strom im Viertel wieder angestellt wird, ermächtigende Erfahrungen sind. Daher sucht sie gezielt nach gewinnbaren Kämpfen, die solche Erfahrungen vermitteln können, während sie gleichzeitig die konkreten Lebensumstände der Beteiligten verbessern.

Motiviert und inspiriert von der Art und Weise, wie die FOL ausgehend von den konkreten Bedürfnissen der Menschen den Konflikt mit den bestehenden Verhältnissen organisiert und politisiert und gleichzeitig die Lebensbedingungen der Menschen verbessert, verabschiedete sich die Delegation nach zwei Wochen wieder von den Compas der FOL und kehrte nach Deutschland zurück. Es soll nicht der letzte Besuch gewesen sein. Die FOL und der Bloque Latinoamericano wollen das Format der gegenseitigen Besuche fortsetzen und bereits für Ende des Jahres 2025 ist der nächste Besuch einer Delegation in Planung.

Eine ausführlichere Systematisierung der Erfahrungen des Austauschs erscheint demnächst auf der Website des Bloque Latinoamericano Berlin auf Spanisch, Portugiesisch und Deutsch: https://bloquelatinoamericanoberlin.org/de/inicio-deutsch/