Venezuela: "Den Menschen eine Stimme geben"

Das britische Online-Magazin Roar im Gespräch mit dem venezolanischen Soziologen und Aktivisten Reinaldo Iturriza über die Situation in Venezuela und was die internationale Linke tun kann

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"Die Chavisten sind in der Lage zu erkennen, dass ihre Regierung etwas sehr schlecht macht oder ihre Anstrengungen ungenügend sind, aber sie realisieren, dass sie nichtsdestotrotz die Regierung des Volkes bleibt"
"Die Chavisten sind in der Lage zu erkennen, dass ihre Regierung etwas sehr schlecht macht oder ihre Anstrengungen ungenügend sind, aber sie realisieren, dass sie nichtsdestotrotz die Regierung des Volkes bleibt"

Es ist sechs Wochen her, dass der nahezu unbekannte Oppositionsführer Juan Guaidó sich in einem von den USA unterstützten "weichen Putsch" zum Interimspräsidenten ernannt hat. Wo stehen wir jetzt? Könnten Sie uns kurz die wichtigsten politischen Entwicklungen in Venezuela in den letzten Wochen aufzeigen?

Selbst hier in Venezuela wird wenig über diese Tatsache gesprochen, aber dieser jüngste Angriff baut auf etwas auf, das am Montag, dem 21. Januar, im Morgengrauen stattfand: Der Aufstand einer kleinen Gruppe von Mitgliedern der Bolivarischen Nationalgarde, die das venezolanische Volk aufriefen, Maduro nicht mehr als Präsidenten anzuerkennen und andere militärische Einheiten zur Rebellion aufforderten. Diese Gruppe wurde schnell neutralisiert, ohne jegliche Gewalt, ohne zu beklagende Opfer, aber dies führte zu einer Reihe sehr gewalttätiger Proteste, die genau am 23. Januar, dem Tag der Selbsternennung Guaidós ihren Höhepunkt erreichten.

Dies verdeutlicht eines der Hauptziele der ersten Phase der Verschwörung: Die Bolivarischen Nationalen Streitkräfte (FANB) zu brechen und eine Mobilisierung des Volkes gegen die Bolivarische Revolution zu erreichen – mit anderen Worten, das venezolanische Volk zu brechen. Nichts davon geschah. Ebenso wichtig wie das oben beschriebene Ereignis ist die Entscheidung, Produkte des staatlichen Öl-und Gasunternehmens PDVSA auf US-Gebiet mit einem Embargo zu belegen und so die systematische Politik der Aggression gegen die venezolanische Wirtschaft und insbesondere gegen ihre Erdölindustrie fortzusetzen.

Kürzlich gab es dann den Versuch, "humanitäre Hilfe" ins Land zu bringen, eindeutig ein Vorwand, um den Boden für eine militärische Intervention zu bereiten. Dies geschah mit starker Unterstützung der kolumbianischen Regierung.

Hervorzuheben ist noch etwas anderes: Nach der Selbsternennung am 23. Januar hat die Gewalt auf der Straße sehr nachgelassen. Im Land herrscht eine angespannte Ruhe. Nach dem 23. Februar ‒ nachdem der Versuch einer militärischen Aggression gescheitert war ‒ ist die Situation deutlich weniger angespannt. Die überwiegende Mehrheit hat mit der sehr schwierigen wirtschaftlichen Situation zu kämpfen und versucht, voranzukommen.

Wie wahrscheinlich ist Ihrer Meinung nach momentan die Gefahr eines Bürgerkriegs oder einer militärischen Intervention der USA? Hat sie sich durch das "Scheitern" von Guaidós Versuch, Maduro kurzfristig aus dem Amt zu bringen, verringert oder verstärkt?

Die Gefahr ist nocht nicht völlig vorbei. Wir sind überzeugt, dass eine militärische Operation gegen Venezuela im Gange ist, die sich bislang auf psychologische Aggression ‒ einschließlich Todesdrohungen gegen Militärführer und Präsident Maduro selbst ‒, Angriffe auf die Wirtschaft und Sabotage öffentlicher Dienstleistungen konzentriert hat. Diese Operation ist noch nicht in ihre militärische Phase eingetreten. Trotz aller Bemühungen hat die psychologische Aggression nicht erreicht, die FANB zu brechen.

Wir standen 2014 und vor allem 2017 schon kurz vor einem Bürgerkrieg. Bisher haben wir es geschafft, diese Gefahren zu überwinden. Aber die Möglichkeit einer US-Militäraggression ist latent vorhanden, besonders weil ihre Versuche, eine Implosion herbeizuführen wieder und wieder scheitern.

Sie waren früher Minister für die Kommunen und sozialen Bewegungen. Die Rolle der Volksmacht und der chavistischen Basisbewegungen wird außerhalb Venezuelas kaum beachtet, die internationalen Medien konzentrieren sich überwiegend auf Oppositionsproteste. Können Sie uns etwas über die Geschichte von Selbstorganisierung und direkter Demokratie im Chavismus berichten, vor allem in der Bewegung der kommunalen Räte und den Arbeiterkooperativen?

Dieses bedenkliche Schweigen in Bezug auf die soziale Basis des Chavismus ist im Wesentlichen das, was zu Oberflächlichkeit oder Fehleinschätzung in einer Vielzahl von Analysen über das führt, was in Venezuela geschieht.

Die soziale Basis war das politische Subjekt, das Hugo Chávez möglich machte und ihn später massiv verteidigte. Das populare Geflecht, das die Regierung schließlich aufzubauen vermochte, ist das, was ihren Fortbestand ermöglicht.

Dasselbe gilt hinsichtlich der FANB: Es gibt eine Fülle von oberflächlichen Analysen über die Gründe, die ihre Unterstützung für die Demokratie erklären sollen. Diese Analysen versuchen zum Beispiel nie die Klassenherkunft der Militärangehörigen zu begreifen. Die internationalen Medien zeigen eine starke Mischung aus Ignoranz und Vorurteilen hinsichtlich des Chavismus ‒ aber es gibt auch den bewussten Versuch, die Unterstützung des Volkes für die Regierung zu verdecken und darüber hinaus, die Gedanken und Gefühle der popularen Klassen zu verschleiern, aus dem einfachen Grund, dass die Medien gegenüber der Bolivarischen Demokratie distanziert sind.

Offensichtlich sind viele Menschen innerhalb der popularen Klassen heute in einer sehr schwierigen Lage ‒ einerseits mit einer Regierung konfrontiert, die nicht angemessen auf die lähmende soziale und wirtschaftliche Krise reagiert und auf der anderen Seite mit einer von den USA unterstützten rechten Opposition, die alle Ausdrücke der Volksmacht zerstören will. Wie reagieren die chavistischen Basisbewegungen auf diese komplexe Situation? Welche Position nehmen sie zur Regierung Maduro ein?

Eine Sache, die oft ignoriert wird, ist, dass die soziale Basis des Chavismus immer, vom ersten Tag an, sehr kritisch in ihrer Bewertung der Regierung gewesen ist. Mit Chávez war das auch so. Seine Stärke als Anführer hatte genau etwas mit seiner außerordentlichen Fähigkeit zu tun, den Prozess für Kritiken zu öffnen, für kritische Fragen aus dem Volk. Kritik an der Regierung ist daher nichts Neues. Tatsächlich ist sie mehr ein Zeichen der Lebendigkeit der Bolivarischen Revolution als ein Problem.

Die Chavisten sind in der Lage zu erkennen, dass ihre Regierung etwas sehr schlecht macht oder ihre Anstrengungen ungenügend sind, aber sie realisieren, dass sie nichtsdestotrotz die Regierung des Volkes bleibt. Die Alternative kann eindeutig niemals eine von den USA eingesetzte Regierung sein. In Anbetracht dessen kann man leicht erkennen, warum es kein Dilemma bei der Wahl zwischen Maduro und Guaidó gibt: Die von den USA unterstützte rechte Opposition ist ganz einfach keine Option.

Was das vermeintliche Dilemma angeht: Manche Stimmen in Venezuela rufen nun die Linke auf, eine „weder-noch“-Position einzunehmen und sowohl Guaidó wie auch Maduro abzulehnen. Was halten Sie davon?

Das ist ein Schwindel, der nur aufrechterhalten werden kann, wenn man ignoriert, was die Chavistas denken und fühlen; oder seine Distanz zu popularen Kämpfen markiert, sie missversteht ‒ auch wenn diese Position angeblich im Namen dieser Kämpfe, des Chavismus selbst oder durch den Anspruch, eine Kritik von links zu erheben, eingenommen wird. Die Distanz zu den aktuellen Kämpfen der popularen Klassen ist genau das, was diese Position so betrügerisch macht.

In Venezuela gibt es einen anhaltenden Konflikt zwischen zwei historischen Projekten, auch wenn es starke Spannungen innerhalb der Oppositionskräfte gibt und auch wenn es innerhalb des Chavismus einen heftigen Streit über die strategische Orientierung der Bolivarischen Revolution gibt. Auf der persönlichen Ebene ist meine Grundhaltung, mich immer mit den Menschen zu verbinden, die kämpfen und niemals Haltungen einzunehmen, die für die venezolanische Oligarchie oder den US-Imperialismus funktional sein können ‒ selbst wenn ein Teil des venezolanischen Volkes entscheidet, den Kampf zu beenden.

Was schlagen sie als Ausweg aus der aktuellen Krise vor? Was kann oder sollte die internationale Linke tun, um das venezolanische Volk in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen?

Es gibt viel, was die internationale Linke tun kann. Ihre Aktionen können tatsächlich entscheidend sein. Ich gebe ihnen nur ein Beispiel: Roger Waters.1 Venezuela braucht keine unkritische oder herablassende Unterstützung. Wir wollen das nicht. Es kann Kritik, sogar öffentliche Kritik geben, aber innerhalb der Revolution, auf der Seite der popularen Kämpfe, der Menschen, die nicht mehr unsichtbar gemacht werden können.

Kritik muss den Menschen eine Stimme geben und die Bedingungen schaffen, dass diese Stimmen vervielfacht werden. Sie muss weiterhin informieren. Die internationale Linke kann viel tun, um uns zu helfen, die brutale Informations- und Analyse-Blockade der Medien darüber zu durchbrechen, was wirklich in Venezuela geschieht. Sie muss die Ursachen der aktuellen Krise genau analysieren und die Geschichte erforschen: Wo kommt der Chavismus her, wie entwickelt er sich, wie hat er es geschafft, einem so massiven Angriff des Imperialismus zu widerstehen? Letzendlich sind wir Teil desselben Kampfes.

Das Interview wurde am 14. März geführt

  • 1. Der britische Musiker Roger Waters, damaliges Mitglied von Pink Floyd, hat sich wiederholt öffentlich gegen Putschabsichten und Sanktionen gegen Venezuela ausgesprochen. Zuletzt kritisierte er das vom Magnaten Richard Branson organisierte "Live Aid Venezuela"-Konzert in Cúcuta, das die Begleitmusik zum Versuch Guaidos und der US-Regierung war, die Einfuhr "humanitärer Hilfe" von Kolumbien nach Venezuela zu erzwingen. Mit zahlreichen Videos, Interviews und Mitteilungen in den sozialen Netzwerken wandte er sich an die Öffentlichkeit: "Das hat überhaupt nichts mit den Bedürfnissen der venezolanischen Bevölkerung zu tun, es hat nichts mit Demokratie zu tun, es hat nichts mit Freiheit zu tun, es hat nichts mit Hilfe zu tun". Und: "Wollen wir wirklich, dass Venezuela ein weiterer Irak wird, oder Syrien oder Libyen? Ich nicht."