Antonio Cerezo: "Wenn die Zivilgesellschaft sich nicht organisiert und Drück ausübt, wird sich im Land nichts ändern"

Gespräch mit dem Aktivisten Antonio Cerezo über die Lage der Menschenrechte, die Arbeit des Comité Cerezo und die Wahlen in Mexiko

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Logo des Comité Cerezo. Die Organisation bekam für ihre Arbeit 2012 den Aachener Friedenspreis
Logo des Comité Cerezo. Die Organisation bekam für ihre Arbeit 2012 den Aachener Friedenspreis

Das Comité Cerezo

Das Comité Cerezo wurde 2001 in Mexiko-Stadt gegründet, als die Brüder Antonio (damals 23 Jahre), Alejandro (19) und Héctor (21) Cerezo und der Nahuatl-indigene Pablo Alvarado Flores im Gefängnis saßen. Sie wurden am 13. August 2001, eine Woche nachdem Sprengkörper in Bankfilialen in Mexiko-Stadt explodierten, festgenommen und beschuldigt, die Attentate verübt zu haben. Zudem wurde den Eltern Cerezo vorgeworfen, Mitglieder der Guerrilla -Organisation Revolutionäre Volksarmee (Ejército Popular Revolucionario, EPR) zu sein.

Bis zum Zeitpunkt ihrer Festnahme hatten die Brüder Cerezo studiert. Sie arbeiteten ehrenamtlich in indigenen Gemeinden in der Umgebung von Mexiko-Stadt. Pablo Alvarado, ein Bauer aus dem Bundesstaat México hatte die Brüder Cerezo nie zuvor gesehen. Während ihrer Festnahme durften die vier Männer keinen Kontakt mit ihren Familien aufnehmen. Sie wurden geschlagen und gefoltert, damit sie falsche Aussage machen und sich für schuldig erklärten. 24 Stunden nach ihrer Festnahme wurden sie von dem damaligen Staatsanwalt Macedo de la Concha als Täter präsentiert. In einem sehr umstrittenen Prozess wurden sie wegen Terrorismus zu dreizehn Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Das Comité Cerezo organisierte dann die Solidaritätsaktionen für ihre Freilassung.

Die Verteidigung

Zunächst hatte die Rechtsanwältin, Digna Ochoa y Placido ihre Verteidigung übernommen. Sie war seit 1996 die Anwältin von anderen politischen Gefangenen und Umweltaktivisten im mexikanischen Bundesstaat Guerrero und erhielt immer wieder Morddrohungen. Am 19. Oktober 2001 wurde Digna Ochoa in der Kanzlei, wo sie arbeitete, tot aufgefunden. Laut der Generalstaatsanwaltschaft (PGR) hatte sie Selbstmord begangen. Damit war der Fall abgeschlossen.

Im Jahr 2005 ließ die Familie Ochoa eine eigene Untersuchung durchführen. Die unabhängigen Gutachter widerlegten die Version der PGR und ihre weiteren Ermittlungen ergaben, dass Rogaciano Alba Àlvarez, der damalige Bürgermeister der Gemeinde Petatlán, Guerrero, der Hintermann des Mordes an Digna Ocha gewesen war.

Die Freilassung

Nach dem Mord an Digna Ochoa übernahm die Anwältin Barbara Zamora den Fall. Für die Freilassung der vier Männer kämpften auch die beiden anderen Geschwister Cerezo, Emiliana und Francisco. Schließlich wurde im Jahr 2005 Alejandro entlastet und kam frei, Pablo Alvarado wurde 2006 freigelassen, Héctor und Antonio 2009.

Seitdem arbeitet das Comité Cerezo als Menschenrechtsorganisation und begleitet Familien, deren Angehörige verschwunden sind sowie Opfer von willkürlichen Festnahmen und setzt sich für die Freiheit der politischen Gefangenen ein. Pablo Alvarado ist nach seiner Freilassung in seine Gemeinde zurückgekehrt.

Antonio Cerezo vom Comité Cerezo war im April dieses Jahres im Rahmen der Romerotage in Hamburg, um über die Lage der Menschenrechte in Mexiko zu berichten. Amerika21.de sprach mit ihm über seine Aktivitäten, die Arbeit des Komitees und die Situation in Mexiko angesichts der Präsidentschaftswahlen.


Antonio, zurzeit besuchst Du Spanien, Belgien, Schweden und Deutschland. Wie kam deine Reise nach Europa zustande?

Sie ist das Ergebnis von 16 Jahren Arbeit. Wir als Comité Cerezo nahmen an einem Förderprogramm der Nichtregierungsorganisation Front Line Defenders teil. Dieses bietet Menschenrechtsverteidigern, die aufgrund ihrer Arbeit Risikopersonen sind, die Möglichkeit an, für eine bestimmte Zeit ins Ausland zu gehen. Als ich bereits in Europa war, habe ich mit NGO wie Peace Brigades International, Amnesty International und weiteren Organisationen aus Spanien, Belgien und Schweden Kontakt aufgenommen. Sie organisierten die Veranstaltungen.

Das Comité Cerezo wurde von deinen Geschwistern gegründet, als Du, deine Brüder Alejandro und Héctor und Pablo Alvarado im Gefängnis saßen. Welche Arbeit macht es heute?

Die Organisation hat mehrere Schwerpunkte, einer davon ist die Menschenrechtsverteidigung. Wir sammeln Daten und Information über Menschenrechtsverletzungen, bei denen der mexikanische Staat mitverantwortlich respektive Mittäter ist. Wir dokumentieren Angriffe auf Menschenrechtsaktivisten. Unter Angriffe zählen Einschüchterungen, Drohungen, Morddrohungen, körperliche Angriffe, bis zum Mord. Wir beziehen dabei alle Menschenrechtsverteidiger ein, seien sie Umweltaktivisten, Frauenrechtsverteidigerinnen, indigene Aktivisten oder Anführer von sozialen Bewegungen.

Außerdem dokumentieren wir Fälle von außergerichtlichen Hinrichtungen, an denen die nationalen Sicherheitskräfte, das heißt Polizei, Bundespolizei, Militär, beteiligt sind. Wir dokumentieren auch Fälle von Verschwindenlassen im Land.

Darüber hinaus dokumentieren wir auch willkürliche Festnahmen, bei denen Sicherheitskräfte Zivilisten ohne einen eindeutigen Grund in Haft nehmen. Die Festgenommenen werden dann durch Folter gezwungen, falsche Aussagen zu machen und sich für Straftaten wie Entführung, Mord oder Drogenhandeln für schuldig zu erklären.

Alle diese Menschenrechtsverletzungen werden in einem sehr gewaltsamen Kontext verübt. Dabei gibt es auch noch andere Menschenrechtsverletzungen, die wir wegen der geringen Kapazität des Comité Cerezo nicht dokumentieren können.

Ich würde jetzt gerne über die politische Lage in Mexiko sprechen. Als ihr im Jahr 2001 festgenommen wurdet, regierte zum ersten Mal nach 60 Jahren die Partei Nationale Aktion (Partido Acción Nacional, PAN) mit Vicente Fox als Präsident. Wie siehst Du das Mexiko von 2018 im Vergleich mit dem Mexiko von 2001?

Heute ist die Lage schlechter als damals. Dass Vicente Fox die Präsidentschaftswahlen 2000 gewann, lag daran, dass es in der mexikanischen Gesellschaft eine große Unzufriedenheit gab, die vergleichbar ist mit der heutigen. Viele Bürger sind mit der Politik der PRI-Partei unzufrieden.

Auf internationale Ebene gab es damals einen Widerstand gegen das Einparteiensystem, gegen die Einparteienregierung. Bis zu dem Zeitpunkt regierte die Partei der institutionalisierten Revolution (Partido Revolucionario Institucional, PRI) bereits seit über 60 Jahren, in Mexiko gab es ein Einparteiensystem. Ein Parteiwechsel im Land war eine Art von "Ventil" damit das Land nicht explodierte.

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Im Jahr 2000 waren die wichtigsten Aufgaben der PAN, die Staatsrepression nicht zu verschärfen und die von der PRI-Partei vorangetriebenen Wirtschaftsreformen zu stoppen. Die Lage wurde aber schlechter als Felipe Calderón 2006 durch Wahlbetrug an die Macht kam und versuchte, durch die Militarisierung des Landes seine Macht zu festigen.1.

2012 kam Peña Nieto an die Macht und das Erste, was er machte, war elf grundlegende Reformen durchzusetzen. Diese Reformen legalisierten die Ausbeutung und den Raub von Land und von Naturressourcen. Die Rechte der Arbeiter werden durch die Reformen des Arbeitsrechts zunichte gemacht. Diese Reformen kann Peña Nieto durchsetzen, weil die Regierung von Calderón bereits eine Politik des Terrors durch die Militarisierung des Landes umgesetzt hat.

Was wir derzeit in Mexiko erleben ist eine Verschärfung der neoliberalen Politik. Dies bedeutet nichts anderes als einen Ausverkauf der Naturressourcen des Landes.

Das Comité Cerezo beteiligt sich an der Kampagne gegen das Verschwindelassen. Warum und wie arbeitet ihr mit?

Wir waren von Anfang an dabei. Das Comité Cerezo war eine der Organisationen, die die Kampagne begonnen hatten. Zusammen mit der Gruppe "Bis wir sie finden" (Hasta encontralos), dem lateinamerikanischen Bündnis von Angehörigen von Verschwundenen und Festgenommen (Federación Latinoamericana de Desaparecidos y Detenidos, der Einheitsfront für den Kampf der Indigenen-Triqui (Frente de Unificación de Lucha Triqu) begannen wir 2007 mit der Kampagne.

Als der Vater eines der Mitglieder des Comité verschwand, begannen wir in der Öffentlichkeit über das Verschwindenlassen aus politischen Gründen zu sprechen. Wir stellten dann fest, dass es weitere Fälle von verschwundenen Aktivisten und Menschenrechtsverteidigern gab.

Wir kontaktierten Personen aus den Bundesstaaten Guerrero und Puebla. Wir wollten das systematische Verschwindenlassen im Land sichtbar machen und beweisen, dass es eine Form von politischer Unterdrückung ist. 2010 waren wir nicht mehr als 15 Personen, die vor dem Innenministerium in Mexiko-Stadt protestierten. Aufgrund der zahlreichen Fälle von Verschwindenlassen läuft die Kampagne weiter.

Vor kurzen wurde das Gesetz gegen das Verschwindelassen erlassen. Trotz vielem Gegenwind konnten die Angehörigen der Opfer bei dem Gesetzentwurf mitmachen. Was ist deine Meinung über das Gesetz?

Diesen Gesetzentwurf gibt es in Mexiko seit 1999. Damals haben Menschenrechtsorganisationen zusammen mit anderen gesellschaftlichen Gruppen vorgeschlagen, ein Gesetz gegen das Verschwindenlassen zu verfassen. Denn ab 1994 mit dem zapatistischen Aufstand und mit dem Auftauchen anderer bewaffneter Guerrilla-Organisationen im Land wurde die Methode des Verschwindenlassens von Seiten der Bundespolizei und des Militärs öfter angewendet. Sie wurde gegen die Bevölkerung eingesetzt, die in Verdacht stand, die Guerrilla-Organisationen zu unterstützen, aber auch gegen Mitglieder der Guerrillas selbst.

Der Vorschlag für das Gesetz kam nie von Seiten des Staates, es war von Anfang an eine Initiative der Menschenrechtsorganisationen und der Zivilgesellschaft.

Nach dem Fall der bis heute verschwundenen 43 Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa 2014 und den zahlreichen Protesten kündigte die Regierung im Jahr 2015 einen Gesetzentwurf gegen das Verschwindenlassen an und präsentierte dies als eigene Initiative.

Aber wie gesagt, seit 1999 hatten die Organisationen vorgeschlagen, das Gesetz selbst zu verfassen und 2015 beginnen wir dann tatsächlich damit. Fast zwei Jahre später und nachdem Menschenrechtsexperten der Vereinten Nationen den Entwurf korrigierten, legten wir ihn der Regierung vor. Das ist eine wertvolle Erfahrung. Auf der einen Seite wurde bewiesen, dass die Zivilgesellschaft in der Lage ist, solche Initiativen zu konkretisieren.

Auf der anderen Seite glaubten wir mit dem in Kraft tretenden Gesetz, vom Staat verlangen zu können, sich an die internationalen Standards im Bereich der Menschenrechte zu halten. Das Wichtigste dabei war, dass der Staat das Verbrechen durch dieses Gesetz das Verschwindenlassen und dessen juristische Definition anerkennen muss.

Manche Parlamentarier haben aus strategischen Gründen den Gesetzentwurf unterstützt. Im Parlament wurde er dann bearbeitet und 2017 als Gesetz präsentiert. Dieses hat aber mit dem ursprünglichen Entwurf wenig zu tun. Die Rechtsfolgen für das Verbrechen Verschwindenlassen werden nicht genau beschrieben. Weitere kritische Punkte sind die unklaren Definitionen von verschwundenen und von vermissten Personen.

Durch das Gesetz allein wird dieses Phänomen im Land nicht beendet, so wie die Regierung uns glauben lassen will. Das ist das Widersprüchliche dabei: Es gibt ein Gesetz, das in der Theorie Opfer von Verschwindenlassen schützt aber in der Realität wird es nicht umgesetzt.

Mexiko befindet sich in einer verheerenden Lage: Korruption, Straflosigkeit, Menschenrechtsverletzungen, immer mächtigere Drogenkartelle. Aus der Zivilgesellschaft kommt der Vorschlag, eine neue unabhängige Staatsanwaltschaft mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft zu schaffen. Gleichzeitig stehen die Präsidentschaftswahlen vor der Tür. Es gab zum ersten mal in der Geschichte des Landes eine unabhängige indigene Kandidatin, Marichuy. Einige sagen, Andrés Manuel López Obrador2wird die Wahlen gewinnen. Wie siehst du die Lage, was ist deine Meinung dazu?

Wir setzen auf die Selbstorganisation. Das Volk soll lernen, dass es keine professionellen Politiker braucht, um die Naturressourcen zu verwalten. Solange die Gesellschaft das Leben in ihren Gemeinden nicht selbst organisiert wird es immer jemanden geben, der diese Aufgabe übernimmt, und zwar nicht zugunsten der Gemeinde, sondern zugunsten einer wirtschaftlichen mächtigen kleinen Gruppe.

Falls López Obrador gewinnt, wird er keinen Zauberstab haben, das heißt er wird die Korruption oder die neoliberale Politik nicht von heute auf morgen beenden können. Die einzige Garantie, damit er die Versprechen seiner Partei Morena (Bewegung der Nationalen Erneuerung) hält, ist die Selbstorganisation der Gesellschaft. Denn wenn die Zivilgesellschaft sich nicht organisiert und Drück ausübt, wird sich im Land nichts ändern.

In dieser Hinsicht war die Erfahrung mit Marichuy sehr wichtig. Sie ist eine von uns, außerdem war sie die Einzige die eine Reihe von ethischen Prinzipien vorgeschlagen hatte, die in der Politik umgesetzt werden sollten. Die Tatsache, dass sie die benötigten Unterschriften nicht bekam, spielt eigentlich keine Rolle3. Wir müssen weitermachen, das heißt uns weiter organisieren.

  • 1. 2006 begann der damalige Präsident, Felipe Calderón, den Krieg gegen die organisierte Kriminalität, auch als "Drogenkrieg" bezeichnet. Die Militarisierung des Landes verursachte zahlreiche Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Festnahmen, außergerichtliche Hinrichtungen und viele Fälle von Verschwindenlassen. Laut aktuellen Angaben des Innenministeriums werden 37.437 Verschwundenen im Land gemeldet. Aufgrund dessen begannen 2007 Menschenrechtsorganisationen eine Kampagne gegen das Verschwindenlassen
  • 2. Andrés Manuel López Obrador wurde am 1. Juli mit gut 53 Prozent der Stimmen zum Präsidenten Mexikos gewählt. Sein Parteienbündnis "Gemeinsam schreiben wir Geschichte" (Juntos Haremos Historia) konnte zudem die Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments erringen
  • 3. Die von den Zapatisten unterstützte Kandidatin des Nationalen Indigenen Kongresses, María de Jesús Patricio Martínez, genannt Marichuy, verfehlte die Anforderungen der mexikanischen Wahlbehörde INE von 866.593 in mindestens 17 Staaten gesammelten Unterschriften. Die Menschenrechtlerin ist die erste indigene Frau in der Geschichte Mexikos, die für die Präsidentschaft zu kandidieren versuchte