"Neoliberale Globalisierung und Eurozentrismus brauchen eine internationalistische Antwort"

Amerika21 sprach mit den Organisatoren der Konferenz "Internationalismus im 21. Jahrhundert", die am 23. und 24. Oktober in Berlin stattfindet

Welche Gruppen veranstalten die Konferenz?

Internacionalismo21 ist ein Bündnis mehrerer Solidaritätsgruppen, die das Streben nach einer gerechten Gesellschaft jenseits des Kapitalismus verbindet, in der Grundversorgung und -rechte für alle Menschen garantiert werden und Diskriminierung jeglicher Art bekämpft wird. Der geografische Schwerpunkt unserer Arbeit liegt in Europa und Lateinamerika. Wir organisieren seit vielen Jahren und sogar Jahrzehnten Austausch und gegenseitige Unterstützung zwischen Menschen des globalen Nordens und Südens. In internationalistischer Arbeit sehen wir die notwendige Vorgehensweise, um den globalen Mechanismen des Kapitalismus etwas entgegenzusetzen. Zu den organisierenden Gruppen gehören die Alexander-von-Humboldt-Gesellschaft, Cuba Sí, Interbrigadas, Kämpfer und Freunde der spanischen Republik 1936-39, der Internationalistische Abend, Red Patria Grande, Marcha Patriótica de Colombia und Netzwerk Cuba.

Welche inhaltlichen Schwerpunkte hat die Konferenz, wie ist sie strukturiert und welche Referenten kommen?

Die Konferenz ist zweigeteilt. Im Vorlauf des Konferenzwochenendes gibt es eine Veranstaltungswoche vom 17. bis 22. Oktober, die sich mit verschiedenen aktuellen und historischen Themen beschäftigt (der kolumbianische Friedensprozess, die Situation in Venezuela und Bolivien, die Internationalen Brigaden nach Spanien, die Solidaritätsbewegung mit El Salvador und Nicaragua, Kubas Solidarität in der Welt).

Danach, am Freitag, dem 23. Oktober, reflektiert David Mayer1 zunächst über die Geschichte des Internationalismus und welche Lehren daraus für das heutige Verständnis zu ziehen sind. Vertreter verschiedener Bewegungen, wie zum Beispiel Javier Calderón von Marcha Patriótica aus Kolumbien und Alaitz Amundarain von der baskischen Askapena, diskutieren danach über die Herausforderungen und Chancen eines heutigen Internationalismus. Am Samstag geht es dann um Möglichkeiten der Vernetzung und Schaffung einer internationalistischen Plattform, bevor Juan Manuel Sánchez Gordillo2 und zwei Aktivisten unseres Bündnisses den Ausklang bilden. Abschließend gibt es ein Solidaritätskonzert.

Der Schwerpunkt der Konferenz besteht damit in der Reflexion aktueller und vergangener Erfahrungen des praktizierten Internationalismus zwischen Europa und Lateinamerika, wobei sowohl grundlegende Überlegungen angestellt, als auch konkrete praktische Schlussfolgerungen und Handlungsoptionen abgeleitet werden sollen. Im Detail kann man sich das Programm auf unserer Website internacionalismo21.org anschauen, wo sich Beschreibungen der Veranstaltungen sowie die Referentinnen und Referenten finden lassen.

Im Aufruf zur Konferenz heißt es, Lateinamerika sei "heute ein hoffnungsstiftender Schauplatz der Anstrengungen um ein menschenwürdigeres Leben". Welche Entwicklungen dort können Sie nennen?

Viele Länder des lateinamerikanischen Kontinents haben es in den vergangenen zwei Jahrzehnten geschafft, unter der breiten Unterstützung ihrer Bevölkerung klare Gegenentwürfe zum kapitalistischen System zu formulieren, Diskriminierungen zu bekämpfen und sich von der Bevormundung und Ausbeutung durch die europäischen Staaten und die USA zu befreien, souverän zu werden. Beispiele dafür sind die Bolivarische Revolution in Venezuela, der "Proceso de Cambio" (Veränderungsprozess) in Bolivien und die "Bürgerrevolution" in Ecuador. In diesen Fällen, wie lange zuvor bereits Kuba, sind progressive Projekte bis an die Regierung gelangt, haben umfassende Gesundheits- und Armutsbekämpfungsprogramme umgesetzt und in ihren Verfassungen die Gleichberechtigung aller Menschen und den respektvollen Umgang mit der Natur festgeschrieben. Abgesehen davon gibt es weiterhin viele starke Strömungen und Projekte, die ebenso Hoffnung stiften, wie zum Beispiel die Verbreitung basisdemokratischer Räteorganisationen, die Bewegung der besetzten Fabriken, die Landlosenbewegung und die Weltsozialforen. All dies zeigt, dass die Menschen die Politik selbst in die Hand nehmen und gewissermaßen Alternativen zu Kapitalismus und Pseudodemokratie konkret leben, was für Menschen aus anderen Ländern sehr inspirierend sein kann.

Immer wieder in der jüngeren Geschichte haben progressive und linke Strömungen in Europa Kämpfe in Lateinamerika als Heilsversprechen betrachtet, ohne dass sie diese in der eigenen Praxis der Veränderung fruchtbar machen konnten. Teilen Sie diese Diagnose und was könnte heute anders laufen?

Wir teilen diese Diagnose in hohem Maße, tatsächlich ist sie eines der großen Motive für diese Konferenz. Das einseitige Hoffen und Projizieren eigener Ziele und Wünsche auf Kämpfe auf einem anderen Kontinent kann nicht Internationalismus bedeuten. Auf der Konferenz wollen wir eben diese Kritik an vergangenen Solidaritätsbewegungen ansprechen und diskutieren, wie Internationalismus im 21. Jahrhundert aufgestellt sein muss. Und dazu gehört ohne Frage die beiderseitige Solidarität auf Augenhöhe, was ein gleichberechtigtes Voneinanderlernen und Unterstützen beinhalten muss. Ebenso gehören dazu aber auch Ausdauer, Verständnis, Selbstreflexion, die Anerkennung von Vielfalt und das Aushalten von Widersprüchen in politischen Prozessen und Bewegungen, da nur allzu oft Unterstützungsversuche an Missverständnissen, Voreiligkeit und falschen Erwartungen gescheitert sind.

Derzeit nehmen wirtschaftliche und politische Krisen in Venezuela und Brasilien zu, in Ecuador und Bolivien mehren sich Proteste und Streiks gegen die Linksregierungen. Werden diese Entwicklungen Thema bei der Konferenz sein?

Selbstverständlich spielt die aktuelle Situation der politischen Prozesse auf der Konferenz eine bedeutende Rolle. Mit der Situation in Venezuela und Bolivien – internen Schwierigkeiten und externer Einflussnahme – beschäftigen wir uns gemeinsam mit eingereisten Referentinnen und Referenten explizit in einer der Veranstaltungen vor Beginn des Konferenzwochenendes, nämlich am 19. Oktober. Dort lautet die Frage, wie wir progressive Prozesse in Venezuela und Bolivien bei gleichzeitiger Kritik an den Verfehlungen und Widersprüchen unterstützen können. Aber auch an den Konferenztagen selbst werden diese Fragen thematisiert werden, da sie für die Analyse der aktuellen Lage internationaler Solidaritätsarbeit unerlässlich sind. Das Stichwort in diesem Zusammenhang ist die "kritische Solidarität", ein Konzept, das wir auf der Konferenz mit möglichst vielen Erfahrungen und Ideen konkretisieren wollen.

Vergessen sollten wir allerdings auch nicht die anhaltenden Krisen wie in Kolumbien, wo nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs derzeit wieder Friedensverhandlungen unternommen werden. Auch dort wird dringend internationalistische Unterstützung benötigt, denn es wäre fatal zu denken, dass dies ein rein kolumbianischer Prozess ist. Was das bedeutet und in welcher Form diese Unterstützung möglich wäre und welche Perspektiven es gibt, besprechen wir gemeinsam mit Kolumbianerinnen und Kolumbianern am 17. Oktober in einer dafür vorgesehenen Einzelveranstaltung.

In Lateinamerika ist das neoliberale Experiment bereits 1973 mit dem Putsch in Chile gestartet worden. Wie sehen Sie den Zusammenhang mit Europa?

Das neoliberale Experiment hat außerhalb der ehemaligen Sowjetunion überall um sich gegriffen, in Europa prominent zum Beispiel mit Margaret Thatcher. Der Putsch in Chile, der diese Ära von Privatisierung, Kommodifizierung und Flexibilisierung eingeleitet hat, hat natürlich in Europa viele Menschen schockiert und aufgerüttelt, und die Solidarität mit den Widerstandskämpfen gestärkt. Die heutige Herausforderung besteht darin, dass mit den Erfahrungen und dem Zerfall des Ostblocks für viele Menschen keine andere Wirtschafts- und Politikform mehr vorstellbar ist. Was wir denen zeigen müssen, ist, dass Alternativen funktionieren können und dass es sich lohnt, sich dafür einzubringen.

Gerade in Argentinien, Bolivien und Venezuela haben neoliberale Schockbehandlungen zu großem Widerstand, und in der Folge zur Stärkung linker Bewegungen und teilweise progressiver Regierungen geführt. Die Parallelen zu Griechenland und Spanien werden zu Recht gezogen und so kam es auch, dass Vertreter selbstverwalteter argentinischer Betriebe zur besetzten Fabrik VioMe in Griechenland gefahren sind, um einen Austausch herzustellen. Der Zusammenhang ist also völlig klar: Wenn neoliberale Politik global wütet, muss auch die Antwort internationalistisch sein.

Mit der Proklamation von Hugo Chávez, Néstor Kirchner und Luiz Inácio Lula da Silva 3 gegen die von den USA angestrebte Gesamtamerikanische Freihandelszone Alca im Jahr 2005 wurde die Ablehnung des Neoliberalismus und der Kampf um Alternativen in Lateinamerika die politisch führende Strömung. In Europa bekam der Ruf nach einer Alternative zum Neoliberalismus erst dieses Jahr mit der neuen Regierung in Griechenland eine annähernd vergleichbare Dimension. Was bedeutet diese Ungleichzeitigkeit für Ihren internationalistischen Ansatz?

Zunächst freuen wir uns, dass endlich auch in Europa viele Menschen bewusster wahrnehmen, in was für einem politisch-ökonomischen System wir uns befinden und damit die Möglichkeit für tiefgreifendere Debatten eröffnet wurde. Dass überhaupt in einem europäischen Land eine Linksregierung an die Macht kommt, stellt eine Hoffnung für Europa dar, auch wenn sie auf dem Leid von Millionen von Menschen gegründet ist und mit aller Vehemenz von den herrschenden Eliten und Medien im In- und Ausland bekämpft wird.

Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit spielen im Internationalismus allerdings nicht die alles entscheidende Rolle. Auf der einen Seite sind sie in vielen Fällen wichtig, wie beispielsweise im Falle von Kuba und Venezuela: Mit der gegenseitigen Unterstützung konnten sich beide linke Gesellschaftssysteme stabilisieren und weiter entwickeln. Im Falle Griechenlands ergeben sich nun auf Regierungsebene Handlungsoptionen, die zuvor nicht gegeben waren, was internationale Kooperationen angeht. Falls in Spanien, Irland und Portugal weitere Linksparteien in Regierungsposition kämen, würde dies solche Optionen noch einmal verstärken.

Internationalismus als Strategie ist jedoch immer angebracht, denn in jedem Land gibt es – unabhängig von Regierungen – Bewegungen, Parteien, Gruppen, die sich gegen den Neoliberalismus engagieren und vernetzen. Regierungen sollten ihrerseits dazu beitragen, auf Staatsebene Bündnisse zu schmieden und Kooperationen zu tätigen – und genau dies geschieht ja in Lateinamerika durch Alba oder Celac. Andererseits ist es von genauso großer Wichtigkeit, dass sie die Bewegungen der Basis unterstützen und dass Basisbewegungen weiter stark, unabhängig und kritisch arbeiten, und sich ihrerseits über alle Arten von Grenzen hinweg vernetzen.

Wie beziehen Sie die Bewegung in Deutschland und Europa gegen das Freihandelsabkommen TTIP in die Themen der Konferenz ein?

Bei der Konferenz wird es zwei Podien geben, die sich mit den Herausforderungen und Chancen des Internationalismus heute sowie den Möglichkeiten der Schaffung einer internationalen Plattform beschäftigen. Der Widerstand gegen TTIP wird dabei mit Sicherheit eine Rolle spielen, denn es handelt sich um ein neoliberales Großvorhaben mit immensen Negativeffekten für die Bevölkerungen.

Die europäische Rezeption der zeitgenössischen progressiven Prozesse in Lateinamerika ist stets mit dem Vorurteil eingefärbt, dass Europa der Maßstab für demokratische Verhältnisse und bürgerliche Freiheit sei. Wie will die Konferenz sich damit befassen?

Eines der Ziele der Konferenz ist es, solche eurozentristischen Haltungen zu identifizieren und zu kritisieren. Gerade deshalb sind viele Referentinnen und Referenten aus Lateinamerika beteiligt. Was als Demokratie und Freiheit bezeichnet wird, ist meist ideologisch eingefärbt. Für Liberalisten gehören Freiheit und Demokratie so fest zum Kapitalismus. Dementsprechend werden diese Werte auch eingerahmt und verformt. Dass Demokratie lebhaft und partizipatorisch gestaltet werden kann, zeigen hingegen basisdemokratische Ansätze wie in Venezuela und die vielen basisdemokratischen Bewegungen ganz Lateinamerikas. Solche Modelle sollten auch uns Europäer interessieren. Andrés Ruggeri aus der Facultad Abierta von Buenos Aires, und Dario Azzellini, die sich schwerpunktmäßig mit besetzten Fabriken und basisdemokratischen Organisationsformen beschäftigen, werden bei der Konferenz dazu genauso Impulse liefern, wie der zuvor erwähnte Bürgermeister der selbstverwalteten spanischen Kleinstadt Marinaleda, Juan Manuel Sánchez Gordillo.

Was kann eine Debatte um Internationalismus Ihrer Meinung nach zur Stärkung der linken und fortschrittlichen Kräfte hier beitragen?

Progressive Politik ist sich fast überall in der Welt ihrer globalen Dimension bewusst. Neoliberale Globalisierung und Eurozentrismus erfordern eine internationalistische Antwort. Unser Vorhaben ist in diesem Sinne als ein Impuls unter vielen gedacht, der die Rolle des praktizierten Internationalismus im Sinne politischer Arbeit und konkreter solidarischer Projekte über Ländergrenzen hinweg hervorheben soll. Dadurch kann der Weg für mehr Unterstützung und Zusammenhalt zwischen linksprogressiven Bewegungen, Parteien und Regierungen freigemacht werden, während gleichzeitig internationalistisch-progressives Denken in Verbindung mit pragmatischem Handeln gefördert wird. Dazu gehört zum Beispiel, die aktuelle sogenannte Flüchtlingskrise zu einem wesentlichen Teil als Folge neoliberaler Politik (Ölkriege im Nahen Osten, Ausbeutung in Afrika, Zementierung globaler Ungleichheit) zu verstehen und diese Ursache an Stelle anderer vorgeschobener Ursachen zu bekämpfen.

Bei der Konferenz soll eine "internationalistische Plattform" erarbeitet werden. Worum geht es dabei?

Weniger als um die Erarbeitung von heute auf morgen geht es dabei um die Diskussion, welche Bedingungen für internationalistische Plattformen existieren und welche Ansätze oder Modelle es schon gibt. Aus verschiedenen Perspektiven werden wir einen Blick auf bestehende und mögliche Plattformen werfen. Mit Andrés Ruggeri nimmt ein Vertreter der Bewegung besetzter Fabriken teil, Joaquín Piñero vertritt die Plattform der Landlosenbewegung Movimento Sem Terra, Dario Azzelini von workerscontrol.net spricht aus der Perspektive der Politikwissenschaft und Alaitz Amundarain zeigt die Perspektive der Brigadeorganisationen der baskischen Askapena. Einerseits soll vorgestellt werden, welche Vernetzung in den jeweiligen Gebieten schon stattgefunden hat, welche Erfolge sie produziert hat und welche Probleme sie bewältigen muss. Und andererseits soll der Blick darauf gerichtet werden, ob auch zwischen den Bereichen Ansätze zur Bildung von Plattformen existieren, welches Potenzial sie hätten und was dazu notwendig wäre.

Ganz praktisch hat im Rahmen der Organisation der Konferenz auch auf lokaler Ebene die Bildung einer internationalistischen Plattform begonnen. Im Bündnis i21 haben bereits viele Gruppen zueinander gefunden und stehen seit gut zwei Jahren im regelmäßigen Austausch. Diese Entwicklung wird nach der Konferenz natürlich nicht abebben, sondern wir werden uns noch besser koordinieren, weiter zusammenwachsen und gemeinsame Projekte auf die Beine stellen. Organisationen und Aktivistinnen und Aktivisten, die unsere Ziele teilen und auch an Vernetzung interessiert sind, können sich jederzeit bei uns melden.

  • 1. Der Historiker David Mayer, studierte Geschichte und Internationale Entwicklung an der Universität Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte bilden die lateinamerikanische Geschichte im globalen Kontext, die Geschichte sozialer Bewegungen, die Geschichte des Marxismus und der Links-Intellektuellen, Historiographiegeschichte sowie Geschichtspolitik
  • 2. Juan Manuel Sánchez Gordillo ist Geschichtslehrer, Gewerkschaftsführer und Politiker aus Andalusien. Seit 1979 ist er Bürgermeister von Marinaleda. Zwischen 1994 und 2000 und von 2008 bis 2014 war Gordillo Abgeordneter des andalusischen Parlaments für die "Vereinigte Linke" (Izquierda Unida)
  • 3. die damaligen Präsidenten von Venezuela, Argentinien und Brasilien